Ein sehr gutes Interview, der Mann spricht mir aus der Seele:
Quelle: Stuttgarter Zeitung (20.11.2001)
Rafik Schami, aramäischer Christ, wurde 1946 in Damaskus
geboren. 1971 kam er nach Deutschland,
studierte Chemie und
legte 1979 seine Promotion ab. Als brillanter
Geschichtenerzähler gehört er zu den erfolgreichsten
Schriftstellern deutscher
Sprache. Sein Werk wurde in 21 Sprachen übersetzt und
vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem
Adalbert-von-Chamisso-Preis,
Hermann-Hesse-Preis und Hans-Erich-Nossack-Preis
Herr Schami, seit den Attentaten in Amerika hat das
Interesse an der arabischen Welt stark
zugenommen. Welche
Beobachtungen haben Sie dabei gemacht?
Nach wie vor werden alte Klischees bedient. Und
daran ist die Elite in Deutschland nicht
unschuldig. Denn sie
beeinflusst den Bürger in seiner Wahrnehmung der
Dinge.
Was verstehen Sie unter "Elite"?
Schriftsteller, Journalisten, Politiker, Manager,
Künstler, Medienmacher. Die äußern sich verkürzt
zum Thema und
werden statt zu Aufklärern zu Vertuschern und
Hetzern.
Beispiele?
Ein Filmemacher, der, statt zu recherchieren, den
Richter spielt und bereits bei den Dreharbeiten
weiß, wer die
Anthrax-Sporen verbreitet: die Araber. Stunden
später heißt es in den USA, dass der Täter wohl ein
Amerikaner ist.
Das ist nur ein Beispiel von vielen.
Wie sollte sich die Elite denn verhalten?
Sie könnte sich ruhig einmal eingestehen, dass sie
nichts zu einem Thema weiß. Stattdessen geben
sich alle als
Experten aus, öffnen die Schublade ihrer Vorurteile
und zitieren daraus. Nehmen Sie Hans Magnus
Enzensberger, der
weiß in Sachen Islam so viel wie ein Abiturient.
Anstatt wirklich nachzudenken, wie wir die jetzige
Krise bewältigen
können, veröffentlicht er in der FAZ wenige Tage
nach den Attentaten einen Essay mit seinen alten
eurozentristischen
Vorurteilen. Zwar entschuldigt er sich darin, dass
Schnellgeschriebenes oft nicht lange überlebe.
Warum aber äußert er
sich überhaupt zu einem Thema, in dem er sich nicht
auskennt? Das ist reine Stimmungsmache.
Sie fordern also, Kultur und Religion nicht in
knappe Sätze zu packen.
Genau. Was sollen denn so griffige Sätze wie "Der
Islam ist tolerant" oder "Der Islam ist frustriert
und stehen
geblieben, und daher erzeugt er solche Terroristen"?
Wer so etwas sagt, zeigt lediglich, dass er
keine Ahnung hat. Wer
von diesen "Experten" hat denn schon etwas von Hadi
Al Alawai, Husein Muruwa, Taijeb Tisini oder
Mehdi Amel gehört?
Deren umfangreiches Lebenswerk bestand darin,
visionäre Entwicklungsmöglichkeiten für einen
modernen Islam zu
finden. Und warum werden solche Werke nicht
übersetzt? Stattdessen meinen die "Experten" hier
zu Lande, im Islam
etwas Besonderes gefunden zu haben: eine besondere
Neigung zur Gewalt. Das ist pure Ideologie.
Den Terrorismus in
Spanien, Korsika, Deutschland erklären wir doch auch
nicht mit der Religion.
Warum aber wird Ihrer Meinung nach beim Islam eine
Ausnahme gemacht?
Wissen Sie, die Meinungsmacher haben viel zu lange
auf einer Matratze der Klischees geschlafen.
Die Vorurteile gegen
den Islam sind ein Resultat des jahrtausendelangen
Konflikts zwischen Europa und der arabischen
Zivilisation. Allein die
Kreuzzüge dauerten rund zweihundert Jahre. Auf
beiden Seiten bedurften die Kriegsherren vieler
Vorurteile, um ihre
Truppen bei der Stange zu halten. Schließlich kämpft
es sich besser gegen ein Volk, von dem man
nichts hält. Da ich
beide Quellen lesen kann, weiß ich: Die
Fundamentalisten aller Länder sind Zwillinge.
Wieso sind alte Klischees noch immer so präsent?
Das hat viel mit Denkfaulheit zu tun. Wer stellt
denn heute bestehende Denkstrukturen noch in
Frage? Das Bild der
Muslime in den Köpfen der "Experten" gleicht einer
Karikatur. Wie lässt sich sonst erklären, dass
die Nato meint, mit
neunzig türkischen Soldaten den Muslimen in aller
Welt zeigen zu können, dass auch Muslime in
Afghanistan
mitmachen? Für so dumm halten die Militärs die
Muslime. Noch lächerlicher: Joschka Fischer will
nach dem Krieg zu
einem Dialog zwischen Muslimen und Christen
einladen. Nach einem derartigen Krieg wird aber
niemand mehr Interesse
an einem Dialog haben, der vor dem Krieg hätte
geführt werden müssen.
Was sollte man für ein besseres Verständnis der Kulturen tun?
Vieles. An erster Stelle: zu Respekt erziehen. Ich
plädiere seit Jahren vergebens für ein
spannendes Schulfach
"Weltkulturen". Die Schüler könnten erst einfache,
dann immer komplexere Zusammenhänge der
Kulturen von China bis
Südafrika kennen lernen. Sie würden es dann als
Schande empfinden, wenn ein Literaturkritiker
sagt: "Mich
interessieren diese Literaturen nicht!" Wir sind
noch immer so rückständig, dass ein Marcel
Reich-Ranicki so etwas
sagen kann und auch noch stolz darauf ist.
Die Nachfrage nach Büchern über den Islam hat aber
doch stark zugenommen.
Ja, aber das ist mit Sicherheit nur vorübergehend
und betrifft eher Sachbücher. Wissen Sie, ich
bedaure die
Amerikaner, weil sie ihre Feinde nicht kennen. Ihr
Feind aber kennt sie sehr gut.
Wie meinen Sie das?
Während bin Laden sich bestens mit den Mechanismen
einer offenen Gesellschaft auskennt, wissen
wir doch überhaupt
nichts über Al-Qaida und andere Terrorgruppen. Die
sind hermetisch geschlossen. Wer nicht Muslim
ist, Arabisch
spricht, aus der Region stammt und bereit zum
Sterben ist, kommt an den harten Kern nicht heran.
Außerdem müssen
wir uns über eines im Klaren sein: Wer sich erst
einmal mit einem Fuß im Paradies wähnt, der kann
sich über alle
Gesetze, Kontrollen und Weltsatelitten hinwegsetzen.
Aus dem Jenseits können ihn weder Raketen
noch Computer
zurückholen. Das macht mir Angst und verbietet mir
gleichzeitig, im Krieg die Lösung zu suchen.
Aber wieso kann der Terrorismus nicht mit Krieg
bekämpft werden?
Die Terroristen setzen Methoden des 21. Jahrhunderts
ein. In hermetischer Geschlossenheit finden
sie Sicherheit, in
religiöser Überzeugung Anonymität. Die Supermächte
dagegen wenden Methoden des 19.
Jahrhunderts an. Sie haben
verloren, bevor sie angefangen haben. Inzwischen
wollen sieben Weltmächte gemeinsam bin
Laden angeblich besiegen.
Mein Gott, was ist, wenn fünfzig Vertreter bin
Ladens überall auftreten?
Was wäre Ihre Alternative?
Ich bin kein Politiker, aber Krieg ist definitiv die
falsche Antwort. Die Ursachen des Terrorismus
müssen bekämpft
werden. Das heißt, dass wir mit der aus der
Kolonialzeit stammenden Politik "Billiges Öl um jeden
Preis" oder "Blindheit
gegenüber Israel" aufhören müssen. Wir sollten auch
einsehen, dass unser Wohlstand mit der
Armut anderer erkauft
ist, und endlich etwas gegen das Elend in der Welt
tun.
Stattdessen blasen wir zum Krieg und werfen
Lebensmittel und Bomben auf verhungernde Kinder.
In Deutschland werden doch aber auch kritische
Stimmen laut.
Der Protest in Deutschland ist gelähmt, weil SPD und
Grüne mit all ihren Organisationen das
Rückgrat des Protestes
waren. Die Deutschen sind wunderbare Tüftler, aber
abgesehen von kurzen Zeiten – bei Bismarck,
Adenauer oder
Brandt - waren sie nie Weltpolitiker. Der Global
Player Schröder erweist sich beim näheren
Hinsehen als Global Playmo,
als winziges Püppchen, das immer lächelt, egal was
der Player ihm für Rollen gibt.
Welche Rolle spielen dabei die Medien?
Eine schlechte. Noch nie haben die Herrscher in
einer Demokratie die Medien so an den Zügeln
gehabt wie seit dem 11.
September. Die Journalisten halten brav still und
geben nur das weiter, was die USA erlauben.
Medien und Politik liefern
sich derzeit gegenseitig die Stichworte. Sie
schaukeln sich in die Hilflosigkeit hinein, als gäbe
es
keine Alternative zum
Krieg. Ich glaube, dass die arabische Bevölkerung
zurzeit besser informiert ist. Der Sender
Al-Dschasira berichtet
vorbehaltlos und strahlt auch Stellungnahmen von bin
Laden aus. Die werden dann aber sofort von
namhaften
Muslimen, Forschern oder Ayatollahs kommentiert, die
bin Laden einen Mörder nennen und ihm
vor der breiten
Öffentlichkeit absprechen, im Namen des Islam zu
handeln. Das erfordert Mut.
Es gibt doch aber auch viele Hintergrundsendungen.
Ja, nur müssen wir uns hier Kommentare über die
Araber, den Islam und die arabische Mentalität
von Henry Kissinger,
Ariel Sharon oder Benjamin Netanjahu anhören. Das
ist, als würde man Fanatiker der Hamas
bitten, über die israelische
Kultur zu berichten. Das ist unfair, auch den
Deutschen gegenüber, die nicht richtig informiert
werden.
Wie soll man sich denn Ihrer Meinung nach
informieren?
Analysen lesen, fremde und übertriebene Meinungen
hören und dann Politikern und Medien
Fragen stellen. Einen guten
Artikel sollte man kopieren und weitergeben. Das ist
mühsam. Aber nur so lässt sich ein
Informationsnetz gegen den
Mainstream aufbauen.
Sie sagen also, dass die öffentliche Meinung bei uns
stromlinienförmig ist . . .
Ja, genau. Ich vermisse die Bereitschaft, gedanklich
neue Wege zu gehen und über eine
festgefahrene Meinung
nachzudenken.
Haben Sie dafür eine Erklärung?
Neue Gedanken zu formulieren heißt: Unsicherheit in
Kauf nehmen und Konflikte aushalten. Wer
nämlich den
Mainstream verlässt, muss damit rechnen, einsam und
verlassen dazustehen. Entweder Sie werden
als Utopist abgetan
oder einfach nicht wahrgenommen.
Weiterdenken ist aber auch eine Frage des Gewissens.
Wir Intellektuelle müssen das Elend der
Welt als Erste
wahrnehmen. Und wenn wir uns der Ausbeutung der
Dritten Welt bewusst sind, dann müssen wir
nach Alternativen im
Zusammenleben der Völker suchen. Das bedeutet auch
einen materiellen Verzicht. Ich weiß, das ist
ein schmerzhafter
und langwieriger Prozess. Und genau deswegen ist
hier die Elite gefragt.
Quelle: Stuttgarter Zeitung (20.11.2001)