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Ballyhaunis

Tja, manchmal passierts: Fahrradpanne. Und nicht reparabel. Zumindest nicht, wenn man keinen Ersatzmantel mit sich führt. Also Schluß für heute, Zelt aufgebaut und im nächsten Ort umgesehen, ob’s eine Fahrradwerkstatt gibt. Glück gehabt: der kleine Laden dort an der Brücke führt Fahrradartikel neben dem sonstigen Gemisch an Eisenwaren, fishing tackle, Haushaltgegenständen, bits and pieces...
Am nächsten Morgen in aller Frühe, gleich nach dem Frühstück (also etwa gegen 10.30 Uhr) bin ich dort: Sicher, er repariert auch - aber ein Mantel in der Größe? Bedauerndes Kopfschütteln. Trotzdem bleibe ich, wie es sich für irische Lebensweise im Westen gehört, noch 15 - 20 Minuten im Laden, rede über dies und das, erzähle von meinem Urlaub bisher, meinen weiteren Plänen, diskutiere das Wetter, schwärme vom Land, höre mir an, was ein Einzelhändler im County Mayo zu erzählen, zu loben und zu beklagen hat - und erfahre so nebenbei (wie man alles immer nebenbei erfährt), daß es im Nachbarort einen größeren Radladen gibt, der vermutlich auch ungewöhnliche Reifengrößen, „european sizes“ führt. Diese Information war natürlich von Beginn an Ziel und Zweck unserer Konversation, aber es wäre doch zu schade, wenn man nur eine kurze Auskunft bekäme und auf diese Art das ganze Gespräch verpaßte, oder?
Freundlich und hilfsbereit wie die Iren nun mal sind, wird auch gleich dort angerufen und nach den üblichen Einleitungen, dem Bericht wie es geht, der Nachfrage wie die Dinge am anderen Ende der Leitung stehen, kommt man schon nach knapp 5 Minuten (man läßt mich als Fremde nicht gerne warten) zur Frage, ob die gewünschte Größe vorrätig sei. Tatsächlich: nach längerer Suche findet sich ein Reifen, etwas angestaubt zwar schon, european sizes gehen nicht oft - aber immerhin, der Mantel liegt bereit, ich muß ihn nur noch abholen. Ich erfahre noch wie ich zu dem Laden hinfinde und wie lange er geöffnet ist und werde dann mit vielen guten Wünschen, der Versicherung, man hätte ja gerne selbst geholfen, sowie einer Auswahl Zeltnägel verabschiedet.
Glücklicherweise verfügt Ballyhaunis nicht nur über einen Bahnhof, sondern auch über ein Gleis - und zwar eines, das befahren wird! Dreimal täglich geht ein Zug nach Dublin, dreimal täglich nach Westport. Für irische Verhältnisse also recht annehmbare und gute Zugverbindungen. Da die irischen Züge alle Fahrradtransport haben, ist die Frage nach dem Hinkommen auch schnell geklärt. Leider ist Iarnrod Eireann nicht grade die billigste Eisenbahngesellschaft - besonders die Fahrradkarten haben stolze Preise! Also entschließt sich mein Reisegefährte, die drei Stunden Wartezeit nicht mit mir zur verbringen, sondern die rund 25 km nach Claremorris auf dem Rad zu fahren - zumal uns die weitere Reise ohnehin an die Westküste führen sollte. Er wird vor mir dort sein, vermuten wir, hat also Zeit, den Ort zu erkunden, den Laden ausfindig zu machen und mich dann am Bahnhof zu treffen. Er nimmt seine Packtaschen und die Schlafsäcke mit, ich bleibe mit Zeltsack und meinen 4 (!) Packtaschen in Ballyhaunis, bummle durch die Straßen, esse wundervolle baked potatoes, trinke Kaffee, der nach der ersten bezahlten Tasse endlos nachgeschenkt wird („well, it’s sitting there...“), unterhalte mich blendend mit der Bedienung im coffeeshop (eine Art kleines Restaurant, nicht zu verwechseln mit den gleichnamigen Orten in Amsterdam) und genieße die Ruhe und Gelassenheit, die im irischen Westen zu Hause ist wie nirgends sonst.
Schließlich ist es soweit: Ich schiebe mein Rad zum Bahnhof, löse eine Karte für uns beide (ich bin billiger) und betrachte nochmals sorgfältig den Abfahrtsplan: Vor einer guten halben Stunde war der Zug nach Dublin dran, in etwa 8 Minuten soll meiner auf Gleis 1 kommen. Ich bin froh, daß ich das Rad und die schweren Packtaschen nicht über die Fußgängerbrücke die steilen Treppen hoch tragen muß (warum um alles in der Welt muß ich denn eigentlich auch bei einem Rad- und Campingurlaub Vorratshaltung betreiben???).
Natürlich rechne ich nicht damit, daß mein Zug von Dublin her wirklich pünktlich ist - die 7 Minuten Verspätung fallen mir deshalb auch kaum auf. Da keine Ansage kommt, kein Gong, kein Ruf und auch kein Display auf dem Bahnsteig vorhanden ist, schrecke ich bei der plötzlichen Einfahrt des Zuges und der um mich herum ausbrechenden Hektik der Wartenden richtig hoch. Ich schiebe den langen Zug entlang und habe trotz tätiger Mithilfe von Schaffner und zwei Mitreisenden ziemliche Mühe, Rad mitsamt Gepäck (nächstes Mal bleibt wenigstens der zweite Topf zu Hause!) den Meter hoch in den Gepäckraum zu hieven.
Geschafft! Ich nehme die Lenkertasche ab und schlendere durch den Gepäckraum nach vorne in den recht voll besetzten Zug. Zwei, drei Wägen muß ich gehen, bis ich noch einen Sitzplatz finde. Entspannt setze ich mich, bereit, die 20 Minuten Fahrzeit zu genießen. Der junge Mann mir gegenüber lächelt mich an, weist auf meine Fahrradtasche und natürlich finde ich mich gleich wieder im Gespräch über Fahrräder, das irische Wetter, den geruhsamen Westen, Campingurlaub... Er fragt, wie lange ich schon unterwegs bin und vermutet, daß ich nun noch ein paar Tage in Dublin Großstadt und Kultur tanken will. Nein, sage ich verwundert, ich will nicht nach Dublin - noch habe ich 10 Tage Urlaub vor mir, es soll an die Westküste gehen. Nanu? Er runzelt die Stirn: Dieser Zug fährt doch nach Dublin - er kommt von der Westküste! Ich bin irritiert, aber noch nicht richtig beunruhigt: hätte der Zug nach Dublin nicht schon vor einer knappen Stunde kommen müssen? Ja, das sei richtig - man habe eine Stunde Verspätung, aber das ist ja nichts Ungewöhnliches.
Jetzt steigt Panik auf. Ich springe auf und haste durch den vollbesetzten Zug, bis ich auf den Schaffner treffe: Ja, dies ist der verspätete Zug nach Dublin. Westport ist die Gegenrichtung, der Gegenzug muß auf der eingleisigen Strecke in Castlerea auf diesen warten, dort kann ich umsteigen. Nun ja, wenn ich den Zug nicht mehr erwische, erwische er ihn auch nicht - und er sei dort ja letztlich der Zugbegleiter!
Der Zug verlangsamt die Fahrt, ich stolpere durch vier, fünf Wägen zurück zum Gepäckabteil. Der Schaffner ruft mir mit einem Wink nach draußen nach: „That’s your train!“ und bleibt an einer Tür stehen. Mißmutig, neidisch und besorgt sehe ich aus dem Augenwinkel, wie er die Tür auf der dem Bahnsteig abgewandten Seite öffnet und mit einem großen Schritt auf den wartenden Gegenzug aufsteigt. Meine Güte, er wird doch nicht gleich weiterfahren?! Aber warum sollte er warten? Natürlich ist das kein Anschlußzug - wer außer mir würde denn umsteigen wollen??
Ich spüre die mitteleuropäische Hektik, die in Irland eigentlich keinen Raum hat, aber ich bin halt doch sehr deutsch. Mist, die Tür geht nicht gleich auf ! Geschafft - runter auf den Bahnsteig - Fahrrad nachgezogen - da hakt auch noch die Packtasche - mußte das sein jetzt - ein Ruck: gottseidankichhabs - zum glück drangeblieben - nix wie los - meine güte ist der zug lang - warum haben die Iren eigentlich nicht bequeme gleisunterführungen wie wir, wenige treppen nur und drunter durch - nein, es müssen dreieinhalb meter hohe brücken sein, steil wie noch was - gott, ist das rad schwer - warum hab ich Uli nicht die packtaschen mitgegeben - ich keuche, schnaufe, schwitze - steht der zug noch - ja noch steht er, wer weiß wie lange - gleich bin ich oben - himmel, das darf nicht wahr sein - die packtasche war wohl doch nicht mehr ganz fest - poltert die stufen runter - ich heule gleich - noch steht der zug - rad abgestellt - es kommt in rutschen - verdammtnochmalwarummußmirauchsowaspassieren - ich renne die treppe wieder runter - ein junge kommt rauf, meine packtasche in der hand - sowas liebes - ich will sie nehmen, mich bedanken - er winkt ab, winkt mich weiter - läuft über die brücke - ich folge ihm schnaufend - treppen wieder runter - hoffentlich wartet der zug hoffentlich bleibt er stehen - war das ein pfiff - trapptrapptrapptrapp - wenn ich nur nicht hinfalle - der junge ist stehen geblieben, hilft mit dem rad - endlich unten - wo ist der verdammte gepäckwagen - ein zug fährt an - nein, das ist der, mit dem ich gekommen bin - wo ist nur der scheißgepäckwagen - dahinten steht der schaffner, winkt mir zu - wo ist der junge mit meiner packtasche - ahja, direkt hinter mir - der schaffner hebt die pfeife - wieviele wägen noch - noch drei, noch zwei, einer -geschafft - er greift nach meinem rad - der junge wirft die packtasche in den gepäckwagen - ich schiebe, ziehe, hebe, zerre - der pfiff gellt in meinen ohren - der schaffner schlägt die tür zu - ein ruck - ein winken von draußen, ein strahlendes lächeln aus einem sommersprossigen jungengesicht - meine güte, hab ich mich überhaupt bedankt?
Keuchend komme ich langsam wieder zu mir, kann kaum atmen, alles tut weh und ich setze mich erstmal neben mein Rad auf den Boden des Gepäckabteils. Ich weiß sicher: in Deutschland hätte ich das nie und nimmer geschafft! Kein Zugbegleiter hätte einen ganzen Zug aufgehalten wegen einer doofen Tussi aus dem Ausland, die in die falsche Richtung eingestiegen ist und unbedingt ein Fahrrad, vier Packtaschen und einen Zeltsack dabei haben muß. Andererseits: in Deutschland hätte ich auch nicht den falschen Zug genommen! Dort hätte es eine ordentliche Anzeigetafel am Bahnsteig gegeben und einen pünktlichen Zug. Naja, nicht immer, zugegeben, aber es hätte eine Durchsage gegeben, nein, zwei: Erst eine zur Abfahrtszeit meines Westportzuges, daß der Zug verspätet ist, dann daß der ebenfalls verspätete Zug nach Dublin einfährt, vielleicht sogar noch mal nach Einfahrt des Zuges eine Begrüßung für die Fahrgäste aus Richtung Westport. Außerdem hätte der Zug ein Wagenlaufschild an jedem Wagen gehabt. Niemals wäre ich zu Hause jedenfalls in einen falschen Zug eingestiegen!
Mittlerweile habe ich einen Sitzplatz im Wagen gleich neben dem Gepäckabteil ergattert und kann wieder ruhig atmen. Als der Schaffner kommt, bin ich nicht sicher, ob mein Ärger auf mich selbst oder auf die irische Bahn größer sein soll; sonderlich gut gelaunt bin ich jedenfalls nicht. Der Schaffner knipst kommentarlos mein Ticket 15 Kilometer vor der Haltestelle, ab der es eigentlich gilt und strahlt mich an. Meinen Unmut deshalb zurückhaltend frage ich, warum es in Ballyhaunis keine Durchsage gegeben hat, warum der Zug kein Wagenlaufschild hat, warum sowas überhaupt möglich ist?! Der Schaffner runzelt verwirrt die Stirn, versteht meine Frage nicht recht und sagt fassungslos: „Why? Everybody knows that trains in this direction go to Westport and trains in that direction go to Dublin...“
Mein Ärger, meine Irritation, meine Verblüffung lösen sich in einem herzlichen, erfrischenden Lachen und ich habe meine Lektion in irischer Mentalität mal wieder gründlich gelernt!

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