SvB #3: Das Vermächtnis
©1989 by Stayka
Gegenwart:
Eniatag, der 3760/01/02 GZ (Galakta-Zeit).
Alycia Cherylla Blade sah sich noch einmal prüfend im Spiegel
an: eine wilde, lange mitternachtsfarbene Haarpracht und gleichfalls
blauschwarze Augen - doch, sie war mit ihrem neuen Image als Karylla
Noir zufrieden. Sie stieg in ihren schwarzen Einsatzcoverall und
stellte ein wenig stirnrunzelnd fest, daß sie in diesem Outfit
noch blasser wirkte als es für sie, die ja ein Kind des Planeten
Enaryshavell war, normal wäre. Ob sie vielleicht auch noch ihre
Hautfarbe ändern sollte? Aber nein, lieber nicht. Das würde
bedeuten, daß sie vor jedem Auftritt als Karylla Noir - oder
Blackfire, wie sie sich ansonsten zu nennen gedachte - außer der
Perücke und den Kontaktlinsen noch stets eine ausgedehnte Sitzung
mit Farbcrèmes und sonstigem Make-Up absolvieren
müßte. Es würde ohnehin schon stressig genug werden,
immer zwischen dem Alycia-Neon-Outfit und der Blackfire-Klamottage hin
und herzuwechseln.
In dieser Hinsicht beneidete sie Cayvyn, der ja nur in ein Bad mit
einer jeweils passenden Chemikalie steigen mußte, um jede Farbe
anzunehmen, die er gerade haben wollte. Sie erinnerte sich belustigt an
seine ersten Tests. Jee, Cayvyn in poppig Pink mit violetten Haaren
hatte einfach nur albern ausgesehen! Sie war gespannt, was er
sich für ein Tarn-Image für seine künftige Laufbahn
ausdenken wurde. Naja, seine Idee mit den blauen Haaren hatte sie ihm
hoffentlich endgültig ausgeredet...
"Spiegel aus!" Die Spiegelwand verlor die reflektierende
Oberfläche und wurde zu einer normalen metallic-weißen
Zimmerwand, die mit großen, metallisch türkisschimmernden,
geometrischen Mustern verziert war.
"Holorama ein!" Eine gut 6m^2 große Fläche
verwandelte sich nun in einen Monitor, der dreidimensionale Bilder
wiedergeben konnte. Alycia-Karylla warf sich in ein undefinierbar
geformtes, metallictürkisfarbenes Möbelstück, das sich
sofort ihren Körperformen anpaßte. Auf dem Schwebetisch
daneben befanden sich sowohl die Fernbedienung der Vielzweckwand (falls
im Zimmer viel geredet wurde, konnte es sein, daß die
Stimmerkennung Mist baute, und dann war es sinniger, von Akustik- auf
die zwar mittlerweile antike, aber immer noch durchaus praktische
Infrarot-Fernbedienung umzuschalten) als auch ein riesiger Becher
Kaffee. Das Getränk war zwar mittlerweile kalt, aber Acy
störte es nicht im geringsten.
'Hm, was gucke ich denn mal?' überlegte sie. In den bestimmt
50 Programmen des Tarishaan-TV liefen in der Regel eh nur Wiederholungen
besonders erfolgreicher Holorama-Produktionen, und sie hatte keine Lust,
die sechzigste Wiederholung von 'Die Invasoren aus Galaxis 7' zu sehen
oder den 35. Re-Run der ach so beliebten Serie 'Das
Weltraum-Hospital'... Es mußte doch auch noch etwas anderes
geben... Sie schaltete gelangweilt durch die Programme. Hm. Mal in
FGS-Aktuell reinschauen, was es Neues in der Sternenrepublik gab... Der
Nachrichtensprecher - Denis Aradro - war perfekt gestylt wie immer und
blickte unverbindlich in die Kamera.
"Die Verhandlungen des FGS-Rates über die Aufnahme der
Freien Welt Ravin II/Ravenna wurden gestern abend von den Delegierten
abgeschlossen. Die Freie Galaktische Sternenrepublik verfügt
nunmehr über 15 Freie Welten, sowie die ihnen angeschlossenen
Kolonialwelten. Die Regierungssprecherin von Ravenna, Cara Yina
Stine-Arialt-Livara, hat den tiefempfundenen Dank der Bevölkerung
Ravennas bekundet, nun auch unserer interstellaren Gemeinschaft
angehören zu dürfen.
Die Planetenallianz Tamjira erhob erneut Einspruch gegen die
Eingliederung Ravennas in die FGS, da sie die damit verbundene
Stärkung der FGS-Wirtschaft als Bedrohung der Wirtschaft ihrer
Mitgliedswelten ansieht. Vor allem der jetzt mögliche Einsatz der
ravennischen Handels- und Transportflotte in der FGS übe einen
nicht unbeträchtlichen Druck auf Tamjira und die Allianzwelten aus,
da diese ursprünglich mit einem Beitritt Ravennas in ihren
Weltenverbund spekuliert hatten.
Heute verstarb der ehemalige Regierungschef von Solse
IV/Enaryshavell, Vergily Uella Shaiell, im Alter von 88 Jahren an einem
Schlaganfall. Shaiell hatte im Jahre 3743 GZ dazu beigetragen,
daß der Große Vertrag von Asskara..."
Alycia schaltete um. Alles wie gehabt... Die FGS florierte,
Tamjira ärgerte sich darüber, wahrscheinlich würde die
Demokratische Galaktische Konföderation weiterhin aufrüsten,
kurz darauf wieder veraltete Systeme einmotten, nur um die
Rüstungsindustrie weiter anzukurbeln (Die DGK hatte eine panische
Angst vor irgendwelchen Übergriffen dubioser
extragalaktischer Mächte. Daß seit 2000 Jahren (bzw. seit
270874 Jahren gemäß der Aufzeichnungen der Alten Seher von
Hradhrun) überhaupt kein Anzeichen irgendeiner extragalaktischen
Intelligenz zu verzeichnen war, konnte sie dabei nicht beruhigen.
"Nein, geh nicht!" hauchte eine goldlockige
Holorama-Schönheit dem Helden (in einem goldenen Raumanzug) zu.
Dieser sah die Lady heroisch an. 'Ayée, die Invasoren aus
Galaxis 7!' erkannte Alycia genervt, als das goldfarbene Symbol der
Serie eingeblendet wurde, um nunmehr der Werbung Platz zu machen.
Ein schnittiges blaues Aero-Shuttle fegte durch eine malerische
Eislandschaft, und ein Sprecher zählte die Vorzüge des
Geräts auf. Anschließend wurde das standardmäßige
Firmenzeichen mit den beiden Schwingen rechts und links des Namens
eingeblendet, und der Sprecher verkündete enthusiastisch:
"Courier Comet - Was für ein Gleiter!"
Acy seufzte und wählte Kanal 42 an. Langsam konnte sich Cayvyn
doch in sein neues Outfit geworfen haben! Ts. Für einen Androiden
war er ziemlich eitel.
Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als sie sich
daran erinnerte, wie sie ihn damals zusammengebaut hatte...
* * *
Vergangenheit
Es war Telaratag, der 48. Zameri 3756GZ.
Alycia Blade sah sinnend auf den Tisch des Engineering-Labors, das
sie sich nebst anderer Forschungsstätten in einer für Besucher
nicht zugänglichen Sektion ihrer Orbitalvilla eingerichtet hatte.
(Villa Alycia - Eine als reiner Wohnkomplex gestaltete
Raumstation, die in einem Synchronorbit in 39074 km Höhe den
Planeten Suune III/Tarishaan umkreist.)
Seit nunmehr sieben Monaten arbeitete sie daran, den Traum ihres
Vaters zu verwirklichen, einen denkenden und fühlenden
künstlichen Menschen zu erschaffen.
Alleine die Hardware war ein größeres Problem gewesen.
Die normalen Androiden waren bewußt einfach gehalten worden, um
etwaige Verwechslungen mit 'richtigen' Menschen zu vermeiden. Ihre
Körpertemperatur entsprach im Großen und Ganzen der
Umgebungstemperatur, und ihr gesamtes Äußeres ließ
keinen Zweifel daran, was sie darstellten.
Alycia hatte gut ein halbes Dutzend Standard-Androiden demontiert,
um aus deren verwendbaren Einzelteilen, den Zusatzelementen, die ihr
Vater entworfen hatte und diversen eigenen Erfindungen ein
vollständig neuartiges Modell zu bauen.
Heute hatte sie die Arbeit endgültig abgeschlossen, und es
fehlte nur noch die entsprechende Programmierung, um ihr Geschöpf
zum Leben zu erwecken. Vorausgesetzt, sie hatte unterwegs keinen Fehler
gemacht, ermahnte sie sich düster, denn sie hatte da so ihre
Bedenken. Aber auch die Sache mit der Programmierung war noch ein
Problem. Grundsätzlich verwandte sie die Firestar-Kristalle, aber
sie war nicht ganz glücklich über deren Inhalte. So hatte sie
bestimmt 50% der ursprünglichen Programmierung von Grund auf
umgestalten müssen, um sie dem anzupassen, was sie für
sinnvoll hielt.
Sie warf einen Blick auf die Überwachungsmonitore. Okay, es
schien vielversprechend auszusehen. Sie begann also kurzerhand mit dem
Datentransfer. Wenn sie länger wartete, würde das Ergebnis
auch nicht anders ausfallen als jetzt...
Während der Androide programmiert wurde, musterte Alycia noch
einmal kritisch das Design, das sie ihm verpaßt hatte. Er war
exakt 1.95m groß - also beträchtlich größer als
die Standard-Modelle - was aber im Hinblick auf seine Tarnung nur sinnig
war. Schließlich sollte er den Leuten nicht sofort auf die Nase
binden, daß er eine künstliche Lebensform war! Seine Haut-
und Haarfarbe war Schneeweiß, denn Acy hatte beschlossen,
daß er selbst über sein Outfit bestimmen sollte. Immerhin
hatte sie ihn komplett modelliert, und sie fürchtete Schlimmes,
wenn sie auch noch seine Farbgebung nach ihren Idealvorstellungen
für ein männliches Wesen gestaltete...
Sie seufzte belustigt, als sie sein ebenmäßig
geschnittenes Gesicht betrachtete. Er hatte seine Augen geschlossen,
als wenn er schliefe, doch sie wußte, daß deren Farbe ein
helles Grau war, wie von stürmischem Himmel, mit leichten Schatten
von Blau und Violett.
Sie strich ihm sanft über die Wange. Die Komposition seines
Hüllenmaterials war ein weiteres Problem gewesen, und es
faszinierte sie immer wieder, wie angenehm es sich nun anfühlte.
Seine Temperatur lag um ein paar Grade unter normaler menschlicher
Körpertemperatur, war aber in Acys Augen einfach ideal. Im Prinzip
fehlte ihr nur noch ein Name für ihn. Momentan tendierte sie zu
einem Namen aus drei Komponenten, wie er auf ihrem Heimatplaneten
üblich war. Vielleicht Ryko Jivhella Maiell? Aber andererseits...
Sie müßte sich auch einen Background für ihn
überlegen, und sie wollte ihm lieber eine Identität verpassen,
bei der etwaige Schnitzer im Verhalten nicht so auffielen. Hm. Am
besten, sie würde ihn selbst fragen, wenn er aktiviert war.
Vorausgesetzt, alles verlief nach Plan... Sie betrachtete die sich
rasch verändernden Statusanzeigen der diversen Monitore, bevor sie
ihren Blick wieder auf den Androiden-Mann richtete. Sie hatte
beschlossen, im nächsten Anlauf einen weiblichen Androiden zu
basteln, der ja auch in den Plänen von Firestar schon vorgesehen
war - aber im Augenblick galt ihre volle Aufmerksamkeit diesem Exemplar.
"Ayée, ich könnte mich glatt in dich
verlieben", stellte Alycia leicht belustigt fest. Sie hätte
ihn wirklich nicht so ...hübsch gestalten sollen!
Genau in diesem Augenblick war der Datentransfer abgeschlossen, und
der Androiden-Mann schlug seine sturmwolkenfarbenen Augen auf.
"Ihr ehrt mich sehr, liebwerte Demoiselle!" bemerkte er
mit einer faszinierenden, seidenweichen Stimme, und Alycia stellte halb
amüsiert, halb stirnrunzelnd fest, daß sie tatsächlich
drauf und dran war, ihr Herz an eine künstliche Lebensform zu
verlieren. Es verwunderte sie, was Firestar offensichtlich alles in
seinen Speicherkristallen vorgesehen hatte. Diese altertümliche
Sprachform war ihr bereits aufgefallen, als sie die erste Revision der
Programmierung betrieben hatte, aber sie hatte beschlossen, daran nichts
zu ändern. Zumindest wußte sie nun einen passenden Namen
für ihre Schöpfung. Er erinnerte sie ungemein an ihren
Naysyny-Lehrer im Internat, und der war doch so ein komischer Adliger
gewesen... Sie grübelte nach und wählte dann den erstbesten
naravinischen Namen, der ihr einfiel.
"Willkommen im Leben, Sir Cayvyn", meinte sie
grinsend und befreite ihn erst einmal von den diversen
Meßinstrumenten und Datentransfer-Leitungen.
"Seid meines tiefempfundensten Dankes gewiß,
Mylady", bemerkte 'Sir Cayvyn' und richtete sich auf, bevor er mit
einem Ausdruck neugieriger Verwunderung die Funktionsfähigkeit
seiner Extremitäten abcheckte.
"Ich heiße Alycia", sagte diese nur und half ihm auf
die Beine. Sie suchte den Coverall und die diversen sonstigen Sachen
hervor, die sie für ihn bereit gelegt hatte. "Bist du mit
deinem Namen zufrieden, Cay?"
"Besteht irgendein Grund, aus dem dies nicht der Fall sein
sollte, Mylady Alycia?"
"Nein", erwiderte sie und hob amüsiert die
Augenbrauen. "Cayvyn, ich habe deine Haut- und Haarfarbe noch
nicht festgelegt. Unter den Daten, die ich dir überspielt habe,
sind auch die möglichen Farbkombinationen, die auf den
verschiedenen Welten der FGS auftreten. Such dir bitte eine Coloration
aus, die dir gefällt. Die entsprechenden Farbstoffe findest du im
Chemo-Labor dort hinten!"
Sie drückte ihm die Kleidungsstücke in die Hand und
beschloß, der Dinge zu harren, die da kommen würden. Eine
halbe Stunde später erschien ein völlig veränderter
Cayvyn im Engineering-Lab. Nun hatte er einen hellen, fast
elfenbeinernen Teint, kupferrotgoldene Haare und trug den
anthrazitfarbenen Coverall, den Alycia ihm gegeben hatte. Acy blieb
beinahe der Atem weg.
Das durfte doch nicht war sein! Da wollte sie, daß er sich
selbst eincolorierte, damit sie nicht so sehr in Versuchung kam, und was
machte er? Erwischte exakt die Farbkombination, die sie
vermeiden wollte...
Alycia blickte ihn eine ganze Weile wie gebannt an. Cay sah einfach
umwerfend aus! Dabei stellte sie fest, daß er auch seine
Augenfarbe geändert hatte. Anstelle des stürmischen Graus
waren sie nun von einem leuchtenden Grün, in dem ein wenig Gold
schimmerte. Seufz.
"Alycia, was ist der Grund für meine Erschaffung?"
Diese Frage traf sie völlig unerwartet, und die junge Frau
überlegte einen Moment.
"Hm. Naja, eigentlich fing es damit an, daß mein Vater
vor Jahren ein Projekt begonnen hatte, mit dem er testen wollte, ob es
möglich wäre, denkende und fühlende Androiden zu
schaffen. Nach seinem Tod habe ich beschlossen, seine Forschungen zu
vollenden. Der zweite Grund ist, daß ich auch in anderen Belangen
in die Fußstapfen meines Vaters zu treten beabsichtige. Doch
diese Sache ist für mich alleine nicht machbar, und ich brauche
einen verläßlichen Partner, mit dem ich zusammenarbeiten
kann. - Setz dich doch, Cay."
"Meinen ergebensten Dank, Mylady Alycia." Er
vollführte eine stilvolle Verbeugung, bevor er sich auf dem Sitz
niederließ, auf den Acy deutete. Diese grinste über alle
vier Backen, bevor sie einen Scanner aus einem Regal holte und Cays
Werte im vollaktivierten Zustand überprüfte. Alles bestens!
"Du bist absolut topfit, Cayvyn", bemerkte sie begeistert.
"Nun, jetzt müssen wir ein paar wichtige Dinge abklären.
Zuallererst eins: Ich möchte, daß du weißt, daß
du dich mir nicht wegen irgendetwas verpflichtet fühlen mußt.
Gut, ich habe dich gebaut, aber es wäre mir am liebsten, daß
du diese Tatsache wenn möglich gänzlich vergißt...
Punkt zwei: Unter den dir überspielten Daten waren auch
ausreichende Informationen, die es dir ermöglichen sollten,
moralische Wertungen und Entscheidungen zu treffen. Du bist also frei,
zu tun und zu lassen, was du willst. Ist das soweit klar?"
"Ja, Alycia..." Cayvyn runzelte irritiert die Stirn. Die
Anweisungen waren zwar eindeutig, wenngleich auch ihm deren Motivation
unverständlich erschien. "Aber ich verstehe nicht ganz, warum
du das so betonst..."
"Deiner Programmierung nach bist du ein Individuum, du hast
eine Persönlichkeit. Und deshalb habe ich nicht das Recht,
über dich zu bestimmen. Ich möchte, daß du alles, was
du tust, aus freiem Willen tust. Ich werde dich auch nicht aufhalten,
wenn du beschließt zu gehen, um dir die Welt anzusehen..."
"Alycia - soll das heißen, daß du mich loswerden
willst?"
"Ayée, nein, bestimmt nicht!" rief Acy aus. Sie
wirkte derart entsetzt, daß ein leicht amüsiertes
Lächeln über Cayvyns Gesicht huschte. Alycia betrachtete dies
fasziniert. Er lernte mehr als nur schnell! "Im Gegenteil... Ich
wollte dich fragen, ob du bei mir bleiben und mir bei meinen
künftigen Unternehmungen helfen willst."
Cayvyn erhob sich und verbeugte sich galant ein zweites Mal.
"Es wird mir eine Ehre sein, Mylady Alycia!"
"Cay, wieso hat dir Firestar bloß dieses
Verhaltensmuster verpaßt?! - Ich jedenfalls bin
diesbezüglich ausnahmsweise völlig unschuldig..."
"Gefällt es dir nicht? Ich habe noch eine
größere Anzahl anderer Möglichkeiten zu Auswahl."
"Nein, nein, so habe ich das nicht gemeint", versicherte
ihm Acy rasch. "Ich finde, du kannst es dir gerne zu deiner
Persona machen..." Um genau zu sein, fand sie ihn so sogar
äußerst süß. "Jetzt zu etwas anderem. Ich
muß dich schließlich irgendwie erklären. Wir sollten
uns einen passenden Background ausdenken und so weiter."
Während sie ihn so betrachtete, fand sie, daß er einen
perfekten Naravino abgeben würde.
Cayvyn nahm wieder Platz und überlegte einen Moment.
"Mein Phänotyp entspricht im Großen und Ganzen dem
der Bewohner folgender Planeten: Allirion IV/Naravina, sdayinisische
Hochlandregionen; Solse IV/Enaryshavell, Landbevölkerung von
Kancia; Tunris II/Sangira, einige Bergstämme und Hasgaal II/Dvaris,
Tvarsia-Kontinent..."
"Hm-hm", machte Alycia stirnrunzelnd. "Die
Enaryshavell-Landleute kannst du schon mal vergessen, die sind ganz
einfache Gemüter. Irgendwie habe ich das Gefühl, das
paßt so rein gar nicht zu dir... Die Sangira-Bergstämme
halte ich auch nicht für sehr sinnvoll, da ihr Clan-Wesen
überaus ausgeprägt ist und du niemals mit der Behauptung
durchkämst, du gehörtest zu ihnen. Jee... Bleiben Dvaris und
Naravina... Was weißt du über diese beiden Welten?" Sie
beschloß, einmal auszutesten, wie er mit seinen abgespeicherten
Daten umging.
"Dvaris ist eine hochstehende Technokratie, die vorwiegend
durch den Export von Technologien und Luxusgütern zu großem
Reichtum gekommen ist. Die Bevölkerung beträgt laut der
letzten Erhebung im Jahre 3754 GZ 8.45 Milliarden Wesen..."
"Ay, Cayvyn, so hatte ich das nicht gemeint... Es war
mir in diesem Zusammenhang nicht wichtig, statistische Informationen zu
bekommen, ich dachte mehr an die soziologische Struktur der
Bevölkerung, da dies ja im Hinblick auf unsere
Erörterungen relevant war..."
Cayvyn dachte einen Moment nach.
"Das heißt, ich muß im Hinblick auf eine gestellte
Frage auch den Kontext derselben berücksichtigen..." stellte
er fasziniert fest. "Gut. Ich werde es fürderhin
beherzigen."
Er bedachte sie mit einem strahlenden Lächeln, das nach Alycias
Meinung mindestens verboten werden müßte. "Die
Dvarisianer gelten als rational und handeln in der Regel eher
zweckbestimmt - utilitaristisch wäre wohl der korrekte Terminus
dafür. Ihre Sozialstruktur basiert auf einem ausgeprägten
Kommunenwesen, und sie sind in der Regel nur in Gruppen
anzutreffen..." Cayvyn schüttelte den Kopf. "Damit
scheidet dies auch aus. Gut, Allirion IV/Naravina: eine
ausgeprägte Feudalstruktur; sämtliche Gebiete sind in
Königreiche, Fürstentümer und was der Dinge mehr sind,
unterteilt..."
"Mhm. Klingt doch sogar sehr sinnig für deine
Persona als Sir Cayvyn", stellte Alycia fest. Sie fand
eine angeblich naravinische Abstammung sowieso die bestmögliche
Wahl für ihn. "Jetzt müssen wir nur noch ein
Plätzchen in einer der Familienlinien für dich ausgraben. Am
besten irgendeinen Sohn von irgendeiner Lady, der irgendwann
entführt worden ist, oder so..."
Cayvyn sah sich um.
"Kann ich hier irgendwo auf die Zentrale
Informations-Verwaltung von Naravina zugreifen?"
"Komm mit. In meinem Arbeitszimmer ist ein Viphon, mit dem du
die ZIV von Tarishaan kontaktieren kannst. Vielleicht verfügt die
ZIV-Tarishaan bereits über die Daten, ansonsten kannst du sie dir
von der ZIV-Naravina anfordern lassen."
"Überaus umständlich. Ich würde mich lieber
persönlich mit dem entsprechenden Computer unterhalten."
"Tja, leider mußt auch du dich unserer lieben
Bürokratie beugen, und die besagt, daß du zunächst die
ZIV des Systems, in dem du dich gerade befindest, kontaktieren
mußt, und dann im Zweifelsfall erst weiter
durchgeschaltet wirst. Das spart - nebenbei bemerkt - schließlich
auch einiges an Interstellar-Funkzeit und damit Geld."
"Ich weise darauf hin, daß ich sicherlich schneller
wäre, wenn ich sofort einen freien Datenkanal zu dem entsprechenden
Computer bekäme..."
Alycia grinste ihn an.
"Das glaube ich dir sogar. Aber nicht jeder hat
da", sie tippte ihm mit dem Zeigefinger an die Stirn,
"einen Hochleistungscomp eingebaut... Und ich glaube nicht,
daß es sinnvoll wäre, wenn du das allen auf die Nase
bindest..."
"Aus welchem Grund hältst du das nicht für
sinnvoll?" Cayvyn sah sie irritiert an.
"In der FGS werden nur Androiden zugelassen, die unter keinen
Umständen mit Menschen verwechselt werden können. Das ist ein
Gesetz, das bereits seit über vierhundert Jahren besteht, da zu
dieser Zeit einige unschöne Dinge passierten. Mehrere
Wissenschaftler hatten im Auftrag eines Verbrechersyndikats Menschen so
perfekt nachgebaut, daß diese Androiden wichtige
Schlüsselfiguren aus Politik und Wirtschaft ersetzen konnten, ohne
daß dieses auffiel. Als endlich einige Leute dahinter kamen, war
es beinahe zu spät, und die nachfolgende Säuberungsaktion
führte zu beinahe bürgerkriegsähnlichen
Verhältnissen. Jeder mißtraute jedem und so weiter. Als
sich die Unruhen Jahre darauf gelegt hatten, wurde ein Gesetz
verabschiedet, das die Fähigkeiten künstlicher Lebensformen
stark restringierte."
"Das heißt also, daß du ganz bewußt gegen die
herrschende Gesetzgebung verstoßen hast, um mich zu schaffen.
Höchst interessant."
"Hm. Vielleicht habe ich das Gesetz für veraltet
gehalten... Oder ich war einfach zu neugierig..."
Sie wollte in ihr Arbeitszimmer davonschweben, doch Cayvyn ergriff
ihr Handgelenk.
"Warte..."
"Autsch! - Loslassen...!" rief Acy
überrascht, und der Androiden-Mann tat, wie ihm geheißen.
"Was ist?" Er sah sie verwirrt an, als sie sich ihr
Handgelenk rieb.
"Jeih, ich glaube, wir sollten mal deine Feinmotorik genauer
justieren... Weißt du, ein Mensch ist nicht so
widerstandsfähig wie ein Androide."
"Ich bitte um Vergebung, teure Lady Alycia", sagte Cayvyn
geknickt.
"Hey, nimm's nicht so tragisch - ich bin doch noch in einem
Stück..." Acy ergriff seine schlanke Hand, der man absolut
nicht ansah, welche Kraft dahintersteckte. "So, jetzt kannst du
mich mal als Versuchskaninchen verwenden. Leg einfach deine Hand auf
meinen Arm. - Okay..." Cay folgte ihrer Aufforderung, aber diesmal
ganz vorsichtig. "Siehst du... Das fühlt sich für
mich... hm", sie überlegte einen Moment, dann lächelte
sie ihn amüsiert an, "...äußerst angenehm an. -
Jetzt verstärke mal den Druck - hups, etwas weniger! - Okay...
So kannst du jemanden festhalten, ohne ihn zu verletzen. Also,
viel fester solltest du besser nicht zupacken, du könntest einem
schwachen, menschlichen Wesen auf die Art die Knochen brechen." Sie
fuhr abwesend mit ihrer anderen Hand über seine. Er fühlte
sich einfach ...interessant an. Cay betrachtete diese Aktivität
Alycias fasziniert.
"Anbetracht der Tatsache, daß die von dir auf meine Hand
ausgeübte Kraft ungefähr der entspricht, die du als 'angenehm'
bezeichnetest, als ich sie bei dir applizierte, gehe ich davon aus,
daß du mit deiner Tätigkeit eine ähnliche Empfindung bei
mir zu bewirken suchst. Ist diese Annahme korrekt?"
"Hm?" Acy runzelte die Stirn. "Ähm, wenn du
meinst, ob ich dir absichtlich ein paar Streicheleinheiten verpassen
wollte, muß ich gestehen - du hast recht..." Sie
lächelte ihn an. "Was mich dabei interessieren würde,
ist folgendes: Empfindest du diese Berührung effektiv als angenehm,
oder ist es lediglich ein Schluß, den du aufgrund der von deinen
Tastsensoren übermittelten Daten und meiner Bemerkung dazu gezogen
hast?" Cayvyn überlegte einen Moment.
"Sowohl als auch", stellte er dann selbst ein wenig
überrascht fest.
"Wie habe ich das zu verstehen?"
"Es ist mir durchaus möglich, diese Empfindungen direkt
als solche wahrzunehmen. Allerdings fehlen mir derzeit noch die
entsprechenden Vergleichsdaten..." Er blickte sie erwartungsvoll
an.
"Soso", machte Alycia belustigt. Das hieße wohl,
sie sollte ihm dabei ...behilflich sein, die 'entsprechenden
Vergleichsdaten' zu erbringen...
Sie musterte ihn noch einmal von oben bis unten, wobei sie befand,
daß sie ihm im Prinzip mit dem größten Vergnügen
dabei behilflich sein würde. Gedanklich schüttelte sie nur
den Kopf über sich. 'Acy-Kind, was denkst du dir eigentlich? -
Immerhin ist der Typ nicht nur nicht echt, sondern auch noch von dir
zusammengebastelt worden! Er ist doch nur eine Art verbesserter
Roboter-Typ!' ermahnte sie sich selbst. Doch andererseits... Für
einen simplen Robot hatte er eine recht ausgeprägte
Persönlichkeit. Hm. Wer es nicht wußte, könnte Cay
durchaus für einen Menschen halten. Zugegeben, seine
Körpertemperatur lag bei nur 31 Grad C, er verfügte über
wahrhaft herkulische Kräfte, seine Eßbedürfnisse
unterschieden sich etwas von denen 'normaler' Menschen, er
benötigte keinen Schlaf und war in punkto allgemeine Ausdauer und
Widerstandskraft schier unschlagbar - aber das brauchte man ja nicht
allen auf die Nase zu binden...
"Hm, Cayvyn, ich glaube, wir sollten uns wirklich erst einmal
über deinen persönlichen Background kümmern",
wechselte Acy rasch das Thema. Ts, sich mit einem Androiden einlassen!
Wo kämen wir denn da hin...?
"In Ordnung, Alycia." Er folgte ihr in ihr Arbeitszimmer
und setzte sich vor das Viphon. Mit einem geradezu wahnwitzigen Tempo
huschten seine Finger über die Tastatur.
(Das Viphon ist nicht alleine ein Kommunikationsmedium, sondern
fungiert zusätzlich noch als Minicomputer, falls man zum Beispiel
Daten von der ZIV oder sonstwoher anfordern und gegebenenfalls direkt
verarbeiten will.)
Plötzlich leuchtete auf dem Monitor das Symbol der ZIV-Naravina
auf, - der stilisierte Speicherkristall, der für die
ZIV-Einrichtungen allgemein stand, unter einer silbernen Krone, dem
Symbol der naravinischen Herrscherfamilien.
Alycia musterte Cayvyn stirnrunzelnd.
"Wie hast du denn das angestellt? Du hast die
ZIV-Tarishaan ignoriert..."
Der Androiden-Mann lächelte belustigt und hob die Augenbrauen.
"Erwähnte ich nicht, daß ich diesen Umweg für
überflüssig hielt? Ich habe eine Verbindung zur
Universität von Ashteera hergestellt und mich von dort direkt
über einen Prioritätskanal nach Allirion IV/Naravina
durchstellen lassen. Keine Sorge, die Gebühr wird von der
Universität bezahlt..."
(Ashteera ist die Hauptmetropole von Suune III/Tarishaan)
"Cayvyn, ich glaube, ich brauche dich nicht darauf hinzuweisen,
daß das nicht ganz legal ist..."
"Korrekt. Es ist nach $ 2875 A, Absatz 3, ein Vergehen gegen
das FGS-Kommunikationsgesetz und kann mit einem Bußgeld oder
Entzug der Teilnehmerlizenz geahndet werden."
"Fein..." meinte Acy nicht gerade begeistert.
"Sei unbesorgt, Alycia. Nach meinen Begriffen ist das
komplette Info-System reichlich veraltet. Firestar hatte bereits ein
völlig neues Modell dafür entwickelt, doch der FGS-Rat sprach
sich dagegen aus, es zu übernehmen. Dabei hatte Firestar ihnen
eindrucksvoll demonstriert, wo die Schwächen des alten Systems
lagen... Die Verwaltung blockierte das Projekt so lange, bis sich
keiner mehr so recht daran erinnerte. Für mich ist dies von
Vorteil, denn es bereitet mir keine Probleme, in das System
einzubrechen, da ich auf sämtliche von Firestar entwickelten
Strategien zurückgreifen kann."
"Soso..." Sie schüttelte ungläubig den Kopf.
"Was habe ich mir da zusammengebaut..." meinte sie belustigt.
Cayvyn sah sie verständnislos an, etwas zu
auffällig verständnislos, wie Alycia befand. Er wußte
genau, was sie meinte! Ts. Sie setzte sich auf die Armlehne
des Sessels, der ja eigentlich ihr Sessel war und versuchte,
den rasch über den Schirm flimmernden Infos zu folgen. Nach etwa
zehn Sekunden gab sie es auf. So schnell konnte doch kein Mensch lesen!
Plötzlich tippte Cay auf eine Sensortaste, und auf dem Monitor
blieb eine Seite stehen.
"Da", kommentierte er den Inhalt. "Das ist es."
"Hm?" Acy überflog die Informationen. Es schien als
ob eine Lady Aylanna, die Cousine der Hochkönigin Elyssabelle der
östlichen Landgüter des Sdayinisischen Kontinents, ein
indiskretes Techtelmechtel mit einem Sir Yngwayn, dem Ziehbruder des
Herzogs Kinshayn der Ayryana-Ländereien gehabt habe, woraus ein
Sohn namens Lanamir entsprang, der als Ziehbruder der Söhne des
Hochlandkönigs Mirvin zu Zaylyann und Nidivar aufwuchs und vor
einigen Jahren mit unbekanntem Ziel von Naravina verschwand. Es
hieß, er wäre auf einen Ökotrip gegangen und wollte als
Aussteiger sein Leben in den vollbiologischen Gemüsegärten von
Umara II/Ingarion fristen.
Ein Gegencheck bei der ZIV-Ingarion hatte ergeben, daß Lanamir
nach alter naravinischer Sitte zum Eintritt ins Erwachsenendasein seinen
Namen geändert und eine ingarische Gemüsefarmerin geheiratet
hatte, ohne jemals wieder ein Lebenszeichen an seine Familie auf
Naravina zu schicken. Aylanna und Yngwayn hatten ihr Verhältnis
kurz vor der Geburt ihres zweiten Kindes Dayenna doch noch
legitimisiert, doch es war ihnen wohl zunächst peinlich, Lanamir
anzuerkennen. Als sie es sich anders überlegten, war er
längst über alle Berge, sprich auf Ingarion.
"Dieser Lanamir hat dieselbe Haar- und Augenfarbe, die ich mir
ausgesucht habe, sieht mir ziemlich ähnlich, und meine
Größe entspricht ohnehin der eines naravinischen
Adligen", stellte Cayvyn fest. Und was meinen Namen betrifft - es
ist eine alte, wenn auch wenig gebräuchliche naravinische
Tradition, einen persönlichen Namen anzunehmen, wenn man sich als
'Erwachsener' mit allen Rechten und Pflichten eines solchen betrachtet.
Ich werde demnächst einmal meiner ...Familie einen Besuch
abstatten."
"Bist du verrückt? Was ist, wenn man dir die Geschichte
nicht abnimmt?"
"Ich habe sämtliches verfügbare Material über
Sir Lanamir kopiert. Sein 'beruflicher Werdegang' - er hat mehrere
Grade in der Kunst antiker Waffenführung erlangt, vornehmlich im
Energie-Degen-Fechten und im Bogenschießen, und ansonsten soll er
sich sehr mit der Gärtnerei beschäftigt haben..."
Alycia betrachtete Cayvyn mit höchstem Amüsement; sie
versuchte sich ihn gerade mit einem Gärtnerkittel und einem
Strohhut vorzustellen. Schließlich konnte sich sich nicht mehr
beherrschen und prustete vor Lachen. Cay, der liebevoll diverse
Pflanzen umtopfte und sich angeregt mit diesen unterhielt, war einfach
eine umwerfende Vorstellung.
"Was ist daran so komisch?" meinte er ein wenig
schmollend. Acy winkte ab, sie war immer noch nicht imstande, etwas zu
sagen. "Ich werde nach Allirion IV/Naravina
fliegen", sagte Cayvyn bestimmt. "Wenn ich mir schon
eine Pseudo-Identität schaffe, dann will ich diese auch korrekt
anlegen, und das heißt, daß ich es nicht zu riskieren
gedenke, irgendwann als Hochstapler entlarvt zu werden. Und das
wiederum bedeutet, daß ich mich persönlich bei dieser Lady
Aylanna und ihrem - hm - Gemahl Sir Yngwayn vorstellen werde.
Wenn diese mich akzeptieren, kann ich ganz offiziell behaupten,
daß ich der Sohn der Cousine 3. Grades des Onkels der
Hochkönigin der östlichen Landgüter des Sdayinisischen
Kontinents von Allirion IV/Naravina und des Ziehbruders des Herzogs der
Ayryana-Ländereien bin."
"Jeih, bin ich froh, daß ich keine naravinische Adlige
bin! Diese ganzen Titel könnte ich nie behalten..."
Sie lächelte ihn an. Himmel, das letzte Mal, daß sie
so verschossen in einen Typen war... Ja, das war damals auf
dem Internat in der vorletzten Klasse gewesen, als sie diesen
schnuckeligen dvarisianischen Jungen Dvandar Inkra Tjadrus kennenlernte.
Seufz, wenn der nicht so ein typischer Dvarisianer gewesen wäre,
der dauernd mit den beiden anderen Typen aus seiner Kommune
herumhing...!
Falls sie ihn ab und zu alleine erwischte, war er ja
geradezu umwerfend, aber das war leider überaus selten gewesen.
Sie hatten beide bemerkt, daß eine Weiterführung ihrer
Liaison illusorisch war, auch wenn Alycia darüber absolut nicht
begeistert war.
Und nun hatte es sie wieder erwischt... Ein Androide! Warum konnte
sie sich kein männliches Wesen heraussuchen, das zu ihr
paßte?
Acy musterte Cayvyn nachdenklich. Dieser legte die Stirn in Falten.
"Alycia, es gelingt mir nicht, die von dir verwandte Mimik mit
dem Inhalt unseres Gespräches in Verbindung zu bringen."
"Meine derzeitigen Überlegungen bezogen sich auch nicht
auf unsere zuletzt erörterten Themenpunkte..."
"Das finde ich überaus faszinierend", bemerkte
Cayvyn. "Worauf bezogen sie sich dann?"
"Cayvyn, was für Informationen hast du bezüglich des
Themas 'Verliebt sein' in deinen Speichern?"
"Hm. 'Verliebt sein'... 'Sich zu jemandem hingezogen
fühlen', ein Zustand positiver Emotionen..." Er überlegte
eine Weile; für einen Androiden ziemlich lange, wie Acy befand.
"Ist es korrekt, daß deine Beschäftigung mit diesem
Thema indirekt impliziert, daß du unter Umständen dieses
Gefühl für mich hegst?"
Nun war es an Alycia, eine Runde zu meditieren. Was sollte sie ihm
sagen? Wie würde Cay auf irgendeine Antwort von ihr
reagieren? Nun, Firestars Projekt war faktisch darauf ausgelegt,
abzutesten, inwieweit es möglich war, künstlichen Lebensformen
Emotionen zu implantieren. Aber war das in Cayvyns Fall geglückt?
'Oh, Dunkle Mutter!' Acy hoffte, daß Cay in der Lage
war, Gefühle zu empfinden. Sonst wäre das Ganze ja
langweilig... Naja, sie sollte auf jeden Fall ehrlich ihm
gegenüber sein.
"Korrekt, Cayvyn. Ich bin ganz furchtbar in dich
verknallt!"
Cay runzelte die Stirn.
"Alycia, ist 'furchtbar' nicht ein negativer Begriff? Wie habe
ich dann deine Aussage zu verstehen, daß du 'furchtbar in mich
verknallt' seist?"
"In diesem Kontext ist 'furchtbar' als zusätzliche
Betonung gemeint. So wie das Adverb 'sehr' oder 'überaus'..."
Cayvyn strahlte sie förmlich an. "Das heißt also,
du magst mich als Person und nicht nur als dein
...Geschöpf?!"
"Muß ich dich noch einmal darauf hinweisen, daß du
den Fact aus deinem Gedächtnis streichen solltest, daß ich
dich gebastelt habe?"
"Nein. Trotzdem..." Er schien wieder seine Speicher zu
durchsuchen, dann zog er sie vorsichtig zu sich herunter und gab ihr
einen sanften Kuß auf die Lippen. "Danke. - Dafür,
daß du mich konstruiert hast." Er setzte ein Lächeln
auf, von dem er hoffte, daß es Acys von vorhin entsprach.
"War das eine passende Entgegnung?" erkundigte er sich dann
gespannt.
Alycia sah ihn sprachlos an.
"Naja, im Generellen nicht unbedingt... Sie grinste
ihn an. "Du solltest davon absehen, einer dir nicht näher
bekannten Person einen Kuß zu geben. Aber was mich betrifft...
Hm, ich würde es jedenfalls nicht als 'unpassend'
bezeichnen... - Was aber hauptsächlich damit zusammenhängt
daß ich dich ausgesprochen sehr mag... Ich will dir nichts
vormachen, wenn sich ein beliebiger anderer Typ soetwas herausgenommen
hätte, hätte er von mir schwer eins auf die Nase
bekommen!"
"Ah, heißt das, daß ich in dieser Hinsicht eine
bevorzugte Stellung einnehme?"
"So könnte man es formulieren." Acy musterte
ihn liebevoll und wuschelte in seinen kupferrotgoldenen Haaren herum.
Seine Haarfarbe war wirklich faszinierend. Von Metallicrot über
Gold bis Kupfer waren alle Schattierungen vorhanden.
"Alycia, hat es eine besondere Bewandnis, daß du meine
Haare in Unordnung bringst?"
"Hm..." Sie wurde leicht rot. "Tja, das kann mehrere
Bedeutungen haben... In deinem Fall heißt es, daß ich dich
mag."
"Erwartest du jetzt, daß ich deine Haare auch in
Unordnung bringe?" Er überlegte einen Moment. "Laut der
mir verfügbaren Speicherdaten erscheint mir das aber nicht als die
korrekte Prozedur."
Alycia konnte sich ein Kichern nicht verkneifen, als Cay sie ratlos
ansah.
"Stimmt. Das geht ohnehin hauptsächlich bei kürzeren
Haaren... - Sag mal, was würdest du denn als 'korrekte
Prozedur' betrachten?"
Cayvyn guckte immer noch ziemlich hilflos in die Runde. "Ich
bin mir nicht schlüssig darüber. Immerhin kennen wir uns doch
noch nicht allzulange, und die mir verfügbaren Daten besagen,
daß einige der möglichen Reaktionen bei eher flüchtigen
Bekanntschaften nicht passend sind. Ich habe die Eintragungen daraufhin
untersucht, als du meintest, daß man zum Beispiel einer nicht
näher bekannten Person nicht unbedingt einen Kuß geben
sollte."
"Hm, Cay. Das ist - generell betrachtet - auch durchaus
korrekt. Allerdings habe ich dich darauf hingewiesen, daß ich in
dich verliebt bin, und damit kannst du eigentlich davon ausgehen,
daß zumindest ich dich nicht als 'flüchtige Bekanntschaft'
betrachte. Abgesehen davon kenne ich dich seit über
sieben Monaten - solange habe ich nämlich an dir
herumgebastelt." Sie musterte ihn sinnend. 'Und das Ergebnis
schlägt meine kühnsten Erwartungen um Längen', dachte
sie, immer noch leicht ungläubig ob der Entwicklung, die sich da
abzuzeichnen begann. Plötzlich setzte Cayvyn ein ziemlich
belustigtes Lächeln auf.
"Offensichtlich kennst du mich bereits geraume Zeit.
Aber immerhin bist du zur Zeit dennoch für mich eine recht
flüchtige Bekanntschaft, nicht wahr?"
Acy verschlug es beinahe die Sprache, dann kicherte sie los.
"Hey! Immerhin hast du mich geküßt,
n'est-ce pas?"
"Korrekt." Cay verzog leicht amüsiert das Gesicht.
"Dieser Einwand entbehrt nicht einer gewissen Logik. - Du bringst
schon wieder meine Haare in Unordnung", stellte er dann
vorwurfsvoll fest.
"Exakt. Und zwar mit voller Absicht!"
"Gefällt dir meine Frisur nicht?"
"Das hat damit überhaupt nichts zu tun. Und mach mir
nicht vor, daß du nicht weißt, was ich meine..." Sie
sah ihn erwartungsvoll an und fuhr in ihrer Tätigkeit fort.
Cayvyn betrachtete Alycia nachdenklich. Diese Einladung
war so offenkundig wie irgendetwas... Allerdings fragte er sich
ernsthaft, ob es wirklich möglich war, daß sie ihm echte
Gefühle entgegenbrachte. Als er die Daten der naravinischen
Adelsfamilien abgefragt hatte, hatte er sich ebenfalls über Status
und Rechte künstlicher Lebensformen in der FGS und den umliegenden
Sternenreichen erkundigt. Die Ergebnisse waren nicht besonders
erfreulich für eine frischaktivierte künstliche Lebensform wie
ihn. Einmal war es gesetzlich vorgeschrieben, daß die
Fähigkeiten von Androiden in der FGS stark beschränkt werden
mußten. Ferner hatten sie den Status einer Sache, eines
Gegenstands! Vielleicht stellte er für Alycia nur ein
hochentwickeltes Spielzeug dar?
"Nun?" Acy hielt inne.
"Ich denke nicht daran, als dein Spielzeug zu fungieren",
erklärte Cayvyn unerwartet. Alycia starrte ihn schockiert und auch
ziemlich verletzt an.
"Wenn du es so siehst!" Sie sprang auf und rannte aus dem
Raum. Cayvyn schaute ihr verständnislos nach.
Acy stürmte wütend in ihr Zimmer und warf sich auf ihr
Bett.
"Holorama ein! Explosive Symphony, 'Crumbling Universe'!"
rief sie, und das entsprechende Holorama wurde aktiviert. Viele Leute
bezeichneten ES als 'unerträglichen Krach', aber Alycia fand das
gerade gespielte Lied im Moment einfach nur passend.
'Nun gut, dann eben nicht!' dachte sie wütend. Wenn dieses
Sammelsurium aus Kunststoffen und sonstigen Materialien meinte,
daß er sich zu gut für sie vorkam - bitte! Sie
würde ihm jedenfalls nicht hinterherrennen! "Lauter - plus
5!" Prompt erdröhnte 'Crumbling Universe' in reichlich
ohrenbetäubender Lautstärke.
Cayvyn hingegen beschloß, diese Reaktion von Alycia als
'typisch menschlich-weibliche Verhaltensform' abzulegen, und sich
später einmal über deren Beweggründe zu informieren.
* * *
Gegenwart
Eniatag, der 3760/01/02 GZ.
Gerade flimmerte der Vorspann von Musikszene Interstellar über
den Holorama-Schirm. Ah! Explosive Symphony waren mit ihrem neusten
Live-Holo dabei. Und Astreyea... Acy legte ihre Füße auf
den Schwebetisch, den sie vor ihren Sessel dirigierte. Das erste
vernünftige Programm heute! Sie beschloß, sich vorerst von
den wilden Synthi-Sinfonien der World Wreckers bedröhnen zu lassen,
während sie ihren Kaffee schlürfte und ziemlich laut und
ziemlich falsch deren neusten Nummer Eins-Hit 'Thundering Worlds'
mitgrölte. Sie war so intensiv damit beschäftigt, daß
sie gar nicht mitbekam, wie Cayvyn das Zimmer betrat. Als dieser seine
Gefährtin hörte, verzog er gestreßt das Gesicht. Die
Musik war ja im Prinzip ganz gut - solange sie nicht von Acy untermalt
wurde... Sie schaffte es meisterhaft, immer genau einen halben Ton
neben der eigentlichen Melodie zu liegen, was - für sich betrachtet
- eigentlich auch schon wieder eine Kunst war. Nur im Zusammenspiel mit
dem Original war es nicht zu ertragen.
"Hallo Karylla!" sagte er, laut genug, um
'Thundering Worlds' zu übertönen. Alycia - jetzt ja Karylla
Noir - drehte sich um und sah Cayvyn sprachlos an.
Sein für die 'Sir Cayvyn'-Rolle elfenbeinerner Teint hatte
einem makellosen Schneeweiß Platz gemacht, und seine Haare
glänzten in strahlendem Silber, wie auch sein Coverall. Aber am
meisten war Acy von seiner neuen Augenfarbe fasziniert. Anstelle von
goldgesprenkeltem Grün leuchteten sie nun in dem herrlichsten
Blauviolett-Ton, den Alycia sich vorstellen konnte.
"Wow!" war alles, was sie herausbrachte. Nachdem
sie ihn eine Weile bewundert hatte, runzelte sie jedoch die Stirn.
"Cay, ich finde dein Outfit absolut grandios - nur, meinst du
nicht, daß es etwas sehr auffällig ist? Es gibt
keine Rasse - weder in der FGS, noch in der DGK, noch in der
Planetenallianz Tamjira, noch sonstwo - die eine solche Haar- und
Hautfarbe hat. Gut, die Bewohner von Naravina und Dvaris haben
metallische Haarfarben, aber deren Varianz reicht nur von Gold bis
Dunkelkupfer oder Metallicschwarz - Aber richtiges
Silber?!"
"Lassen wir den Leuten doch den Spaß, darüber zu
rätseln, wo ich herkomme." Er schaute sie belustigt an.
"Ich komme eben aus den unendlichen Weiten des Universums..."
"Hallo Infinity!" meinte Alycia lachend.
"Weißt du was? Das gefällt mir! Ich beliebe, mich
fürderhin Infinity nennen zu lassen! - Sag mal, wüßtest
du noch einen richtigen Namen, unter dem ich auftreten könnte? Ich
habe derart viele Möglichkeiten zur Auswahl, daß mir eine
Entscheidung schwerfällt..."
"Hm." Alycia überlegte angestrengt, wobei sie ihren
Blick einfach nicht von Cayvyn abwenden konnte. Wenn sie nicht schon
länger unsterblich in ihn verschossen wäre, hätte sie
sich spätestens jetzt hoffnungslos in ihn verknallt. Sie konnte
sich noch gut an den Tag entsinnen, als sie ihn aktiviert hatte...
Moment, dabei fiel ihr ein, daß er doch ursprünglich 'Ryko
-irgendwas- Maiell' hatte heißen sollen... Bis jetzt war ihr
allerdings lediglich 'Sir Cayvyn' passend erschienen - aber nun?
"Was hältst du von 'Ryko Maiell'?" Der Mittelteil
fiel ihr partout nicht mehr ein.
"Einverstanden." Er verbeugte sich galant vor ihr.
"Liebwerte Demoiselle Blackfire, darf ich mich Euch vorstellen?
Ryko Maiell, genannt Infinity!"
Acy erhob sich und stellte sich auf die Sitzfläche des Sessels,
von wo aus sie ihn an sich zog. Ha, so war sie ausnahmsweise mal ein
Stückchen größer als er. Das war ausgleichende
Gerechtigkeit! Ryko-Cayvyn sah sie belustigt an, hob sie mühelos
von sölbigem Sitzmöbel herunter und stellte sie direkt vor
sich auf dem Boden ab, bevor er sie küßte.
'Ts', dachte Alycia. Aber Cay war schon immer etwas eigen
gewesen...
Wenn sie es recht bedachte, lag es auch sehr viel an seiner manchmal
ziemlich unbeugsamen Eigenwilligkeit, daß sie sich so für ihn
zu interessieren begann. Obwohl - ganz zu Anfang war er ihr
häufig derart auf die Nerven gegangen, daß sie mehrfach kurz
davor gestanden hatte, ihn wieder zu demontieren.
* * *
Vergangenheit
Es war Ishnatag, der 49. Zameri 3756 GZ.
Am nächsten Morgen stürmte Acy in ihre Küche und
orderte sich zunächst einen Kaffee bei ihrem
Nahrungsmittelsynthetisizer. Während sie noch genervt auf ihrem
Morgentrunk wartete, trat Cayvyn ein. Als sie ihn erblickte, fluchte
Acy gedanklich. Dieser Androide entsprach so hundertprozentig genau dem
Bild, das sie sich von ihrem Traum-Mann gemacht hatte!
"Hallo", sagte sie unverbindlich bis kühl.
"Gruß Euch, Mademoiselle Alycia", erwiderte Cayvyn.
Acy wünschte sich, er würde sie einfach in die Arme nehmen und
küssen.
"Wann wolltest du nach Naravina fliegen?" erkundigte sie
sich unbeteiligt.
"Wenn du nichts dagegen hast - heute."
"Du kannst meine Raumyacht nehmen. Die Dreamsong
liegt im Hangar der Villa."
"Gut."
"Normalerweise sagt man in einer solchen Situation
'Danke'", bemerkte Alycia spitz. Cay zuckte elegant mit den
Schultern und meinte:
"Danke."
Acy hätte ihn am liebsten erwürgt, besann sich dann aber
doch eines besseren. Wie, bei allem Schriftrollen des
Schicksalsmeisters, sollte man einen Androiden erwürgen?! Es war
einfach frustrierend!
"Ich werde mitkommen, falls du nichts dagegen hast",
meinte sie.
"Und wenn ich etwas dagegen hätte?" fragte
Cayvyn interessiert.
"Dann flieg doch dahin, wo der Pfeffer wächst!"
"Suune III/Tarishaan oder Essara V/Aldrigis?"
"Graaa...!" machte Alycia genervt. Dieser ...Typ
brachte sie noch um den Verstand!
"Hat diese Lautäußerung einen semantischen
Nährwert?" erkundigte sich Cayvyn in einem Tonfall, der nicht
genau erkennen ließ, ob seine Frage ernst gemeint war, oder ob er
sie nur aufziehen wollte. Acy war es ohnehin egal. Sie entriß
dem Nahrungssynthi endlich ihren Kaffee und stapfte zum Eßsalon
nebenan. Der Androide war leicht irritiert und beschloß, sich
einige der Nährstoffe zu ordern, die laut seiner Datenbank für
ihn notwendig waren.
Als Cayvyn das Gebräu in Empfang nahm, changierte es
abenteuerlich türkis und violett. Er betrachtete das Farbspiel
interessiert. Keines der 'normalen' menschlichen Nahrungsmittel hatte
ein nur annähernd vergleichbares Erscheinungsbild. Offensichtlich
würde er sehr aufpassen müssen, wenn er in Gesellschaft seine
Nährstoffe zu sich nehmen wollte. Sicherlich konnte er auch
normale Speisen verwerten, aber diese lieferten bei weitem nicht die
Stoffe in der Kombination, die er benötigte. Er würde
demzufolge unmäßig viel 'normale' Nahrung zu sich nehmen
müssen, um seinen Bedarf an speziellen Substanzen zu decken. Da
zog er doch lieber diese Art von Cocktail vor... Er nahm
seinen Becher und entschloß sich, Alycia Gesellschaft zu leisten,
auch wenn diese zur Zeit keine sonderlich anregende
Gesprächspartnerin war. Er würde sich einmal bei ihr
erkundigen, wie diese faszinierenden menschlichen 'Launen' zustande
kamen.
Acy sah auf, als sich Cayvyn zu ihr setzte. Ihr Blick traf sein
...Getränk, und sie kniff mißtrauisch die Augen zusammen.
"Was soll das darstellen?"
"Dies ist ein Gemisch unterschiedlicher chemischer Substanzen,
die ich benötige, um mein reibungsloses Funktionieren zu
gewährleisten."
"Das Zeug sieht ja gefährlich aus!"
"Mit dieser Bemerkung hast du nicht ganz unrecht. Dieser
'Cocktail' enthält einige Chemikalien, die für dich nicht gut
verträglich sein dürften."
"Das glaube ich unbesehen..." Sie musterte fasziniert das
verwirrende Farbspiel der Flüssigkeit, bevor sie sich lieber ihrem
Kaffee zuwandte. Sie hätte beinahe vergessen, daß sie doch
immer noch wütend auf Cayvyn war...
"Möchtest du denn nach Naravina mitkommen?" wollte
dieser wissen und schaute sie aus seinen grandios goldgesprenkelten,
grünen Augen an.
"Sicherlich!" Es war ungerecht, niederträchtig und
außerdem überaus frustrierend, daß dieser
...Typ (ihr fiel keine sinnigere Bezeichnung ein) einfach so
niedlich aussah! Wie sollte frau ihm ordentlich die Leviten lesen
können, wenn er sie nur so unschuldig anzublicken brauchte, damit
all ihr Ärger sich in Luft auflöste?
"Kommst du dann? Ich wollte eigentlich gleich
losfliegen."
"Könntest du bitte noch einen Moment warten, bis ich
meinen Kaffee ausgetrunken habe? Außerdem muß ich mich noch
richtig anziehen... Ich glaube nicht, daß es sich geziemen
würde, wenn ich auf Naravina in so einem schlabberigen
Freizeitanzug herumrenne..."
Cayvyn überlegte einen Moment, wobei er sämtliche ihm
darüber zugängliche Daten abcheckte.
"Korrekt", stellte er fest. "Weißt du
über die dortige aktuelle Mode Bescheid?"
"Nein, aber ich bin sicher, daß du dich ohnehin nicht
davon abhalten ließest, darüber in entsprechender Weise zu
referieren", seufzte Alycia. Cay grinste sie nur an.
"Ich würde vorschlagen, du gewandest dich in eine
möglichst pompöse Robe im Metallic-Look. Hm, laß
sehen... Was hältst du von Metallicblau?"
"Ich und eine pompöse Robe?! Du beliebst zu scherzen!
Kannst du dir vorstellen, wie ich in so einem Teil aussehe?"
Cayvyn betrachtete sie nachdenklich, wobei er intern einige
Simulationen durchlaufen ließ.
"Ja", sagte er dann.
Acy sah ihn nur sehr gestreßt an.
"Okay. Ich bin in einer halben Stunde fertig. - Was gedenkst
du denn anzuziehen?"
"Ich dachte an einen goldfarbenen Coverall."
"Mhm."
"War das eine eher zustimmende oder eher ablehnende
Äußerung?"
"Hm."
"?"
"Ähm", meinte nun Alycia auf Cayvyns doch etwas
irritierten Blick hin, "ich denke, wir sollten uns langsam
fertigmachen..."
"Akzeptiert", erwiderte dieser, immer noch leicht
verständnislos ob der letzten Zeilen der Unterhaltung. Acy fand,
daß er absolut süß aussah, wenn er so verwirrt guckte.
70 Minuten später begaben sie sich - fertig gestylt - in
Alycias Raumyacht Dreamsong. Acy hatte ihre neongelbe
Mähne wüst auftoupiert und trug eine fließende, lange
Robe aus schimmerndem blautürkis-metallicfarbenen Stoff,
während Cay sich in einen goldfarbenen Coverall mit kurzem
metallicgrünen Cape gehüllt hatte.
Cayvyn sah sich fasziniert im Inneren des schnittigen, kleinen
Raumers um.
"Gehe ich recht in der Annahme, daß Rosarot deine
Lieblingsfarbe ist?" Er deutete auf das ebenso colorierte
Plüschinterieur. Acy verzog das Gesicht.
"Garantiert nicht! Um genau zu sein - ich
hasse Rosa!"
"Das verstehe ich nicht. Warum hast du diese Farbe
ausgewählt, wenn du sie nicht magst?"
"Alles eine Frage des Images..." erläuterte Alycia.
Cayvyn blickte sie lange und äußerst verständnislos an.
"Liegt es an einem Mangel in meiner Programmierung, daß
ich nicht in der Lage bin, deinen Gedankengängen zu folgen?"
wollte er dann wissen.
"Nö. Ich glaube nicht." Sie grinste ihn an.
"Aber ich kann dich beruhigen, es heißt ohnehin, daß
die 'Herren der Schöpfung' in der Regel nicht in der Lage sind, die
Damen derselben gänzlich zu verstehen..." Sie setzte sich in
den Pilotensitz und warf das Antigrav-Triebwerk an, bevor sie die
Schleuse evakuierte und das Außenschott des Hangars der Villa
Alycia öffnete. Elegant schwebte die Raumyacht in den Weltenraum
hinaus. Unter ihnen, etwa 39000 km 'tiefer' befand sich der Planet
Tarishaan und schimmerte in sanft türkis, grün, rotbraun und
weiß.
Cayvyn sah interessiert zu, wie sie die Raumyacht auf Kurs brachte
und checkte seine internen Speicher durch. Doch, er wußte auch,
wie man solch ein Gerät bediente. Er runzelte die Stirn, als er
Acys Flugstil verfolgte. Gut, sie machte nichts falsch, aber er fand,
daß man das Schiff effizienter fliegen konnte.
"Alycia, dürfte ich die Steuerung
übernehmen?" erkundigte er sich schließlich. Sie warf
ihm einen verwunderten Blick zu.
"Warum?"
"Ich möchte deine Fähigkeiten auf diesem Gebiet nicht
kritisieren..."
"Aber?" ergänzte Acy und kniff die Augen
zusammen.
"Deine Navigation läßt ein wenig die Präzision
vermissen..."
"Ach?! Ich bin bis jetzt immer dort hingekommen, wo ich
hinwollte!"
"Das bestreite ich nicht..."
"Gut für dich. Und jetzt..."
"...aber aufgrund der von mir erwähnten Tatsache
mußtest du mehrfach den Kurs korr-"
"Na und?!"
"Wenn du mich fliegen ließest, wäre ich in der Lage,
den Treibstoffverbrauch zu minimieren und dabei gleichzeitig-"
"Cayvyn! - Hast du jemals einen Weltraumspaziergang
ohne Schutzanzug gemacht?"
"Nein. Obwohl ich anmerken möchte, daß ein
kurzfristiger Aufenthalt im Vakuum für mich relativ
ungefährlich-"
"CAYVYN!"
"Aus welchem Grund läßt du mich nicht
ausreden?"
Acy sah ihn unendlich genervt und resignierend an, bevor sie den
Pilotensitz räumte.
"Bitte!" Cay maß sie mit einem irritierten Blick.
"Wieso hast du deine Meinung so rasch geändert? Oder ist
das auch wieder eine 'menschliche Laune'?"
"Grumpf..."
Cay nahm an der Steuerung Platz und korrigierte einige Eingaben
Acys. Ohne sich umzudrehen, meinte er:
"Alycia, das ist mir bereits wiederholt aufgefallen - aus
welchem Grund gibst du hin und wieder undefinierbare
Lautäußerungen von dir, die nicht in meinem internen
Wörterbuch verzeichnet sind?"
"!"
Acy warf ihm einen mehr als nur tödlichen Blick zu und
beschloß gefrusteter Weise, sich etwas zu Essen zu ordern. Am
liebsten etwas Süßes oder so... Wortlos ging sie in die
'Küche' der Dreamsong und bemühte sich, den
Nahrungsmittelsynthetisizer zur Produktion eines Mousse au Chocolat zu
überreden. Cayvyn blickte ihr verständnislos hinterher.
Etwa eine halbe Stunde später kehrte Alycia zurück.
Triumphierend hielt sie eine Schale mit rosafarbener Schokopampe in der
Hand. Es sah zwar nicht ganz so aus, schmeckte aber entschieden wie
Mousse au Chocolat. Gar nicht so schlecht für ein Produkt eines
Nahrungssynthis von MacGalax...
"Nun?" erkundigte sie sich kurzangebunden. "Um
wieviel sind wir schneller da, wenn du fliegst?"
"Eine Stunde, 46 Minuten und 72 Sekunden."
"Toll..." machte sie ironisch, während sie aber im
Geheimen bewundernd überlegte, wie er das wohl machte.
"Alycia, wenn du nichts dagegen hast, möchte ich mir die
Dreamsong einmal in aller Ruhe ansehen, wenn wir wieder von
Naravina zurückgekehrt sind. Das Raumschiff bringt lange nicht die
Leistung, die ihm möglich wäre..."
"Ach, und du bist in der Lage, daran etwas zu
ändern?"
"Selbstverständlich."
"Warum frage ich überhaupt..." seufzte Acy.
Cayvyn warf ihr erneut seinen 'Das verstehe ich nicht'-Blick zu.
"In der Tat", meinte er verwundert. "Warum fragst
du, wenn du nicht weißt, weshalb du eigentlich
fragst?"
"Das war rhetorisch gemeint!" Sie unterstrich ihre Antwort
mit einer abrupten Geste. Jeih, jetzt hätte sie beinahe ihre
Schokocrème-Schale auf den Boden katapultiert. Allerdings war
Cayvyn schneller gewesen und hatte das Teil aufgefangen - sogar ohne
etwas zu verkleckern! Seine Bewegung war so rasch abgelaufen, daß
Acy es gar nicht richtig mitbekommen hatte.
"Voici, Mademoiselle", meinte er und drückte ihr das
Teil wieder in die Hand.
"Hä...?! - Äh, danke... Wie hast du denn
das geschafft?"
"Meine Reflexe sind besser als die eines Menschen", sagte
er lakonisch.
"Du beliebst zu untertreiben..." Alycia war immer noch
ziemlich fassungslos, als Cayvyn sich vorbeugte und kritisch die
rosafarbene Schokocrème inspizierte.
"Pardon, Mademoiselle, ist diese Speise aus demselben Grund
rosa wie das Interieur dieses Raumgefährts?"
"Jee - nein! Ich habe einen
Nahrungsmittelsynthetisizer von MacGalax!"
Jedem Normalsterblichen würde das alles sagen. Die
Synthis von MacGalax waren berüchtigt. Allerdings waren diese in
der Regel die Platzsparendsten aller vergleichbaren Geräte und
wurden deshalb in fast alle Raumschiffe eingebaut.
"Ist das ein Grund?"
"Ja!"
"Würde es dir etwas ausmachen, mir diesen Zusammenhang zu
erläutern?"
"Egal, wie man es anstellt, die Teile produzieren
immer etwas anderes, als man ihnen eingibt!"
"Faszinierend. Und warum hat da noch niemand Abhilfe
geschaffen?"
"Du kannst es versuchen. Wenn du das schaffst, hast
du für den Rest deines Lebens ausgesorgt... MacGalax hat schon
Hundertschaften von Technikern darangesetzt, aber sämtlichst ohne
Ergebnis. Böse Zungen behaupten, das muß mit dem Namen
zusammenhängen..."
"Alycia, ich kann deinem letzten Gedankengang nicht ganz
folgen."
"Vergiß es!"
"Du meinst, ich soll den Kommentar aus meinen Speichern
löschen?"
"Nein! - Damit meine ich, daß eine
Erläuterung die Pointe termininiert."
"Was für eine Pointe?"
"Genau die..."
"?"
"Vergiß es..." Acy grinste ihn an und warf einen
Blick auf den Hauptmonitor. "Wie weit ist es noch bis
Naravina?"
"12.55 Parsec."
"Mhm. Also - inklusive Landung etc. etwa 6 Stunden..."
"6 Stunden 13 Minuten 89 Sekunden."
"Seufz", machte Alycia nur und sah ihn leidend an. Jetzt
könnte er sie doch zur Abwechslung mal tröstend in die Arme
nehmen...! Cayvyn runzelte zunächst die Stirn ob dieser
Äußerung, dachte einen Augenblick nach, dann erhellte sich
seine Miene. Ihm war endlich eine Lösung für sein Problem
eingefallen.
"Alycia..."
"Ja?" Sie blickte ihn schmachtend an. Würde er
endlich etwas unternehmen?
"Könntest du mir bitte einmal sämtliche deiner
undefinierten Lautäußerungen mit Erklärung
auflisten?"
Graaa! Acy musterte ihn kritisch. Sie wollte ihn schnetzeln, in
siedendem Öl frittieren und anschließend durch den Wolf
drehen! Obwohl... Vermutlich würden die von ihr verwendeten
Gerätschaften vor Cayvyn den Geist aufgeben...
"Hmpf!" machte sie, was ihr wieder einen irritierten Blick
von Cay eintrug. Alycia fragte sich ernsthaft, was sie nun die
nächsten sechs Stunden anfangen sollte. Normalerweise würde
sie in ihre Kabine gehen und sich ein, zwei Holoramas reinziehen - aber
irgendwie hatte sie den unguten Eindruck, daß Cayvyn das
nicht zulassen würde. Er käme bestimmt alle fünf Minuten
hereingeplatzt und wollte etwas wissen! Nicht daß sie etwas
dagegen hätte, in seiner Gesellschaft zu sein - wenn er sich doch
dabei nur etwas um sie kümmern würde! Es war schon
tragisch.
"Sag mal, Cay, hast du schon eine Idee, wie die ganze
Angelegenheit auf Naravina ablaufen soll?"
"Ja. Ich habe größere Mengen Literatur auf
entsprechende Situationen hin untersucht. Ich werde zu Lady Aylanna und
Sir Yngwayn gehen und ihnen verkünden, daß ihr verlorener
Sohn zurückgekehrt ist. Fürderhin werde ich ihnen mitteilen,
daß ich der vollbiologischen Gemüsezucht
überdrüssig geworden sei und nunmehr mein weiteres Leben als
Abenteurer zu fristen gedenke..."
"Aha." Cayvyn schaute sie besorgt an.
"Gefällt dir diese Story nicht? Hältst du sie
für unglaubwürdig?"
"Hm. Im Prinzip vielleicht nicht unbedingt - aber
Abenteurer...?"
"Das ist meines Erachtens die sinnvollste Entschuldigung
dafür, daß ich nicht vorhabe, den Rest meiner Tage auf
Naravina zu verbringen."
"Mhm. Wenn du meinst..." sagte Alycia zweifelnd.
"Und was soll ich eigentlich auf Naravina machen?"
Irgendwie hatte sie keine Idee, warum sie überhaupt
mitgeflogen war. Vermutlich einfach aus Prinzip...
"Warum wolltest du mitfliegen, wenn du nicht
weißt, was du dort anfangen sollst?" wollte Cayvyn
interessiert wissen. Acy durchbohrte ihn mit einem ärgerlichen
Blick.
"Die Dreamsong ist immer noch mein
Raumschiff, und glaube nur nicht, daß ich das Teil einfach so an
jeden dahergelaufenen Freak verleihe!" Puh, war ihr doch noch eine
Begründung eingefallen! Sie würde diesem ...Typen
doch nicht sagen, daß sie nur deshalb mitkam, weil sie ihn
ausnehmend niedlich fand. Nicht nach dem, was er ihr gestern an den
Kopf geworfen hatte...
"Hältst du mich etwa für einen 'dahergelaufenen
Freak'?" Cay sah sie leicht verletzt an. Acy musterte ihn von oben
bis unten.
"Hm. Wenn ich es recht betrachte... Nicht ganz."
"?"
"Freak - ja, hergelaufen - nein", meinte sie grinsend.
"?!"
"Vergiß es!" Sie seufzte herzerweichend. Was sollte
man - äh, frau - nur mit ihm anfangen?! Er nervte sie.
Er nervte sie kolossal! Vor allem, weil sie das untrügliche
Gefühl hatte, daß er sich dümmer stellte als er war.
Das machte er bestimmt nur, um sie zu ärgern! Am liebsten
würde sie ihn... - aber Erwürgen war immer noch
nicht drin. Vielleicht hätte sie ihn doch anders konstruieren
sollen.
"Hast du etwas?" erkundigte sich Cayvyn,
äußerst scheinheilig, wie Acy meinte.
"Nein!"
"Dies zu hören erfreut mich ungemein."
"!" Gleich war es soweit! Wo war ihr Werkzeug? Obwohl...
Wenn sie ihn so ansah - nein, sie würde es wohl doch nicht
übers Herz bringen. Seufz! Noch immer fast sechs Stunden bis
Naravina... Wie sollte sie das nur überstehen?
"Cay, ich werde mich jetzt in meine Kabine zurückziehen.
Du überwachst den Kurs!" Das war zwar tödlich langweilig,
weil man eh nichts dabei zu tun hatte, aber wenigstens hätte sie so
ihre Ruhe. Hoffentlich.
"Alycia, aus welchem Grund soll ich den Kurs überwachen?
Dieser ist fest programmiert, und-"
Mist, er hatte es bemerkt...
"Cayvyn, sei so lieb - tu's!"
"?" Er überlegte einen Moment, dann setzte er seine
beste Schmollmiene auf. "Du willst mich also loswerden."
"Hm..." Naja, ganz so war es ja auch wieder nicht
gemeint. Aber das würde sie ihm doch lieber nicht sagen.
Außerdem war sie immer noch sauer, ermahnte sie sich. Also
düste sie von hinnen und ließ einen schmollenden Androiden
zurück.
* * *
Gegenwart
Eniatag, der 3760/01/02 GZ.
"So, Kary, was hast du jetzt vor?" wollte Ryko
wissen. Unvermutet verdüsterte sich ihr Gesicht.
"Morgen werde ich das Versprechen einlösen, das ich mir
vor sechzehn Jahren gegeben habe..."
"Vor sechzehn Jahren?! Das heißt, damals warst du gerade
zwölf Jahre alt. - Naja, beinahe", fügte er hinzu, als
er ihre hochgezogene Augenbraue sah.
"Richtig. Du kennst meinen Lebenslauf in groben Zügen -
daß meine Mutter Marycia Enylla Khyshisall eine Illusionistin in
den Varietés von Enaryshavell war, et cetera... Ferner sollte
dir bekannt sein, daß ein Mann namens Chenary Tharulla Ondavall
mich und meine Mutter fast acht Monate lang gefangenhielt, wobei er
Marycia in seinen ...Harem steckte. Nachdem wir entkamen, exakt vor
sechzehn Jahren, lieferte meine Mutter mich noch bei ihrer Schwester ab,
bevor sie in den Alten Tempel der Dunklen Mutter der verlorenen
Schriftrolle ging und den rituellen Selbstmord der Rhianna-Priesterinnen
begang, da sie von einem Mann erniedrigt wurde... - Hast du jemals
Daten über die Priesterkaste von Emrhiann gelesen?"
"Nein."
"Gut, ich glaube, dann muß ich dir ein paar Sachen
erklären. Auf Enaryshavell gab es in der alten Zeit verschiedene
PSI-Talente, die in mehreren Priesterkasten bewahrt wurden. Heutzutage
sind sie fast ausgestorben. Meine Mutter war eine 'Voll-Tochter' der
Rhianna-Kaste, das heißt, sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter
gehörten dieser an. - Ich bin eine sogenannte
'Halb-Tochter'. - Marycia beherrschte damit auch das Talent der
Rhianna-Priester, die sogenannte Teletransfer-Fähigkeit, die
bedeutet, daß man Gegenstände in Sichtweite ohne
Berührung zu einem anderen Ort in Sichtweite transferieren kann.
Oder auch von einem Ort, den man sehr genau kennt..."
"Besitzt du diese Fähigkeit auch?"
"Ja, aber bei weitem nicht in dem Umfang wie zum Beispiel meine
Mutter sie besaß... Und vor allem nur minimal ausgebildet.
Eigentlich sollte ich - wie viele Mischlinge der Kaste - mit meinem 15.
Lebensjahr die traditionelle Aufnahmeprüfung, den 'Test der
Würdigkeit', nach dem man in die geheimen Rituale etc. der Kaste
eingeweiht wird, in die Priesterschaft machen. Aber es hat sich ja
anders ergeben... - Hm. Für ein paar Zaubertricks im
Varieté reichte es voll und ganz aus, aber es strengt mich
ziemlich an. Naja, weiter... Diese ganzen alten Priesterkasten haben
einen extremen Ehrenkodex, dem sich auch meine Mutter beugte."
Alycia schaute in weite Fernen, und in ihrem Blick konnte man die
Fassungslosigkeit erkennen, die sie auch verspürt hatte, als Nanya
Ylissa ihr erklärte, daß Marycia zur Dunklen Mutter heimging
und nie wieder zurückkehren würde. Sie hatte zwar
Gerüchte über den rituellen Selbstmord der Rhianna-Kaste
gehört, es aber nicht glauben können, daß deren
Angehörige sich in einem solchen Fall mit ihrem PSI-Talent das Herz
aus dem Körper herausteletransferierten und sich so der Dunklen
Mutter anheimgaben. "Und damals habe ich geschworen, daß
Ondavall dafür bezahlen würde!" Sie sah Ryko mit
flammenden Augen an.
"Scht", machte dieser und hielt sie einfach fest. Karylla
schmiegte sich trostsuchend an ihn.
Zu jener Zeit war es auch gewesen, da sie Firestar zu ihrem Idol
auserkoren hatte. Damals wußte sie noch nicht, daß er ihr
Vater war. Sie bewunderte diesen unerschrockenen Vorkämpfer gegen
Ungerechtigkeit und Korruption, der sich stets elegant über alle
Konventionen und Gesetze hinwegsetzte.
* * *
Vergangenheit
Es war Ishnatag, der 29. Saperi 3746GZ, und gerade hatten die
allgemeinen Schulferien auf dem Planeten Solse IV/Enaryshavell begonnen.
Alycia Cherylla Khyshisall befand sich in der zentralen Bibliothek
von Zalecia, einer Großstadt auf Enaryshavell und fand die Idee,
erst einmal wieder 5 Wochen nicht zur Schule zu müssen,
überaus angenehm.
Das vierzehnjährige Mädchen stellte sich auf die
Zehenspitzen, um an das oberste Regal zu kommen, wo die Kästchen
mit den für sie interessanten Speicherkristallen standen. Endlich
hatte sie den richtigen Behälter gefunden, dessen Etikett besagte,
daß es sich um Die Wahren Geschichten über FIRESTAR
handelte, den modernen Helden der Anfangsjahre des 38. Jahrhunderts in
der Freien Galaktischen Sternenrepublik.
Alycia Cherylla war zutiefst beeindruckt von diesem Mann, der schon
zu Lebzeiten eine Legende war und der sich stets für die Rechte der
Schwachen und Unterdrückten eingesetzt hatte, auch wenn ihn das zu
einem Verbrecher in den Augen des Gesetzes gemacht hatte.
Sie nahm den Speicherkristall an sich und steckte ihn in eines der
Lesegeräte, die in abgeschlossenen Nischen untergebracht waren,
damit sie ungestört entweder lesen oder auch eine Folienkopie
ziehen konnte. Dann gab sie den Befehl ein, um einen Ausdruck zu
erhalten. Sie hatte schon sämtliche anderen Werke über
Firestar zu Hause stehen, und dieses war das Neuste.
Viele Geheimnisse rankten sich um Leben und Tod Tyron Stars, wie
sein richtiger Name lautete. Wann er geboren war, wußte niemand,
und als er im Jahre 3727GZ verschwand, waren sich alle Leute sicher,
daß er nicht einfach gestorben sein konnte.
Das Mädchen wartete geduldig, bis ihr Ausdruck fertig war. 325
Seiten - Tante Ylissa würde ärgerlich werden, wenn sie
schon wieder eine Solido-Kopie bezahlen durfte. Aber seit ihre
Mutter sich vor fast drei Jahren das Leben nahm, weil ihr Chenary
Tharulla Ondavall Gesicht und Ehre geraubt hatte, dachte Alycia nur noch
daran, wie sie dieses Verbrechen rächen konnte. Wäre Firestar
noch am Leben - sie wüßte genau, daß er ihr gegen
Ondavall geholfen hätte. Aber auch so hatte sie sich geschworen,
daß Ondavall seiner gerechten Strafe nicht entgehen würde.
Ein Blick auf die Uhr - Himmel, schon 9 Uhr 89! Dabei hatte sie
ihrer Tante versprochen, pünktlich um Mittag zu Hause zu sein. Sie
müßte sich beeilen, wenn sie in elf Minuten Ylissas Haus
erreichen wollte.
Alycia Cherylla stellte den Kristall wieder in das Regal zurück
und rannte aus der Bibliothek. Die Kosten für die Solido-Kopie
würden automatisch von Nanya Ylissa Shintesalls Konto abgebucht
werden. Schnell hoch zur nächsten Gleiterbus-Station - ah, Linie
44/386 kam gerade in die Wartezone eingeflogen! - und an der Station
Rue Emerancia raus, dann das nächste Transportband Richtung
Zalecia-Nordpark, vor der Kreuzung Anolla herunterspringen, Gleiterbus
Linie 44/357 nehmen, und an der Station Rue Emavilla war sie dann
praktisch zu Hause. Leider hatte die 44/357 wieder einmal über 25
Minuten Verspätung. Das würde Ärger geben.
Ihre Tante stand im Vorgarten und pflanzte ein paar neue
Fearilla-Blumen ein, schlanke, fast zwei Meter hohe Gewächse mit
tiefvioletten Kelchblüten.
"Alycia Cherylla!" wurde das Mädchen streng
begrüßt. "Du bist eine Viertelstunde zu
spät!"
"Guten Tag, Tante Ylissa. Es tut mir leid... Der Gleiterbus
hatte Verspätung..."
"Komm mir nicht immer mit diesen billigen Entschuldigungen,
Kind. Dann hättest du eben früher aus der Bibliothek gehen
müssen."
"Es tut mir leid, Tante Ylissa..."
"Dafür hilfst du mir jetzt eben im Garten die Fearillas
einsetzen. Ich habe noch ein paar Heilkräuter besorgt, die ich
aussäen muß, und da wäre es mir lieb, wenn ich mich
nicht auch noch um die Blumen kümmern muß."
"Ooch, Tantchen... Carmelicia Annila Eldevall wollte heute
nachmittag vorbeikommen. Und wenn ich hier..."
"Keine Diskussionen, Alycia Cherylla. Wenn du dich beeilst,
bist du fertig, bevor deine Freundin hier erscheint."
"Okay, Tante Ylissa..."
* * *
Sie hatte sich schon beinahe damit abgefunden, daß ihr weiteres
Leben in absoluter Ödnis vonstatten gehen würde und sie
niemals eine Chance bekäme, ihren Schwur einzulösen.
Doch dann geschah etwas Unerwartetes...
* * *
Vergangenheit
Am 24. Vembari 3746GZ, also genau 5 Tage vor Ende der Großen
Ferien, lag Alycia auf einer Schwebematte, die von einem Antigravpolster
50cm über dem Boden festgehalten wurde, im Schatten eines
gewaltigen Kerassu-Baumes, der in einer Ecke des Gartens stand, als ihre
Tante den Kopf aus dem Fenster steckte.
"Alycia Cherylla!"
"Ja, Tante Ylissa?"
"Kommst du bitte einmal her? Hier ist jemand, der dich
sprechen möchte."
"Jemand, der mich sprechen will?" Alycia hüpfte von
der Schwebematte. Sie hatte nur eine knallbunte Tunika an, und ihre
taillenlangen, weißblonden Haare waren zu einem eigenwilligen
...Knoten aufgesteckt.
Barfuß und ungeachtet aller Bekleidungsnormen düste sie
ins Haus.
"Hi! Da bin ich", verkündete sie fröhlich. Der
Mann in dem feierlich schwarzen Anzug musterte sie indigniert.
"Du bist Alycia Cherylla Khyshisall?"
"Yep!" Ein paar riesiger, graublauer Augen strahlten dem
Mann entgegen.
"Ich bin Norman Allyson, der Anwalt von Jeremy Blade..."
"Aha?" Alycia runzelte die Stirn. "Ich habe nichts
getan", versicherte sie dann eiligst ihrer Tante.
"Nein, keine Sorge, Mademoiselle Alycia. Hat Ihre Mutter Ihnen
von Ihrem Vater erzählt?"
"Hm. Nicht viel. Sie sagte nur, er wäre sehr nett und
gutaussehend gewesen... Sie hat mir nicht einmal gesagt, wie er
hieß." Alycia schob schmollend die Unterlippe vor.
"Auch wenn Sie ihn nicht kannten, Mademoiselle, obliegt mir die
schmerzliche Pflicht, Sie von seinem Ableben in Kenntnis zu
setzen."
"Was? Er ist tot?" Alycia sah Allyson traurig an.
"Schade. Ich hätte ihn wirklich gerne einmal kennengelernt.
Naja..." Sie wandte sich ab, um wieder in den Garten zu gehen.
"Mademoiselle Alycia! Warten Sie, wo wollen Sie hin?"
"Nach draußen. - Wieso? Ist noch etwas?"
"Aber Mademoiselle! Ihr Vater war sehr reich..."
"Aber jetzt ist er doch tot."
"Er hat Sie in seinem Testament bedacht."
"Und?"
Der Anwalt runzelte die Stirn. Diesem ...Wesen hatte
Jeremy Blade immerhin 10% seines Vermögens und seine
unschätzbare, weil in der ganzen FGS einmalige Orbitalvilla
vermacht? Unbegreiflich!
"Mademoiselle Alycia, Ihr Vater hat Ihnen ein
Vermögen hinterlassen!"
"Toll", meinte Acy nur. "Und wo liegt der
Haken?" Sie sah den Mann mißtrauisch an.
"Es gibt keinen Haken!" Langsam wurde Norman Allyson doch
etwas ungehalten. Dieses ...Balg war eine absolute Katastrophe!
"Ihr Vater hat in seinem Testament bestimmt, daß Sie das
Tyron Star Memorial Internat besuchen sollen, wo sie eine umfassende
Ausbildung erhalten werden..."
"Und ich werde wohl gar nicht erst gefragt?!" Alycia sah
ihn herausfordernd an. "Was ist, wenn ich das gar nicht
will?"
"Mademoiselle Alycia..." Norman nahm seine letzten Reste
Geduld & Anstand zusammen. Er hatte seine Instruktionen, und die
mußte er ausführen, sonst würde er gewaltige Probleme
bekommen.
"Alycia Cherylla!" sagte nun ihre Tante. "Du wirst
tun, was der Mann dir sagt! - Denk dran, er meint es doch nur
gut..."
"So...?" Acy überlegte einen Moment. "Na gut.
Aber wenn es mir nicht gefällt, haue ich ab!"
Norman war erleichtert. Alycia würde also offenbar ohne
Androhung von Gewalt mitkommen. Und um das Weitere würde sich die
Internatsleiterin kümmern dürfen...
Es war Siskatag, der 41. Enuari 3747GZ, und Alycia feierte ihren 15.
Geburtstag.
Am Morgen gegen 05:50 Uhr, nachdem sie wie üblich mit den
anderen Internatszöglingen gefrühstückt hatte, rief
Direktorin Kiyara Elldis sie zu sich. Stirnrunzelnd folgte Acy der
Aufforderung. Sie war sich ausnahmsweise einmal keiner Schuld
bewußt.
Im Büro der Internatsleiterin saß Norman Allyson, der
Anwalt ihres Vaters. Er erhob sich höflich und machte eine knappe
Verbeugung, ohne sich im mindesten anmerken zu lassen, wie sehr er ob
Acys aktuellem Outfit geschockt war. Neongrün und neongelb
changierende Zöpfchen, ein schneeweiß/neongelb geringeltes
Minikleid mit einem bestimmt 15cm breiten, neongrünen Gürtel,
sowie ebenso colorierte Strümpfe dazu... Er schluckte dezent.
(Acy hatte ein kleines Problem mit der Haarfarbe bekommen - nach
einigen Malen des Durchkämmens ihrer wüsten Mähne waren
aus vormals ordentlichen grünen Streifen extravagante
Strähnchen geworden, die ihr ein wahrlich desaströses Coleur
verliehen...)
"Ich wünsche Ihnen ein glückliches neues Lebensjahr,
Mademoiselle Blade", begrüßte er sie.
"Vielen Dank, Monsieur Allyson", erwiderte Alycia
freundlich und fragte sich gespannt, was der Anwalt wohl von ihr wollte.
Norman legte seinen Aktenkoffer auf dem Schreibtisch von Madame
Elldis ab und tippte eine umfangreiche Codekombination in das Sensorfeld
des Schlosses. Der Deckel sprang auf, und neben diversem Schreibfolien
kam ein etwa 30cm x 25cm x 15cm großer, mattsilberner Kasten zum
Vorschein, der einen Großteil der Aktentasche ausgefüllt
hatte.
"Ihr Vater hat mich kurz vor seinem Tod darum gebeten, Ihnen
das zu Ihrem nächsten Geburtstag zu überreichen. Die darin
enthaltenen Materialien sind streng vertraulich. - Madame Elldis,
würden Sie bitte die Freundlichkeit besitzen, Mademoiselle Blade
einen Raum zuzuweisen, in dem sie sich dem Inhalt jener Kassette in
aller Ruhe und ungestört widmen kann?"
"Aber - Monsieur Allyson! Das widerspricht allen
Grundsätzen dieser Schule..." empörte sich die
Direktorin.
"Meine Dame, ich glaube, ich muß Sie nicht darauf
hinweisen, daß diese Schule vom Vater von Mademoiselle Blade
gestiftet wurde..."
"Oh, äh, natürlich nicht!" machte
Kiyara Elldis eingeschüchtert und beschloß, doch lieber klein
beizugeben.
"Also?" Allyson sah die Direktorin gleichmütig an,
während diese hurtig aufsprang, um Alycia und den Anwalt in eine
entsprechende Räumlichkeit führte.
"Sie mögen sich entfernen", wies Allyson Kiyara
Elldis an, nachdem er den geheimnisvollen Kasten auf den einzigen Tisch
in dem Zimmer stellte. Bis auf diesen und einige Sessel war der Raum
vollkommen leer, wenn man von den geschmackvollen (Acy war allerdings
anderer Ansicht) Bildern an den Wänden absah.
"Aber... Ich kann Sie - einen fremden Mann! - doch
nicht mit einer meiner Schülerinnen alleinlassen..."
protestierte die Internatsleiterin schwach.
"Seien Sie unbesorgt, Madame, ich werde Mademoiselle Blade
leglich das Password für die Cassette übergeben, und sie dann
sich selbst überlassen. Haben Sie die Codekarte für das
Türschloß?"
Widerstrebend übergab Madame Elldis ihm die Codekarte, bevor
sie den Raum verließ. Allyson zückte ein kleines Gerät
aus der Tasche und überprüfte den Raum sorgfältig. Gut.
Keine etwaigen versteckten Mikrofone oder ähnliches. Er steckte
den Scanner wieder ein.
"Mademoiselle Blade", wandte er sich nun an das
Mädchen. "Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß der
Inhalt dieser Cassette unter allen Umständen der höchsten
Geheimhaltungsstufe untersteht. Sollte jemand versuchen, sie gewaltsam
zu öffnen, würde der gesamte Inhalt unweigerlich
zerstört. Das Password für das Schloß ist
fIrES_tAr-Ts3746."
Er buchstabierte sorgfältig die korrekte Groß- und
Kleinschreibung, bevor er Alycia die Schlüsselkarte für diesen
Raum übergab und hinausging. Hinter ihm schloß Acy die
Tür ab.
Dann betrachtete sie den mattsilbernen Kasten nachdenklich, bevor
sie den Code, den ihr Norman Allyson genannt hatte, in das Sensorfeld
eintippte.
Der Deckel klappte auf und entpuppte sich als Monitor, während
im Unterteil ein kompaktes Lesegerät für die Dutzende von
Speicherkristallen steckte, die sich säuberlich aufgereiht
ebenfalls dort befanden.
Ein Kristall war als Nr.1 markiert, und Acy legte ihn sogleich in
die Abtastöffnung.
Der Bildschirm wurde feuerrot, bevor ein goldstrahlender Stern in
der Mitte der flammenfarbenen Fläche aufleuchtete. Alycia hielt
den Atem an. Firestars Symbol! Was hatte das zu bedeuten?
Das flammende Zeichen erlosch und machte dem Konterfei eines
scheinbar alterslosen Mannes Platz. Er hatte kupferfarbene Haare und
ein markantes Gesicht, das von intensiven, eisblauen Augen beherrscht
wurde. Im Hintergrund konnte Alycia ein extensives Arsenal an Computern
und anderem technischen Gerät ausmachen.
"Ich grüße dich, meine Tochter", begann
Firestar.
Acys Kinnlade klappte herunter, und sie machte ein nicht gerade
intelligentes Gesicht.
Wie bitte? Okay, okay, Allyson hatte ihr vor nunmehr fast 7
Wochen eröffnet, daß sie ein Sprößling des
letzthin verblichenen Jeremy Blade war, der vor geraumer Zeit ein
Techtelmechtel mit ihrer Mutter gehabt hatte, dessen Resultat
sie darstellte (an dieses Faktum hatte sie sich mittlerweile
gewöhnt) - aber was, bitte, hieß denn nun das schon
wieder? Irgendjemand mußte ihr versehentlich diese
Kristalle gegeben haben, dessen war sie sich sicher.
Firestar fuhr ungerührt fort.
"Bitte erwarte von mir keine Entschuldigungen, daß ich
mich nie bei dir gemeldet habe, aber das war bei meinem ohnehin
überfüllten Terminkalender schlecht möglich." Sein
Gesicht verzog sich zu einem ironischen Lächeln. "Nun
mußtest du also bis zu meinem Tod warten, um mich
kennenzulernen... Naja, tut mir leid. Vermutlich bist du jetzt etwas
verwirrt, da Norman Allyson dir erzählt haben dürfte,
daß Jeremy Blade dein Vater war..." Er setzte ein
jungenhaftes Grinsen auf, und Alycia nickte unbewußt. "Ich
verrate dir etwas, meine Tochter: beide Aussagen sind korrekt,
und zwar aus dem einfachen Grund, daß Jeremy Blade und Tyron Star
ein und dieselbe Person sind."
Acy tippte auf die PAUSE-Taste und ließ sich erst einmal in
den nächstbesten Sessel fallen. Dieser Schuft! Von klein auf war
sie bestimmt der größte Fan, den Firestar jemals gehabt
hatte, und dann war er a) ihr Vater und b) hatte er sich nie bei ihr
gemeldet! Das war doch wohl die niederträchtigste Gemeinheit
schlechthin!
Sie schob schmollend die Unterlippe vor und ließ die
Aufzeichnung weiterlaufen.
"Als du noch kleiner warst, bin ich einige Male nach
Enaryshavell gekommen, um zu sehen, wie es dir und Marycia erging.
Leider hatte ich nie die Muße, länger als zu einer kleinen
Stippvisite zu bleiben. Deine Mutter und ich haben beschlossen,
daß es besser für dich wäre, wenn du mich gar nicht als
Vater kennenlernen würdest, denn wir befanden, daß ein Vater,
der nur ein oder zweimal im Jahr zwei oder drei Tage da wäre, mehr
schaden als nützen würde."
Firestar lächelte entschuldigend. "Jetzt habe ich mich
doch noch ob meiner permanenten Abwesenheit rechtfertigt." Er
zuckte mit den Achseln. "Naja, vielleicht war ich dir das doch
schuldig. Jetzt wirst du sicherlich fragen wollen, warum ich nichts
unternommen habe, als Chenary Ondavall dich und Marycia gefangengehalten
hat... - Alycia, ich habe erst von dieser Sache erfahren, als es schon
zu spät war. Und warum ich Ondavall nicht zur Rechenschaft gezogen
habe...? Nun, wenn du meine Tochter bist, dann wirst du keine
Ruhe haben, ehe du diese Angelegenheit nicht selbst bereinigt
hast."
Firestars Blick kam mit einer derartigen Intensität über
den Monitor, daß Acy glaubte, er würde ihr wahrhaftig
lebendig gegenübersitzen. "Ich habe dich genaustens
beobachtet, wenn ich auf deinem Heimatplaneten war, und ich fand,
daß du einmal eine würdige Nachfolgerin für mich werden
könntest. Falls du dich dafür entscheiden solltest - was ich,
ehrlich gesagt, hoffe - habe ich dir in jenem Kästchen, das du
gerade vor dir hast, eine solide Grundlage für alle künftigen
Unternehmungen deinerseits hinterlassen. Die Speicherkristalle
beinhalten meine kompletten Forschungsunterlagen auf den Gebieten der
Computertechnologie, Transmit-Systeme, Synthomaterialien und noch einige
Dinge mehr..." Er grinste breit. "Es gibt Leute, die
behaupten, ich wäre überproduktiv..."
Firestar breitete die Arme aus. "Wie dem auch sei, ich habe
angeordnet, daß du erst einmal eine vernünftige Ausbildung
bekommst. Ich weiß, daß du ein Varieté-Kind bist und
daher eine gewisse Abneigung gegen die Schule hegst, aber ich habe Percy
Anderson, einen guten Freund von mir, bis auf weiteres zu deinem Vormund
bestimmt, und er wird dafür Sorge tragen, daß du eine
ordentliche Ausbildungsstätte besuchst. - Keine
Diskussionen!"
Acy sah verdutzt auf den Monitor. Sie hatte für einen Moment
beinahe vergessen, daß es sich nur um eine Aufzeichnung handelte.
Offenbar hatte Firestar ihre Reaktionen exakt vorausgeahnt, sonst
wäre sein Timing nicht so perfekt gewesen. Tsayée!
"Trotz deiner bislang eher unzureichenden wissenschaftlichen
Ausbildung scheinst du von meinen Kindern dasjenige zu sein, das das
meiste Technologie-Verständnis mitbringt. Deshalb habe ich
beschlossen, dir meine Forschungsunterlagen zu vermachen. Der
andere Teil meines wissenschaftlichen Erbes geht an eins deiner diversen
Geschwister. - Schade, daß ich nicht mehr mit ansehen kann, was
ihr aus meinem Vermächtnis macht! Es hätte mich doch
interessiert, ob ihr beide euch tatsächlich so unterschiedlich
entwickelt, wie ich es vermute..."
Firestar lächelte sinnend. Als er diese Aufzeichnung gemacht
hatte, war er sich sicher gewesen, daß seine beiden Töchter,
denen er jeweils eine Hälfte seiner technologischen
Hinterlassenschaften vermacht hatte, sich in absehbarar Zeit als die
härtesten Konkurrentinnen gegenüberstehen würden.
Nardia, die jüngere der zwei, würde unzweifelhaft den Weg von
Recht und Ordnung einschlagen. Sie würde bestimmt gut in die ISPC
passen, befand Firestar. Während Alycia... Er dachte an den
ungebärdigen Wildfang, der auf der Bühne akrobatische
Kunststücke vollführt hatte und mit den gerade gelernten
Illusionisten-Tricks hin und wieder Typen, die sie nicht mochte, die
Brieftasche oder sonstige Wertgegenstände entwendet hatte. Acy
würde sicherlich in seine, Firestars, Fußstapfen treten, und
der Gerechtigkeit auf ihre Art&Weise zum Zuge verhelfen.
Auch wenn das Gesetz dabei hin und wieder auf dar Strecke bleiben
mochte...
Alycia zog eine Schnute. Firestars Vermächtnis schön und
gut... Aber das hieß noch lange nicht, daß sie von diesem
Internat begeistert sein mußte. Die meisten der Mädchen
waren dumme Puten, und die Jungs wirkten auch nicht besser. Naja, die
eine oder andere Ausnahme gab es, befand sie nach kurzer
Überlegung. Sie nahm die Kiste mit Monitor, Abspielgerät und
Kristallen vom Tisch, stellte das Teil auf ihren Schoß und legte
nunmehr ihre Füße auf der Tischplatte ab. Ein Glück,
daß die Internatsleiterin derzeit nicht dieses Zimmer betreten
durfte...
Wenn Kiyara Elldis sie so erwischte, würde es höllischen
Ärger geben. 'Eine vornehme junge Dame legt nicht ihre
Füße auf den Tisch', hatte Elldis sie schon wiederholt
heruntergeputzt. Nicht daß Alycia dies gestört hätte -
nur die ganzen Strafarbeiten waren doch ziemlich nervtötend. Vor
allem weil sie Übersetzungen aus dieser schon seit Urzeiten
mausetoten Sprache Althochtarishana nicht ausstehen konnte...
Hm. Es wäre doch einmal ein interessantes Projekt, diesem
alten Drachen diese alberne goldblonde Perücke vom Kopf zu klauen,
überlegte Acy niederträchtig. Unterdessen lief die
Aufzeichnung Firestars weiter.
"Meine Tochter, wenn du dich später entschließt, in
meine Fußstapfen zu treten, möchte ich dich bitten,
möglichst unabhängig von allen staatlichen Stellen und auch
der ISPC zu arbeiten. Ich habe immer wieder erfahren müssen,
daß man niemandem außer sich selbst trauen darf. Auch wenn
du jemals meinen größten Traum verwirklichen solltest - die
Konstruktion eines künstlichen Menschen (ich habe die Vorarbeiten
bereits abgeschlossen) - möchte ich, daß du diese Sache
alleine unternimmst. Wenn mir meine Krankheit etwas mehr Zeit
gelassen hätte, wäre ich noch vor meinem Ableben fertig
geworden. Leider gibt mir Doc Lyz nur noch ein oder zwei Wochen, und
das ist doch ein wenig kurz. Naja, ich will auf meine letzten Tage
nicht noch sentimental werden. Leb wohl, Alycia Cherylla."
Er hob eine Hand zu einem kurzen Gruß, bevor der Monitor
wieder daß feuerrot/goldene Symbol zeigte.
Acy stellte den Kasten auf dem Boden ab und lehnte sich zurück.
Das mußte sie erst einmal verdauen. Abwesend nahm sie
einen ihrer ellenlangen, neongrün/gelben Zöpfe und kaute auf
den Haarspitzen herum. Sie mußte nachdenken, ganz entschieden.
Oh verdammt! Firestar hatte ja so recht! Wie gerne würde sie
so werden, wie er es war! Durch die FGS reisen, Abenteuer erleben, den
Schwachen helfen, die Bösen bestrafen, und so weiter, und so
fort... Leider hatte der Schicksalsmeister aber vor den Ruhm und
Heroismus den Schweiß und die Arbeit gestellt... Sie seufzte, als
sie die Speicherkristalle inspizierte. Solche ungeheuren Datenmengen,
und das sollten alles Firestars Forschungsergebnisse sein? Er
mußte ein echtes Genie gewesen sein! Alycia überlegte, was
sie eigentlich in den letzten Jahren gelernt hatte. Nicht
viel, wie sie feststellen mußte. Zugegeben, sie hatte eine
klassische Balletausbildung genossen, Akrobatik-Training und konnte
immerhin neben Starlingua (der allgemeinen FGS-Verkehrssprache) noch
Tarishana und drei Enaryshavell-Dialekte sprechen (so lange sie diese
nicht unbedingt schreiben mußte, hieß das) - aber sonst?
Hm. Es schien einiges an Arbeit auf sie zuzukommen, vor allem in
Sachen Naturwissenschaften... Gut, sie konnte Hand anlegen, wenn beim
Varieté etwas bei der Bühnentechnik nicht klappte, aber das
war auch alles, was sie in dieser Hinsicht konnte. Seufz. Aber
wenigstens machten die diversen Naturwissenschaften mehr Spaß als
Geschichte oder Politik, und Acy hatte zudem das Glück, daß
sie ihr äußerst leicht fielen.
Vielleicht war es doch ganz gut, daß die restlichen
Internatszöglinge solche Blödhammel waren. So würde sie
mehr Zeit haben, sich ums Lernen zu kümmern. Wenn sie bedachte,
daß sie mit ihren Freundinnen auf der Schule, in die ihre Tante
sie gesteckt hatte, in der Regel nur Unsinn angestellt und einen
möglichst weiten Bogen um ernsthaftes Lernen gemacht hatte... Nun
gut. Sie würde die Erwartungen, die Firestar in sie gesetzt hatte,
nicht nur erfüllen, sondern übertreffen, jawohl! Warum denn
auch nicht?
Alycia verstaute die Speicherkristalle wieder sicher in dem Kasten
und schloß diesen sorgfältig ab. Sie würde die ersten
fünf Kristalle kopieren und damit anfangen, deren Inhalte zu
lernen. Die Originale würde sie besser Norman Allyson erneut zur
Aufbewahrung übergeben, damit diesen auf keinen Fall etwas geschah.
Vermutlich hatte Allyson zwar noch mindestens zwei weitere Sätze
des Firestar-Vermächtnisses (sie schätzte Firestar zumindest
so ein, daß er kein Risiko mit seinen Aufzeichnungen eingehen
würde), aber sicher war nun einmal sicher. Als sie alles wieder
beieinander hatte, stand sie auf und machte sich auf den Weg, um Allyson
zu finden.
Dieser befand sich immer noch im Sprechzimmer der Direktorin.
"Nun, Mademoiselle Blade?" erkundigte er sich
gleichmütig.
"Das Material war höchst ...interessant", stellte
Alycia fest und betrachtete den Kasten nachdenklich. "Wenn es
Ihnen nichts ausmacht, kopiere ich einen Teil der Kristalle und gebe
Ihnen das hier zur weiteren Aufbewahrung zurück. Wie kann ich mich
mit Ihnen in Verbindung setzen?"
"Sie brauchen lediglich eine Nachricht in meiner Kanzlei zu
hinterlassen. Ich werde Sie dann unverzüglich aufsuchen",
entgegnete der Anwalt.
"Super! - Wenn Sie einen Moment warten würden..."
Ohne auf Madame Elldis' empörte Miene zu achten, stürmte Acy
aus dem Raum und in ihr Zimmer, wo sie ein paar Speicherkristalle
hervorkramte und rasch die Firestar-Daten darauf übertrug.
Sorgfältig beschriftete sie die Teile mit
"Althochtarishana-Aufbaukurs 1-5". An sowas
würde sich bestimmt niemand vergreifen... Und da sie solcherart
Speicherkristalle ohnehin nie freiwillig in ihrem Besitz hätte, war
auch die Gefahr einer zufälligen Verwechslung ausgeschlossen.
Anschließend übergab sie das Firestar-Material Norman
Allyson, welcher das Abspielgerät und die Kristalle wieder sicher
in seinem Aktenkoffer verstaute.
Kiyara Elldis schaute nur verständnislos von Allyson zu Acy und
zurück, als sich der Anwalt auch schon erhob und sich von ihr
verabschiedete.
Ohne irgendeine Andeutung zu machen, was sie da Geheimnisvolles
erhalten hatte, winkte Alycia der Direktorin kurz zu und huschte lautlos
aus dem Sprechzimmer. Ts, jetzt hatte sie doch glatt Mathe und
Tarishana verpaßt. Sie meditierte kurz darüber, ob sie noch
Planetologie blau machen sollte, entschied sich aber dagegen. Sie
sollte ihr Fehlstundenkontingent lieber für AHT (Althochtarishana)
und Geschi aufheben...
Außerdem war Monsieur deCelmar halbwegs zu ertragen, im
Gegensatz zu Mme.Isildera oder M.Rudyardo...
* * *
Gegenwart
Eniatag, der 3760/01/02 GZ.
"Kary, hast du einen Plan?" Ryko hielt sie immer noch in
den Armen. Sie runzelte die Stirn und dachte kurz nach, bevor sie
langsam zu sprechen begann.
"Hm... Alle Nachforschungen, die ich zum Thema Chenary
Tharulla Ondavall gemacht habe, ergaben, daß ihm überhaupt
nichts etwas bedeutet - außer seinem Geld... Er ist ein
wohlhabender Bankier, und ich weiß, daß er sein
Privatvermögen in einer seiner Banken deponiert hat. Dazu
gehören unter anderem eine umfangreiche Edelstein- und
Schmuckkollektion, als auch Unmengen von Wertpapieren. Ich glaube, das
Schlimmste, was ihm passieren könnte, wäre, wenn wir ihm das
ganze Zeug klauen und danach zusätzlich der Versicherung zustecken,
daß Ondavall auf einen Versicherungsbetrug aus war... Beweise
dafür lassen sich sicherlich herstellen..."
"Das ist kein Problem", eröffnete Ryko. "Ich
werde ein wenig Ondavalls Korrespondenzen mit seinen Vertrauensleuten
fälschen. Ich garantiere dir, daß Ondavall selbst die
Schriftstücke als seine identifizieren wird... Ich brauche
lediglich einige Vorlagen - beliebige Schriftstücke, die er
verfaßt hat. Aber das sollte ebenfalls eine lösbare Aufgabe
sein."
"Ay, du bist perfekt!" Karylla sah bewundernd zu ihm hoch.
Sie war begeistert. Cayvyns - äh, Rykos -
Möglichkeiten schienen schier unerschöpflich zu sein.
Ihre Gedanken schweiften wieder vier Jahre zurück... Damals
hatte sie sich erst mit ihm zusammenraufen müssen - aber es hatte
sich mehr als gelohnt, mußte sie im Nachhinein zugeben.
* * *
Vergangenheit
Es war Ishnatag, der 49. Zameri 3756GZ - Fünf Stunden und 29
Minuten später...
Acy kam in die Kommandozentrale der Dreamsong und fand
Cayvyn exakt so vor, wie sie ihn verlassen hatte. Er saß am
Leitstand des Raumers und betrachtete unbewegt die Kontrollen.
"Hi!"
"Seid mir begrüßt, Mylady Alycia", meinte er
kühl.
"?" Was wollte er damit sagen? Es hatte etwas zu
bedeuten, dessen war sie sich sicher. Könnte es sein, daß
sie ihn wirklich verärgert hatte? Faszinierend.
"Na, wo sind wir?"
"In deiner Raumyacht", kam es kurzangebunden zurück.
Offensichtlich war er verärgert. Aber das war noch lange
kein Grund, sie so zu behandeln, fand Acy und kniff die Augen zusammen.
Dann eben auf die harte Tour...
"Schiffsposition?"
"Welches Koordinatensystem?" kam es zurück.
"Galakta-Koordinaten!" So stur wie der war sie schon
allemal.
"[x334 - y257 - z283] - t 3756.0 - [176 Grad - 555 Grad - v 45
km/sec] GK."
(Galakta-Koordinaten funktionieren folgendermaßen: Das
erste Tripel gibt einen Ortsvektor in Bezug auf den Nullpunkt des
Koordinatensystems an (dieser liegt bei der Sonne Suune), die
Datumsangabe ist die Bezugszeit, und das zweite Tripel gibt den
Richtungsvektor mit Geschwindigkeit an.)
Dies sagte Acy zwar rein gar nichts, aber das würde
sie Cayvyn gegenüber niemals zugeben.
"Danke. - ETA?"
"13 Minuten 48 Sekunden bis Orbit Naravina, 47 Minuten 69
Sekunden bis Landung auf Sdayinisa-Laylynn-Spaceport."
"Mhm."
Die folgenden Minuten vergingen in eisigem Schweigen.
Plötzlich ertönte eine Stimme über Funk.
"Raumüberwachung Allirion IV/Naravina-Orbit 27. Ich rufe
das anfliegende Schiff auf Kurs [x378 - y189 - z889] - t 3756/03/49;
15:31 - [478 Grad - 833 Grad - v 9755 km/sec] GK. Bitte meldet
Euch."
"Das sind wir", bemerkte Cayvyn, ohne einen Blick auf die
Anzeigen zu werfen. Er tippte auf die Sensortasten, die die Funkanlage
aktivierten. "Raumyacht FGS-PR 17 334/279 - 38/01
Dreamsong von Suune III/Tarishaan erbittet Landeerlaubnis
für Sdayinisa-Laylynn-Spaceport."
Eine Zeitlang tat sich gar nichts. Alycia sah genervt gen Decke.
Jetzt würden die Typen ihre Angaben überprüfen etc. bis
sie zufrieden waren. Endlich meldete sich die RÜ Naravina-Orbit 27
wieder.
"Verstanden, Raumyacht FGS-PR 17 334/279 - 38/01
Dreamsong, Landeerlaubnis erteilt. Anflugkoordinaten folgen im
Anschluß an die Übertragung. Guten Flug und Ende."
"Danke, RÜ Naravina-Orbit und Ende." Cayvyn wartete,
bis die Anflugkoordinaten übertragen waren, dann unterbrach er die
Verbindung.
* * *
Kurz darauf setzte die Dreamsong auf dem Landefeld auf. Cay
orderte ein Fahrzeug, das sie vom Raumhafen zum Gut seiner
erwählten 'Eltern' bringen sollte. Wenige Minuten später
hielt eine Art 'Kutsche' vor der Sternenyacht. Alycia betrachtete das
eigentümliche Gefährt fasziniert. Bislang hatte sie so etwas
nur in Holoramas und den Schul-Computertapes gesehen! Die Robo-Droschke
schwebte auf Antigravpolstern etwa 30cm über dem Boden und wurde
von einer Art robotischem ...Drachen gezogen. Das Zugtier hatte einen
goldenen Schuppenpanzer und spie tatsächlich sogar orangefarbenen
Qualm aus, wobei es unruhig hin und hertänzelte.
"Damit sollen wir ...fahren - äh, fliegen - oder
was?" meinte Acy irritiert.
"Es wäre sicherlich nicht angemessen, wenn wir zu
Fuß erschienen."
"Hm-hm", brummelte Alycia. Zu Fuß
wäre sie garantiert nicht mitgekommen! Dann schon lieber so ein
Teil... "Also los", bestimmte sie und schwang sich aus der
Raumyacht. Nachdem auch Cayvyn auf dem Landefeld stand, verriegelte sie
die Dreamsong mit ihrem Codegeber und wandte sich
anschließend dem eigentümlichen ...Gefährt zu.
"Und wie kommt man da rauf?" In der metallicgrünen
Wandung der 'Kutsche' war keine Tür oder eine ähnliche
Einstiegsmöglichkeit zu erkennen.
"Klettern", schlug Cayvyn niederträchtig vor. Acy
warf ihm den mittlerweile obligatorischen tödlichen Blick zu.
"Gut. Du zuerst!" befahl sie. Cay
beschloß, doch lieber die korrekte Prozedur anzuwenden. In
erstklassigem Naysyny sagte er:
"Öffnet die Tür, edler Drache!"
Alycia, deren Naysyny ebenfalls nahezu perfekt war (Sir Parshayn,
ihr Naysyny-Lehrer im Internat, war einfach zu niedlich gewesen, um ihn
zu enttäuschen...), verschluckte sich beinahe vor
unterdrücktem Kichern, aber die Kutsche leistete Cayvyns
Aufforderung unverzüglich Folge, und dieser machte eine galante
Geste, woraufhin Acy das Fahrzeug betrat. Cay folgte ihr und wies die
Robo-Droschke an, sich auf den Weg zu dem südlichen Landgütern
Ayryanas aufzumachen.
Das ungewöhnliche Gefährt erhob sich in die Lüfte.
Acy betrachtete höchstgradig fasziniert, wie der Drache seine
güldenen Schwingen ausbreitete und seinen Anhänger durch den
grünen Himmel von Naravina zog. Man spürte keinerlei
Fahrtwind, was darauf hindeutete, daß die scheinbar offene Kutsche
von einem unsichtbaren Energiefeld überdacht war.
Nach etwa einer Dreiviertelstunde Flug kam ein
schneeweiß/kupferfarbenes Gebäude in Sicht, das in etwa wie
eine Kreuzung aus Märchenschloß und Ritterburg aussah. Auf
den Spitzen der kupfergedeckten Türme wehten weiße Fahnen,
auf denen ein kupfer/violettes Wappen prangte. Rund um das prunkvolle
Gebäude erstreckte sich ein sorgsam angelegter Park, in dem sich
dunkelgrüne Wiesen mit leuchtend bunten Blumenbeeten und
verspielten Springbrunnen abwechselten. Auch einen kleinen See mit
kristallklarem smaragdfarbenen Wasser sahen Acy und Cayvyn, als die
Robo-Droschke zur Landung auf dem etwas abgelegenen Gleiter-Parkplatz
ansetzte.
"Das glaube ich einfach nicht", rief Alycia
ungläubig aus. "Soviel Kitsch auf einen Haufen - das
kann doch einfach nicht wahr sein..."
"Sind die menschlichen Sinne so unzuverlässig, daß
es zu einer Glaubensfrage wird, was man von deren Daten zu halten
hat?" Acy verdrehte die Augen.
"Ha ha!"
"Mylady, unser Gefährt ist gelandet - wenn Ihr mich nun
begleiten wollt?" Er ging zur Tür und machte eine
theatralische Geste. Acy murmelte etwas Unverständliches, bevor
sie ihm zuckersüß zulächelte.
"Aber mit dem größten Vergnügen, mein
Lieber!"
Sie stieg nach Cayvyn aus der Robo-Droschke und ergriff seinen
überaus galant dargebotenen Arm.
"Es deucht mir sinnvoll, wenn ich die Aktion
übernehmen würde", bemerkte Cayvyn hoheitsvoll. Acy
hätte ihn am liebsten erdolcht.
"Aber natürlich, mein Teuerster!" Cay
bedachte sie mit einem derart umwerfenden Lächeln, daß Alycia
fürchtete, hier und auf der Stelle dahinzuschmelzen. Sie rang sich
zu einer frostigen Miene durch und meinte:
"Gehen wir, Sir Cayvyn."
Sie schritten über den goldfarbenen Weg zu dem monumentalen
Portal. Die späte Nachmittagssonne zauberte regenbogenfarbene
Reflexe in die kristallenen Säulen zu beiden Seiten des Tors.
Alycia wandte sich erschüttert ab. Cay schaute sie amüsiert
an und faßte sie sanft an den Schultern.
"Kommt schon, Mylady Alycia. Ihr habt die Ehre, alsbald meinen
'Eltern' vorgestellt zu werden..."
Acy funkelte ihn halb belustigt, halb ärgerlich an. Sie war
sich sicher, daß er die weiteren Implikationen seiner
Äußerung sehr wohl kannte. Nebenbei, was fiel ihm
überhaupt ein, sie so festzuhalten? Sie drehte sich elegant aus
seinem Griff und deutete dezent auf den Eingang. Cay legte seine Hand
auf die Sensorplatte. Natürlich war sein Abdruck nicht
programmiert, was ihn aber nicht daran hinderte, das wahrlich mehr als
triviale Erkennungsprogramm zum Öffnen der Tür zu bewegen.
Wozu waren in seinen Händen auch die verschiedensten Sensoren und
Codegeneratoren für solche und ähnliche Fälle
untergebracht? Acy musterte ihn bewundernd. Sie wußte zwar, was
sie ihm an Features eingebaut hatte, aber dies live in Aktion zu sehen,
war etwas ganz anderes.
Cayvyn geleitete sie in die mehr als nur prunkvolle Empfangshalle.
"Ayée, und ich habe geglaubt, das ...Schloß
sähe nur von außen kitschig aus", murmelte Alycia. Ein
Butler näherte sich den beiden mit gemessenen Schritten. Er schien
zwar etwas verwundert ob des Eindringens zweier Fremdlinge in die
geheiligten Hallen des Burgschlosses zu Süd-Ayryana, ließ
sich seine Irritation aber kaum anmerken.
"Wen darf ich Ihrer Hoheit Duchesse Aylanna melden?" Acy
sah den Butler sehr mißtrauisch an, während Cayvyn keine
Miene verzog. Hoheit?!
"Sir Lanamir-munima-Cayvyn, Sohn von Lady Aylanna und Sir
Yngwayn, nebst meiner Gefährtin" - dies hatte einen
neuerlichen mörderischen Blick von Acy zur Folge - "Lady
Alycia Cherylla."
(Lanamir-munima-Cayvyn - Diese Bezeichnung besagt, daß der
Betreffende einen neuen Namen angenommen hat. Übersetzt
hieße es in etwa 'Sir Cayvyn, ehemals genannt Lanamir'.)
"Sir Lanam- äh, Cayvyn!" rief der Butler,
nun doch ziemlich fassungslos. "Ihr weilt nicht mehr auf
Ingarion?"
"Nein, wie Ihr seht - ich bin nunmehr
zurückgekehrt..."
'Tolle Antwort', dachte Alycia. Den Butler schien das nicht im
mindesten zu stören. Er verneigte sich vor der jungen Frau.
"Wenn Ihr es wahrlich geschafft habt, den Erben des Herzogtums
von Süd-Ayryana zur Rückkehr zu bewegen, werden Euch Lady
Aylanna und Sir Yngwayn zu großem Dank verpflichtet sein..."
Acy starrte zunächst den Butler, dann Cayvyn schockiert an.
Das 'Wie bitte?!' schluckte sie noch gerade herunter. War Cay denn
völlig übergeschnappt gewesen, sich einen solchen
Background auszusuchen? Als sie ihn verstohlen beobachtete, guckte er
betont unschuldig. Er hatte es nicht nur gewußt, es schien ihm
auch noch Spaß zu machen.
"Jaymys!" erschallte plötzlich eine weibliche Stimme
über die hausinterne Comanlage. Der Butler eilte sogleich zu einem
Companeel, das in desaktiviertem Zustand durch nichts von einem normalen
mit Reliefs und kristallenen Ornamenten geschmückten Spiegel zu
unterscheiden war.
"Ihr wünscht, Eure Hoheit?"
"Der Hauscomputer hat gemeldet, daß wir Gäste haben.
Wollt Ihr sie mir nicht allmählich vorstellen?"
"Oh, verzeiht, Eure Hoheit... Mir ward eine solch
überraschende Neuigkeit zuteil..."
"Jaymys, Ihr enttäuscht mich. Keine Nachricht, und mag
sie noch so weltbewegend sein, sollte imstande sein, Euch zu solch
ärgerlichen Säumnissen zu verleiten. Geleitet die Gäste
zu mir in den Salon!"
"Sehr wohl, Eure Hoheit." Jaymys bedeutete Cayvyn und
Alycia, ihm zu folgen. Acy wußte nicht so recht, was sie von der
ganzen Angelegenheit zu halten hatte und hakte sich bei Cayvyn ein, als
dieser zielstrebig dem Butler folgte. Sie kamen an eine gut 4 Meter
hohe Tür, die schwungvoll vor ihnen aufging. Jaymys postierte sich
neben einem Türflügel und verkündete:
"Sir Lanamir-munima-Cayvyn, sowie seine Gefährtin Lady
Alycia Cherylla."
Lady Aylanna sah milde erstaunt von der Holorama-Projektion ihres
momentanen Lieblingsromans 'Romanze unter den Wassern' von der vor zwei
Jahren wie ein Komet am Schriftstellerhimmel aufgestiegenen jungen
Erfolgsautorin Nardia Blade auf.
"Ich grüße dich, mein Sohn. Geruhtest du doch noch,
wieder nach Hause zurückzukehren. Was ist der Grund für deine
Aufgabe der ...Bio-Gärtnerei auf Ingarion?" Sie hob
erwartungsvoll eine Augenbraue, bevor sie mit einer Handbewegung die
Holorama-Projektion abschaltete. Nun konnte Alycia sie etwas
eingehender betrachten. Die Schriftflächen in der Luft hatten ihre
Sicht doch etwas behindert.
Duchesse Aylanna der südlichen Landgüter von Ayryana und
Prinzessin 6. Grades der östlichen Landgüter des
Sdayinisischen Kontinents von Naravina war eine schlanke, hochgewachsene
Frau etwa Mitte 40, wie Acy schätzte. Als Lady Aylanna sich erhob,
um ihre Gäste zu begrüßen, stellte Alycia fest,
daß die Herzogin sie bestimmt um einen halben Kopf überragte.
Ts, typisch Naravina-Bewohner! Diese waren allesamt ausgesprochen lang,
was zum Teil durch die um etwa 25% geringere Schwerebeschleunigung (im
Vergleich zu Tarishaan!) an der Oberfläche des Planeten
erklärt werden konnte. Duchesse Aylanna trug ihr strahlend
goldenes Haar zu einer komplizierten Flechtfrisur aufgetürmt, und
ihre offensichtliche Freizeitrobe war pompöser als die
Gewänder, die auf Tarishaan auf einem Gala-Ball vorgeführt
wurden. Alles in allem wirkte sie vom Kopf bis zu den Zehenspitzen wie
der Prototyp fürstlicher Eleganz und Würde.
"Auch ich grüße Euch, meine Mutter." Cayvyn
schien sich bis ins letzte Detail mit der naravinischen Etikette
vertraut gemacht zu haben. Er verneigte sich stilvoll, was ihm einen
etwas irritierten Blick von Acy eintrug. "In der Zeit, da ich auf
Ingarion mein Leben der vollbiologischen Gärtnerei widmete, habe
ich erkannt, daß dies doch nicht die Bestimmung des Erben dieses
hochherrschaftlichen Hauses sein könnte. So beschloß ich,
zunächst Euch meine Aufwartung zu machen und fürderhin mein
Leben als Abenteurer zu fristen."
"Das deucht mir sehr aufmerksam, mein Sohn. Ich habe dir ja
schon immer gesagt, daß du dich dereinst zu Tode langweilen
würdest, wenn du unentwegt nur dem Gartenbau fröntest."
"Im Nachhinein betrachtet muß ich Euch recht geben, meine
Mutter", erwiderte Cayvyn gekonnt zerknirscht. Er machte ein kurze
Pause, dann sah er zunächst Alycia und dann Aylanna an.
"Außerdem wollte ich Euch meine Gefährtin Alycia
Cherylla Blade vorstellen..."
"Sehr angenehm, Mademoiselle", sagte die Herzogin.
"Habe ich es Euch zu verdanken, daß mein Sohn sich diese
Öko-Flausen aus dem Kopf geschlagen hat?"
'Wir sprechen uns noch, Cay', dachte Alycia ziemlich ungehalten.
Sie setzte ein etwas schiefes Grinsen auf. "So könnte man es
formulieren, Eure Hoheit..." Ihr behagte diese ganze Angelegenheit
überhaupt nicht.
"Dann möchte ich Euch an dieser Stelle gar herzlich
danken, meine Liebe", meinte Lady Aylanna huldvoll. "Wie
lange gedenkt ihr zu bleiben, meine Kinder?"
Acy ließ eine steile Falte auf ihrer Stirn entstehen.
'Meine Kinder'?! Die Lady wollte sie wohl mit ihrem
Möchtegern-Sohn verkuppeln, oder wie?
"Einige Tage, meine Mutter", entgegnete Cayvyn kurzerhand.
'Tsayée', dachte Acy ärgerlich. 'Was maßt der Kerl
sich an, über meinen Kopf hinweg zu entscheiden?'
"Das freut mich, mein Sohn. Ich lasse euch ein Gemach
herrichten."
Graaaa! Acy hatte es geahnt. Sie hätte gleich
protestieren sollen, als Cay sie so einfach als 'seine Gefährtin'
deklarierte. Aber jetzt war sie verraten und verkauft - vor allem, wenn
sie sich vorstellte, daß sie die nächsten Tage so mit ihm
zusammen verbringen mußte. Hm. Entweder, sie hätte ihn am
Ende dieser Zeit demontiert - oder er wäre ihr
Gefährte...
* * *
Jaymys führte sie in eine prunkvolle Zimmerflucht.
"Ihr mögt Euch ein wenig frisch machen und gegebenfalls
die Garderobe wechseln. Um 16 Uhr gedenkt Duchesse Aylanna ihr
Abendmahl zu sich zu nehmen, und Ihr seid geladen, dem
beizuwohnen."
Gemessenen Schrittes verließ der Butler die Räumlichkeit
und überließ Cayvyn und Alycia ihrem Schicksal.
Acy funkelte Cay wütend an und baute sich vor ihm auf,
völlig ungeachtet der Tatsache, daß dieser sie um immerhin
20cm überragte. Leicht irritiert wich er zurück, offenbar war
Alycia momentan zu allem fähig...
"Cayvyn, mein Herzchen, was hast du dir eigentlich dabei
gedacht?" schnurrte Acy gefährlich leise. 'Ein
Königreich für einen Strahlschneider!' dachte sie
verärgert. 'Anders werde ich es nie schaffen, ihn zu
zerlegen...'
"Wobei?" fragte er gekonnt unschuldig und stieß
rückwärts gegen die Bettkante, woraufhin er eher indezent auf
sölbiges plumpste.
"Arr, bei allem! Wie kannst du dich zum Erben eines
Herzogtums machen? Was fällt dir ein, mich als deine
Gefährtin auszugeben - und überhaupt!"
"Zu Punkt 1: Trivialerweise, wie du bemerkt haben
dürftest, und zu Punkt 2: Du erwähntest doch anfangs,
daß du für deine geplanten Unternehmungen einen Partner haben
wolltest. Sind diese Begriffe 'Partner' und 'Gefährte' nicht
synonym?"
Acy musterte ihn prüfend. Hm... Sie hatte den unbestimmten
Verdacht, daß es kein Versehen von ihm gewesen war. Ganz
bestimmt nicht! Schließlich wußte sie, daß in seinen
Datenbanken ganz besonderer Wert auf die korrekte Darstellung solcher
und ähnlicher Begriffe gelegt wurde, damit er solche Fauxpas
vermeiden konnte! Hm. Vermeiden können
sollte...
"Nein, mein Lieber, sie sind nicht
synonym!"
"In der Tat?" Er sah sie aus seinen grüngolden
schimmernden Augen an, und Alycia wurde es ganz anders.
"In der Tat." Sie wandte sich hocherhobenen Kopfes von ihm
ab und suchte das Bad auf, um sich etwas frischzumachen, wie Jaymys
vorgeschlagen hatte.
Allerdings erwischte sie zunächst eine falsche Tür, die
geradewegs in einen gigantischen begehbaren Kleiderschrank führte.
Dort hingen prunkvollen Roben aller Arten und Größen, wie Acy
nach kurzer Inspektion feststellte. Offenbar waren diese für den
Komfort der diversen Gäste hier gedacht. Hm. Warum nicht? Sie
suchte sich ein hochgeschlossenes, metallisch schwarzes Kleid heraus,
das über und über mit metallicblauen Stickereien bedeckt war
und an beiden Seiten einen gewagten Schlitz bis fast zur Hüfte hin
hatte.
Im zweiten Anlauf fand sie das Bad. Dieses war ebenso
verschwenderisch gestaltet wie der Rest des Gebäudes,
dunkelblaugrauer Marmor, schillernder Kristall und Silber wechselten
sich in der Einrichtung ab. In der Marmordecke war ein kaum sichtbarer
Holoprojektor eingelassen, bemerkte Alycia fasziniert. Als sie sich dem
kleinen Swimmingpool (es sollte wohl eine Badewanne sein, aber Acy war
sich da nicht ganz sicher) näherte, löste sie einen Kontakt
aus, und eine einschmeichelnde Stimme fragte:
"Ihr wünscht zu Baden, edler Gast?"
"Ähm, ja", erwiderte Acy stirnrunzelnd und hoffte,
daß es ein Computerprogramm war. Die Idee, sogar im Bad von
sonstigen dienstbaren Geistern belagert zu werden, mißfiel ihr
nämlich außerordentlich.
"Welche Wassertemperatur wäre Euch angenehm?"
"Hups... Bei welcher Temperatur bade ich immer?"
überlegte Acy halblaut. "Wie wäre es mit 39 Grad
C?"
"Ihr wünscht auf 39 Grad C angewärmtes Wasser? Es
soll geschehen!" Aus versteckten Düsen sprudelte klares Wasser
in das riesige Becken. "Mit welchen Badeölen darf ich den
edlen Gast verwöhnen?"
"Ojee..." Acy überlegte angestrengt, bevor sie sich
zu Khymella-Öl durchrang. Dies war das ätherische Öl
eines auf Enaryshavell ansässigen Baumes und gehörte zu ihren
Lieblingsduftnoten (man stelle sich eine Mischung aus Zimt, Vanille und
Moschus vor, wobei Vanille leicht überwiegt).
"Es ist gerichtet!" ertönte die Stimme erneut.
"Ich wünsche Euch ein erquickendes Bad, edler Gast!"
Alycia entledigte sich ihrer Textilien und tauchte in die Fluten.
Hm. Irgendetwas fehlte ihr noch.
"Huhu?!" machte sie zaghaft, in der Hoffnung daß
sich der unsichtbare dienstbare Geist noch einmal meldete.
"Habt Ihr noch ein Begehr, edler Gast?"
"Ja! Wie wäre es, wenn ich noch etwas Schaumbad oder so
bekäme?! Aber mit viel Schaum!"
"Es soll geschehen!" Prompt sprudelte massenhaft
schneeweißer, duftender Badeschaum in das ...Planschbecken.
Alycia war begeistert. Nachdenklich spähte sie gen Tür.
Eigentlich hätte sie nichts dagegen, wenn Cayvyn sich zu ihr
gesellte...
"Cayvyn?" rief sie halblaut.
"Ja?" tönte es zurück.
"Kommst du bitte mal?"
Prompt steckte Cay seinen Kopf durch die Tür und hob
amüsiert die Augenbrauen, als er Berge von Schaum erblickte und
irgendwo mittendrin Alycia.
"Ihr wünscht, Mylady Alycia?" Die Antwort war eine
gehörige Ladung Wasser und weiße Flöckchen, die ihn
mittschiffs erwischte und von Kopf bis Fuß durchnäßte.
Cayvyn sah Acy höchst irritiert an. "Was sollte denn
das bedeuten?"
"Ein taktischer Erstschlag", meinte sie grinsend und sah
ihn kokett an. "Jetzt hast du zwei Möglichkeiten. Zum Ersten
einen taktischen Rückzug, von dem ich dir aber abrate, weil du
sonst Ehre und Gesicht verlierst, und zum Zweiten einen Gegenschlag...
Nun, was ist? Naß bist du eh - also komm schon! - Abgesehen
davon bestehst du darauf, daß ich deine 'Gefährtin'
bin..."
"Dieser Argumentation kann ich mich schwerlich entziehen",
bemerkte Cayvyn und befreite sich von seinen triefenden Klamotten, bevor
er ebenfalls in die Riesenbadewanne stieg. Alycia konnte ihren Blick
einfach nicht von diesem perfekten männlichen Wesen abwenden.
Seufz. Er sah aus wie eine enaryshanische Götterstatue in Marmor
und Kupfer... Gelobt seien die vielen Kunststunden bei M. Nidhil und
M. O'Connar.
"Und nun?" wollte Cay belustigt wissen.
"Du bist total unromantisch", beschwerte sich Alycia
genervt. "Da gebe ich mir die größte Mühe, eine
geeignete Gelegenheit zu schaffen, dich kunstvoll zu verführen, und
alles, was du dazu zu sagen hast, ist 'Und nun?'!"
"Ts ts", machte Cay grinsend. "Was wäre, wenn
ich nicht die Absicht hätte, mich verführen zu lassen?"
"Warum bist du dann überhaupt hergekommen?"
erkundigte sich Acy schmollend. Cayvyn schenkte ihr ein
hinreißendes Lächeln, bevor er sie mit einer blitzschnellen
Bewegung aus dem Wasser fischte und überaus sanft in seine Arme
zog. Alycia starrte ihn äußerst verblüfft an und
beschloß, die Gunst der Situation zu nutzen, indem sie sich dezent
an ihn schmiegte. Mh... Er fühlte sich sehr interessant an.
"In meiner Programmierung sind derzeit 87 verschiedene Methoden
zur Annäherung an weibliche Wesen implementiert, und ich gedenke,
mich zu Testzwecken einer derselben zu bedienen."
"Wie bitte? Zu Testzwecken?" In der
nächsten Sekunde kassierte Cayvyn eine schallende Ohrfeige ein und
sah Acy verdutzt an. "Laß mich sofort los!" fauchte sie
ihn an. Leicht irritiert tat er, wie ihm geheißen.
"Moment, Alycia - ich verstehe nicht ganz", begann er.
"Du hast mich hier hergerufen, um mich zu verführen und
erwartest, daß ich dieses Spielchen mitmache. Aber wenn ich die
Initiative ergreife, schlägst du mich. Warum?"
"Ich denke nicht daran, mich zu 'Testzwecken' mit dir
einzulassen!"
"Aber es ist effektiv eine Tatsache, daß diese
meiner Funktionen bislang ungetestet sind", machte Cayvyn sie
verwundert aufmerksam.
Acy beschloß, dieses Thema vorerst ad acta zu legen und
kletterte leicht gefrustet aus der Wanne. Prompt war sie in einen
angenehm temperierten Luftstrom gehüllt, der sie im Nu trocknete.
Anschließend warf sie sich in die metallicschwarze Robe, die sie
in dem Kleiderschrank entdeckt hatte. Cayvyn sah ihr interessiert zu,
bevor er seinerseits aus den Fluten stieg.
"Und was bitte soll ich jetzt anziehen? Mein Overall ist durch
deine Herumspritzerei ruiniert", bemerkte er verweisend,
während er sich ebenfalls von dem Luftstrom trocknen ließ.
Acy musterte ihn kichernd und ziemlich eingehend.
"Also, ich finde dich so eigentlich anziehend
genug..." Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm
einen Kuß auf die Nase. "Aber du solltest auch einmal in
diesem Schrank nachsehen. Da ist bestimmt auch für dich etwas
Passendes dabei."
Ein paar Minuten später steckte Cayvyn in einem tiefgrünen
Coverall mit Metallic-Effekt - ein wenig zu Acys Bedauern.
"Cay..." Alycia trat zu ihm heran und strich ihm
zärtlich über die Wange. "Das mit der Ohrfeige tut mir
leid."
"Ich hoffe nur, das wird nicht zur Gewohnheit", bemerkte
Cayvyn belustigt.
"Was? - Das?" Sie schlang ihm die Arme um die
Mitte und kuschelte sich hingebungsvoll an ihn. Mh, er duftete nach dem
Khymella-Öl! Nach kurzer Überlegung beschloß Cayvyn,
daß diese Frage wohl keiner verbalen Erwiderung bedurfte. Er
zuckte kurz mit den Achseln, bevor er befand, daß es wohl die
sinnvollste Aktion wäre, wenn er nun seinerseits die Arme um sie
legte. Fast zu seinem Erstaunen setzte es diesmal keine Ohrfeige.
"Sag mal Cay, meinst du immer noch, daß ich nur vorhabe,
dich als 'Spielzeug' zu gebrauchen?" Alycia setzte eine leichte
Schmollmiene auf. Diese Unterstellung hatte sie gar nicht nett
gefunden.
"Hm. Naja..." Offenbar begann er langsam, auch die
Lautäußerungen ohne exakten semantischen Nährwert zu
begreifen, überlegte Acy belustigt.
"Nun?" Sie sah geradewegs in seine herrlichen Smaragdaugen
mit Goldschimmereffekt. 'Wenn er wüßte, daß ein Blick
von ihm ausreicht, und ich bin hin und weg...' dachte sie und
schüttelte gedanklich über sich den Kopf. Besser, er
wußte es nicht...
"Ich denke, wir könnten uns sicherlich arrangieren",
bemerkte Cayvyn ausweichend. Er war sich im Prinzip immer noch nicht
sicher über ihre Absichten. Andererseits wäre es ihm durchaus
recht, einmal sämtliche seiner Funktionen eingehenderen
Tests zu unterziehen. Allerdings beschloß er, dies Acy
gegenüber nicht so zu formulieren. Eine Ohrfeige
reichte ihm nämlich. Nicht, daß es ihm physische Schmerzen
bereiten würde - aber immerhin verfügte er doch über eine
durchaus empfindsame Psyche. Cay überlegte einen Moment,
während er versuchte, seine momentanen Empfindungen zu analysieren.
Es schien ihm, als würde er der augenblicklichen Situation auch
durchaus andere positive Seiten abgewinnen als lediglich eine
mögliche Option auf einen Test gewisser Funktionen. Aber dies
bedurfte noch einer eingehenden Analyse. Zum Glück beschloß
Acy, vorerst nicht weiter nachzuhaken, sondern genoß es, einfach
von Cayvyn festgehalten zu werden.
"Alycia..."
"Mmmmh?"
"Es ist 15:50 Uhr - Ich würde es für ratsam erachten,
wenn du deine Frisur ein wenig korrigiertest. In einer halben Stunde
erwartet uns Lady Aylanna zum Dîner."
"Ich hatte recht. Du bist furchtbar
unromantisch", stellte Acy seufzend fest. "Aber weißt
du was - ich mag dich trotzdem..." Sie löste sich aus der
Umarmung und besah sich das Desaster im Spiegel. Wahrlich. Ihre
vormals wüst toupierte neongelbe Mähne war durch das Bad
zunächst feucht geworden, ein wenig zusammengefallen und nach der
windigen Trockenprozedur ausgesprochen wild zerstruppt.
'Am besten ich lege mir demnächst eine Kurzhaarfrisur zu und
pappe mir nur noch eine jeweils passende Perücke über',
überlegte sie sich. Das ständige Färben in diesen
schrillen Neonfarben tat ihren Haaren auch nicht so sonderlich gut.
Nach fast dreißig Minuten war es ihr endlich gelungen, die Haare
durchzukämmen, aber Façon hatten sie nun überhaupt
nicht mehr. Seufzend schlang sie ihre Mähne zu einem losen Knoten
und steckte sie mit ein paar langen Haarnadeln im Nacken fest.
Endlich war sie soweit. Cayvyn bot ihr seinen Arm dar, und sie
hakte sich lächelnd unter. Irgendwie gefiel ihr seine Courtoisie,
auch wenn es sie andererseits beunruhigte, wie sehr er ihr Herz im Sturm
erobert hatte. Es war wirklich frustrierend. Dabei hatte sie
beschlossen, nach diesen Pleiten mit Dvandar Inkra Tjadrus und Revelly
Jilla Elasavill auf weitere nähere Kontakte mit den Herren der
Schöpfung fortan zu verzichten. Naja - obwohl.... Es hieß
allerdings auch 'aller guten Dinge sind drei', nicht wahr?
Gemeinsam schritt sie mit Cayvyn die Treppe herunter. Irgendwie
machte es Spaß, auf Naravina zu sein, es eröffnete einmal
völlig neue Spielperspektiven.
Jaymys führte die beiden in den Speisesaal des Schlosses.
Alles war in echtem, dunkelviolettschillernden Holz getäfelt und
mit silbernen Einlegearbeiten verziert.
An den beiden gegenüberliegenden Seiten der Tafel (Entfernung
ca. 35m, schätzte Acy belustigt.) saßen sich Lady Aylanna
und ein kupferrothaariger Mann etwa Anfang fünfzig gegenüber.
(Das Alter der Naraviner war nicht leicht zu schätzen, sie wirkten
in der Regel mindestens 10-20 Jahre jünger als sie tatsächlich
waren.) Alycia vermutete, daß es sich um Duc Yngwayn handelte. Ob
es wohl in der Mitte eine Verstärkeranlage gab, falls einmal das
ganze Teil besetzt war? Wenn nun der zweite Gast von der rechten
Längsseite ein paar Worte mit dem Typen in der Mitte der
gegenüberliegenden Stirnseite wechseln wollte - wie wurde das
eigentlich geregelt?! Am besten man brächte zu solchen
Gelegenheiten ein Megaphon mit.
"Sir Lanamir-munima-Cayvyn, nebst seiner Gefährtin Lady
Alycia Cherylla", kündigte Jaymys an. Sir Yngwayn blickte
gemessen interessiert auf. Cay neigte leicht den Kopf, während Acy
sich an einem formvollendeten Hofknicks versuchte, obwohl sie sich
ziemlich albern dabei vorkam.
"Ich heiße dich wieder zu Hause willkommen, mein
Sohn", sagte der Duc.
"Ich danke Euch, mein Vater", erwiderte Cayvyn
förmlich.
"Ihr seid die Gefährtin meines Sohnes?" erkundigte
sich Yngwayn nach kurzer Begutachtung Alycias. Offenbar irritierten ihn
die neongelben Haare ein wenig.
"Das bin ich, Euer Hoheit", erwiderte Acy mit gekonnt
scheuem Augenaufschlag.
"Dann heiße ich auch dich willkommen, meine
Tochter." Hm. Irgendwie hatte Acy den Eindruck, der Begriff
'Gefährtin' hatte auf Naravina noch eine etwas andere Bedeutung als
im üblichen FGS-Sprachgebrauch. Sie musterte Cay mißtrauisch
von der Seite.
Darüber sollte sie sich bei Gelegenheit einmal
ernsthaft mit ihm unterhalten.
Das Dîner verlief ereignislos und ziemlich steif. Alycia kam
sich irgendwie leicht deplaciert vor. Allerdings erfuhr sie zu ihrem
Erstaunen, daß Duchesse Aylanna offenbar eine auf Naravina nicht
ganz unbekannte Wissenschaftsautorin zum Thema Ökobiologie und
Agrikultur war. Offensichtlich kam Lanamirs Neigung nicht von
ungefähr, wenngleich er auch wohl etwas über das Ziel
hinausgeschossen war.
Hm. Acy musterte die Lady prüfend. Nein, vom
äußeren Schein hätte sie ihr sowas garantiert nicht
zugetraut. Duc Yngwayn hingegen kümmerte sich eher um die
Angelegenheiten seiner Ländereien, weshalb er tagsüber meist
außer Haus war. Alycia überlegte, wie wohl die
Gesellschaftsstruktur von Naravina genau funktionierte. Vielleicht
hätte sie doch nicht so oft Soziologie blau machen sollen...
Als sie nach dem 5. Gang der Abendmahlzeit beim Dessert angelangt
waren, wandte sich Sir Yngwayn an seinen 'Sohn'.
"Falls es dich interessiert, magst du mich morgen früh auf
der Inspektionstour durch die Planquadrate Delta17 bis Epsilon4
begleiten, Cayvyn", meinte er. "In Delta25 ist ein Defekt der
automatischen Bewässerungsanlage für die Getreidefelder
aufgetreten, und der zuständige SysOp bat mich, den entstandenen
Schaden einmal persönlich in Augenschein zu nehmen, damit ich
später die versicherungstechnischen Probleme mit meinen
Anwälten erörtern kann. - Deine Gefährtin ist ebenfalls
herzlichst eingeladen, uns zu begleiten."
"Es ist mir eine Ehre, mein Vater", erwiderte Cayvyn
folgsam und warf Alycia einen fragenden Blick zu. "Kommt Ihr
ebenfalls mit, meine Liebe?"
"Aber gerne, Mylord", erwiderte Acy, wie es die Etikette
verlangten. Tsy, Cayvyn als 'ihr Lord' - pah!
"Das freut mich, meine Kinder." Duc Yngwayn erhob sich.
"Ich werde mich nun zurückziehen, Mylady Aylanna", sagte
er, an seine Gemahlin gewandt, bevor er das Wort wieder an Cayvyn und
Alycia richtete. "Wenn ihr morgen früh um 7 Uhr zum
Frühstück erschient, könnten wir zu adäquater Zeit
aufbrechen. - Ich wünsche Euch eine Gute Nacht."
"Ihr braucht nicht auf mich zu warten, Mylord", warf
Aylanna ein. "Ich gedenke erst später aufzustehen, um
anschließend einige Nachforschungen über die ZIV in die Wege
zu leiten."
"Sehr wohl, meine Liebe." Yngwayn ging gemessenen
Schrittes davon, und auch der Rest der Versammlung löste sich
langsam auf.
Alycia hakte sich bei Cayvyn ein, und sie zogen sich ebenfalls diskret
zurück. Verstohlen blickte sie zu ihrem 'Gefährten' hinauf.
Ts, sie schüttelte insgeheim über sich den Kopf - wie konnte
frau sich so rettungslos in einen Typen verknallen? Noch dazu, wo sie
ihn auch noch selbst zusammengebastelt hatte... Sie hatte ein
Gefühl im Bauch wie damals bei ihrem ersten Abenteuer dieser Art.
Auch Cayvyn betrachtete Acy nachdenklich. Vielleicht sah sie ihn ja
faktisch als männliches Wesen und eigenständige
Persönlichkeit?! Obwohl er einige ihrer Reaktionen wirklich nicht
verstand... Zuerst gab sie ihm eine Ohrfeige wegen irgendwelcher
Annäherungsversuche seinerseits, dann machte sie
Annäherungsversuche, um sich für ihre Handgreiflichkeit zu
entschuldigen. Nein, das war ihm doch sehr suspekt... Auf jeden Fall
gedachte er nicht, ihr die Initiative zu überlassen. Wenn
sie etwas von ihm wollte, mußte sie ihm auch einen gewissen
Handlungsspielraum zugestehen. Außerdem ging es hier ums Prinzip
- schließlich war er ja eine eigenständige
Persönlichkeit!
Gemeinsam betraten sie das ihnen zugewiesene Gemach. Acy sah Cayvyn
erwartungsvoll an und beschloß, erst einmal ihre Haare von den
Haarnadeln zu befreien, ansonsten könnten diese sich unter
Umständen höchst unangenehm bemerkbar machen... Sie
schüttelte ihre wallende Neon-Mähne aus und warf Cayvyn einen
höchst koketten Blick zu, doch bevor sie etwas sagen oder tun
konnte, fand sie sich auf seinen Armen wieder.
"Hups!" machte sie erstaunt und musterte ihn bewundernd.
Es schien ihm nicht die geringste Mühe zu bereiten, sie so
hochzuwuchten. Sie legte ihm die Arme um den Hals und ihren Kopf an
seine Schulter, bevor sie halb amüsiert die Stirn runzelte. Welche
seiner einprogrammierten 'Methoden zur Annäherung an weibliche
Wesen' mochte das wohl sein?! Hm... Er sollte es wagen, diese
'Methoden' an irgendwelchen anderen Ladies auszuprobieren! Jee... Acy
war mittlerweile ziemlich irritiert über sich. Sollte sie etwa
eifersüchtig sein...? Ts! Das nahm ja immer bedenklichere Formen
an.
Cayvyn war unterdessen ziemlich zufrieden mit sich selbst. Offenbar
hatte er diesmal die richtige Strategie angewandt. Oder waren es
vielleicht vorher Fehlfunktionen bei Alycia gewesen?! Er legte sie
vorsichtig auf dem Bett ab. Acy lächelte ihn belustigt an und zog
ihn kurzerhand zu sich herunter. Ay, er war etwas schwerer als man es
bei seiner schlanken Statur vermuten sollte, aber nicht soviel,
daß es allzu ungewöhnlich wäre. Cay sah Alycia etwas
irritiert an. Das paßte eigentlich nicht ganz in sein schon
zurechtgelegtes Konzept, aber zum Glück war er ja
anpassungsfähig.
Er richtete sich wieder halb auf und strich sanft über ihre
Wange. Für einen Menschen hatte sie ein ziemlich
ebenmäßiges Gesicht, stellte er fest. Acy hielt seine Hand
fest.
"Sag mal, Cayvyn, warum küßt du mich nicht
endlich?"
"Damit du mir wieder eine Ohrfeige gibst?" fragte er und
sah sie belustigt an.
"Ich glaube, das wirst du mir noch bis in alle Ewigkeit
vorhalten", seufzte Alycia. "Jee - ich hab dich lieb,
Cay...!"
"Wirklich?" Ein strahlendes Lächeln erhellte Cayvyns
Gesicht. Es schien, als hätte er ihr doch unrecht getan.
Spielerisch fuhr er mit den Fingern die Konturen ihres Körpers
entlang. Seine automatischen Reaktionen verwirrten ihn ein wenig.
Offenbar gab es in seiner Programmierung einige Bereiche, die nicht
seiner direkten Kontrolle unterstanden. So zum Beispiel konnte er es
sich nicht erklären, warum ihm so viel daran lag, in dieser
Situation den physischen Kontakt noch weiter zu forcieren. Aber diese
Überlegung war im Moment ohnehin eher akademisch, da Alycia ihn
überaus energisch umklammert hielt. Er hob amüsiert die
Augenbrauen. So würden sie es nie schaffen, aus ihren
Klamotten herauszukommen...!
Dabei war er doch höchst neugierig, inwieweit der weitere
Ablauf der Dinge bei ihm programmtechnisch festgelegt oder frei
steuerbar war! Überhaupt fand er die ganze Situation höchst
interessant. Er packte diese Denkprozesse zunächstmal in eine
andere Ebene seines Bewußtseins; dort konnte er sich ihnen immer
noch widmen, während er beschloß, sich vordergründig
erst einmal mit Alycia zu beschäftigen. Wozu war man(n) denn
multi-tasking-fähig? Er fragte sich, welcherart die
Gedankengänge wohl waren, die Acy im Augenblick beschäftigten.
Zumindest aktuell schien sie sich intensivst mit dem Problem zu
befassen, wie sie ihn aus dem engen Coverall befreien konnte, ohne ihn
allzusehr dabei loszulassen. In der Tat, ein komplizierteres
Unterfangen, befand Cayvyn fasziniert, als er dabei zusah. Er war
wirklich gespannt, ob sie die Aktion erfolgreich abschließen
würde.
"Hmpf", machte Acy leicht genervt. "Du könntest
auch ein bißchen mithelfen!"
"Es würde die Angelegenheit sichtlich erleichtern, wenn du
mich kurzfristig loslassen würdest. Ich versichere dir, daß
ich auf einen Fluchtversuch verzichten werde", bemerkte Cay
trocken.
Alycia warf ihm einen vernichtenden Blick zu, bevor sie seinem
Vorschlag Folge leistete. Sie traute ihm nicht so recht. Bislang hatte
er sich ja nicht allzu kooperativ erwiesen... Aber immerhin gab ihr das
Gelegenheit, erst einmal diese dusseligen Pumps loszuwerden. Ehe sie
sich es versah, hatte sich Cayvyn seiner Klamottage entledigt.
"Hey, eigentlich wollte ich dich doch auspacken",
meinte Acy schmollend, als sie ihren Blick dezent über sein
Exterieur schweifen ließ.
"Aus welchem Grund?" Cayvyn schaute sie ein wenig
verständnislos an.
"Naja, es ist doch viel ...erotischer!"
"?!" Cays Miene zeigte deutlich seine Verwirrung.
"Soll ich mich jetzt wieder anziehen, damit du mich erst ausziehen
kannst?" Er begann sogleich, seine Sachen wieder zusammenzusuchen,
doch Alycia hielt ihn noch gerade eben zurück.
"Ist schon gut... - Laß es sein!"
"?!?!" Sein perplexer Blick sprach Bände.
Offensichtlich wußte sie auch nicht, was sie wollte.
"Cay... Tu mir bitte einen Gefallen: Vergiß
es!"
"Nein." Er setzte sich schmollend auf die Bettkante.
"Ich will, daß du es mir erklärst."
"Hm..." Alycia gab ein unendlich leidenden Seufzer von
sich und stützte sich auf einem Ellenbogen auf. Mit der anderen
Hand strich sie zärtlich über seinen Rücken. "Das
ist eine etwas komplexere Angelegenheit... Ich denke, du wirst es im
Laufe der Zeit selbst verstehen." Hoffentlich, dachte sie
bei sich. Ob Androiden immer so reagierten, oder ob das eine
Cayvyn-spezifische Manie war?
"Meinst du?" Cay warf ihr einen leicht melancholischen
Blick aus diesen unglaublich grüngoldenen Augen zu, bevor er sich
in die Kissen sinken ließ. Acy hegte die Befürchtung,
daß sie hier und jetzt dahinschmelzen würde, wenn er sie noch
einmal so anguckte. Sie legte ihren Kopf an seine Brust. Irgendwie war
es faszinierend. Sie wußte, daß er ein künstliches
Lebewesen war, doch sein 'Herzschlag' wirkte so echt, daß sie
immer mehr Gefahr zu laufen drohte, dies zu vergessen. Nur seine etwas
kühlere Haut brachte es ihr wieder zu Bewußtsein. Aber
andererseits fand sie dieses Faktum auch überaus anregend.
Cayvyn musterte Alycia stirnrunzelnd, als er durch ihre neongelben
Haare fuhr. So ganz war ihm ihre Ausführung nicht klar - aber
andererseits könnte er sie doch im Experiment überprüfen;
immerhin war sie noch in dieses extravagante Kleid gewandet. Er hob sie
vorsichtig von sich herunter, was ihm einen verwunderten Blick
ihrerseits eintrug, bevor er sich daranmachte, den
Verschlußmechanismus jener Robe zu erkunden.
"Hm?" machte Acy und sah Cayvyn erwartungsvoll an.
"Dieser Öffnungsmechanismus scheint sich mir zu
entziehen", stellte Cay fest und hob eine Augenbraue. "Gibt
es für diesen Verschlußtypus eine Bedienungsanleitung?"
Alycia konnte ein Kichern nicht unterdrücken. Schön, Cay
bemühte sich wirklich, auch auf ihre etwas versteckteren Anregungen
zu reagieren, aber irgendwie hatte er ein ungeheures Talent, die ganze
Situation ins Komische abgleiten zu lassen.
"Versuch's mal mit den versteckten Häkchen an der
Innenseite", empfahl sie ihm. "Diese Methode ist zwar alt,
hat sich aber immer wieder als eine der praktischsten erwiesen, ein
solches Kleid zusammenzuhalten..."
"Ah, in der Tat." Cay pellte sie endlich aus der Gewandung
und den sonstigen Einzelteilen, diewelche kurzerhand in die nächste
Ecke flogen. Als die Aktion abgeschlossen war, musterte Cayvyn Acy
nachdenklich.
"Alycia...?"
"Mh?" Acy schloß die Augen und schmiegte sich an
ihren 'Gefährten'.
"Könntest du mir bitte plausibel machen, worin die Erotik
begründet liegt, die darin bestehen soll, den jeweiligen Partner
von seinen Kleidungsstücken zu befreien?"
Alycia öffnete die Augen wieder und betrachtete Cay
äußerst genervt. Dieser setzte seine treuherzigste Miene auf
und unterzog Acys Rücken einer ausgiebigen sensorischen
Überprüfung mittels beider Hände. Er fand die
völlig neuartigen Eindrücke, die er auf diese Weise gewann,
mehr als nur interessant. Leider ergab sich dadurch der Nachteil einer
gewissen Reizüberflutung. Hm. Er würde diese ganzen
Empfindungen zu gegebener Zeit einmal genauestens analysieren. Zur Zeit
hatte er genug damit zu kämpfen, sowohl seine automatischen als
auch seine bewußt gesteuerten Reaktionen zu koordinieren und noch
dazu die Hintergründe verschiedener Aktionen Alycias zu
untersuchen. Er überlegte einen Moment, weil er versuchte, die
gerade von Acy geäußerten Laute ohne genau festgelegte
semantische Bedeutung zu interpretieren. Aufgrund der Tatsache,
daß sie sich ziemlich hingebungsvoll an ihn kuschelte, ging er
davon aus, daß sie damit ihr Wohlbefinden kundtun wollte. Aber
sie hatte seine Frage noch nicht beantwortet.
"Lisha - warum ist es erotisch, seinen Partner beziehungsweise
seine Partnerin zu entkleiden?"
"Cayvyn - würde es dir etwas ausmachen, die Fragen auf
später zu verschieben und stattdessen hier weiterzumachen?"
Sie beschloß, lieber keine Antwort von ihm abzuwarten, sondern gab
ihm direkt einen sanften Kuß auf die Lippen. Dieser Mann machte
sie noch wahnsinnig! Sie richtete sich wieder auf und betrachtete ihn
eingehend, während sie ihn zärtlich streichelte. Jetzt
würde sie ja sehen, wie menschlich sie ihn gestaltet hatte. Sie
beschloß, ihm so lange so viele Aufmerksamkeiten zu widmen, bis
ihm von sich aus die Lust auf dumme Fragen verging...
Mit wachsendem Erstaunen bemerkte Cayvyn, daß seine rein
physischen Reaktionen zunehmend seiner Kontrolle entglitten. Zugegeben,
es wäre ihm ein Leichtes, einen Override zu aktivieren und
sämtliche nicht rationalen Empfindungen einfach abzukoppeln, aber
zu seiner Irritation stellte er fest, daß ihm dieser Gedanke ganz
und gar nicht behagte. Er schaute zu Alycia hoch, die mit einem
erwartungsvollen Lächeln neben ihm kniete und ihn mit jeder
Berührung in tiefere Verwirrung stürzte, vor allem weil er
feststellte, daß er tatsächlich in der Lage war, so etwas wie
...Verlangen(?) zu fühlen. Er war sich nicht sicher, ob er diese
Empfindung korrekt einordnete, aber er wußte, was er jetzt zu
unternehmen hatte. Vorsichtig zog er Acy zu sich herunter und erwiderte
ihre Zärtlichkeiten.
(So, jetzt reicht es aber - der Rest ist privat!)
* * *
Als Alycia am nächsten Morgen erwachte, hatte sie zuerst ein wenig
Mühe, sich zu orientieren. Einmal lag sie in einem ihr ziemlich
unbekannten Bett - und zum zweiten war sie nicht alleine. Doch dann
erinnerte sie sich an die letzten Stunden und kam nicht umhin, Cayvyn
zum wiederholten Male äußerst bewundernd zu mustern.
Androide zu sein hatte so gewisse Vorteile, befand Acy. Ts, das war
doch glatt das erste Mal, daß sie total k.o. in den
Armen eines männlichen Wesens eingeschlafen war!
"Huhu, Cay...!" Sie knabberte verspielt an seinem
Ohrläppchen. Außerdem war er der erste Mann, der
nicht protestierte, daß sein Arm einschlief, wenn sie
sich so halb auf ihn hindrapierte. Sie strahlte ihn verliebt an.
"Ist mein Ohr schmackhaft?" erkundigte sich Cayvyn
irritiert. Acy schüttelte kichernd den Kopf.
"Du bist süß!"
"In der Tat?" Er runzelte verwirrt die Stirn.
"Meines Erachtens ist es relativ unwahrscheinlich, daß meine
Körperoberfläche deinen Geschmacksknospen als 'süß'
erscheint. Die entsprechenden Rezeptoren..."
"'Süß' im übertragenen Sinne, mein
Schatz..." Sie bedachte ihn mit einem höchst
vielversprechenden Blick und küßte ihn hingebungsvoll. Cay
hielt sie engumschlungen, bevor er fast ein wenig bedauernd eine
Augenbraue hob.
"Es tut mir leid, dir mitteilen zu müssen, daß wir
uns langsam bereitmachen sollten, mit Duc Yngwayn das
Frühstück einzunehmen."
"Mh... Ich wüßte, was ich jetzt lieber
täte..." Sie fuhr mit ihrem Fuß an Cayvyns Unterschenkel
entlang. Bedauerlicherweise ließ er es diesmal nicht zu,
daß seine nicht rationalen Reaktionen die Oberhand gewannen, und
er löste sich sanft aus ihrer Umarmung. Acy sah ihn leicht
schmollend an, bevor sie ebenfalls aufstand, um zunächst einmal im
Bad zu verschwinden.
Als sie kurz darauf zurückkehrte, hatte Cay ihr eine
metallicrote Kombination herausgesucht, die aus einer praktischen Tunika
und bequemen Hose bestand. Alycia lächelte ihn liebevoll an. Er
war wirklich süß. Während Cayvyn sich ebenfalls
frischmachte, zog sie die von ihm ausgewählten Sachen an. Er hatte
exakt ihre Größe erwischt. Ts ts... Sie flocht ihre Haare
ein; diese Frisur war entschieden praktischer als ihre
Löwenmähne, wenn sie etwas unternehmen wollte.
Anschließend begleiteten sie Duc Yngwayn auf seiner Tour durch
seine Ländereien.
Alycia erschien Naravina wie ein Rausch in Grüntönen. Ob
Wasser, Wiesen oder Himmel - alles hatte einen mehr oder minder
strahlenden Smaragd-Farbton. Einen starken Kontrast dazu lieferte
jedoch die prächtige, blütenreiche Flora, die in strahlenden
Rot-, Gelb- und Blautönen leuchtete. Auch die Naraviner, die Acy
erblickte, waren in eine verschwenderische Farbenpracht gehüllt.
Hier würde es sich lohnen, einmal mit kompletter
Maler-Ausrüstung herzukommen und einiges an Bildern zu produzieren,
überlegte sie.
Doch, wenn sie es sich recht überlegte, fand sie die Idee von
ein paar Urlaubstagen auf dem Planeten gar nicht so übel. Und wenn
sie nach Tarishaan zurückkehrte, würde sie eben allen
erzählen, daß sie Sir Cayvyn auf Naravina kennen- und
liebengelernt hätte. Dann käme es auch zu keinen dummen
Spekulationen über sein plötzliches Auftauchen.
* * *
Gegenwart
Eniatag, der 3760/01/02 GZ.
"Ryko, wir sollten uns einen Schlachtplan überlegen",
schlug Blackfire vor. "Was hältst du von folgendem: Zuerst
inspizieren wir das Bankgebäude, dann sehen wir zu, wo wir
schriftliches Material von Ondavall herbekommen, stellen die 'Beweise'
für einen angeblichen Versicherungsbetrug zusammen, deponieren
diese an geschickter Stelle und rauben anschließend die Bank
aus..."
Ryko hob die Augenbrauen.
"In der Theorie klingt es perfekt, aber ich bezweifle,
daß es so einfach ist. Aber gut - das Bankgebäude zu
inspizieren, ist auf keinen Fall ein Fehler." Er musterte seine
Partnerin kritisch. "Ich würde jedoch vorschlagen, daß
wir nicht in dieser Aufmachung auftreten sollten. Zumindest nicht, was
das Auskundschaften der Lage betrifft."
"Okay. Mh... Ich liebe es, mich zu verkleiden!"
Karylla überlegte, was sie als Outfit wählen sollte. Aus
diesem Grund hatte sie auch beschlossen, in ihrem Einsatzraumer
Lightning einen umfangreichen Kostümfundus anzulegen. Jee
- das war jetzt auch schon wieder zwei Jahre her, seit sie mit Cayvyn,
Shentay und Myriella das Schiff hergerichtet hatte...
* * *
Vergangenheit
Es war Tenmatag, der 4. Enuari 3757GZ.
Es war geschafft! Überglücklich fiel Alycia ihrem
nunmehrigen Lebensgefährten Cayvyn um den Hals.
Auf den beiden Labortischen des Engineering-Labs der Villa Alycia
lagen zwei weitere Androiden, eine Frau und ein Mann, die bis auf die
Farbgebung wie exakte Doubles von Acy und Cay aussahen.
Bei diesen hatte Alycia beschlossen, ihnen direkt ein fertiges
Outfit zu verpassen, inclusive Background. Nun hieß die Androidin
Myriella, hatte metallicschwarze Haare, türkisfarbene Augen und war
- ebenso wie Shentay - angeblich von nicht-adliger naravinischer
Herkunft, wobei letzterer allerdings strahlend goldene Haare und
leuchtend blaue Augen sein eigen nannte.
Bei Shentay hatten Acy und Cayvyn eine noch weiter abgewandelte
Version der Firestar-Kristalle zur Programmierung benutzt, während
sie bei Myriella in dieser Hinsicht überhaupt nicht auf vorhandene
Programm-Informationen zurückgreifen konnte. Gut, Firestar hatte
auch eine Androidin geplant, war aber bei dieser nicht viel
über die Hardware hinausgekommen.
"Cay, was macht der Datentransfer?"
"In achtzehn Sekunden abgeschlossen."
"Super!" Cayvyn trat zu Alycia herüber und
schloß sie in die Arme.
"So ist also auch meine 'Geburt' vonstatten gegangen..."
bemerkte er.
"Exakt. - Ts, dabei fällt mir ein, daß du ja noch
nicht einmal ein Jahr alt bist..." Sie grinste ihn an.
"Weißt du, daß du ein ganz schön frühreifes
Früchtchen bist?"
"Du hast es mich schon mehrfach wissen lassen", stellte
Cayvyn belustigt fest. "Übrigens, Shentay und Myriella
dürften seit 11 Sekunden aktiv sein."
"Korrekt", kam es von der Androidin. "Bin ich
Shentay oder Myriella?"
"Letzteres", sagte Acy. "Der Name 'Shentay' ist
für deinen Kollegen gedacht... Nebenbei - willkommen an
Bord...!"
"Befinden wir uns auf einem Raumschiff?" erkundigte sich
Shentay.
"Nein - das war nur so ein Spruch", meinte Alycia und
runzelte die Stirn. Wenn die zwei jetzt dasselbe Spielchen
durchzögen wie Cayvyn anfangs... "Ähm, Cay, würdest
du dich bitte um eine erste Einweisung der beiden kümmern?
- Ich danke dir, mein Schatz. Ich bin nämlich müde..."
Sie gab ihm einen zärtlichen Kuß und machte sich dezent aus
dem Staub.
* * *
Als Alycia am nächsten Tag das Engineering-Lab betrat, fand sie
dort ein wahrhaft exorbitantes Chaos vor. Cayvyn und die beiden
Androiden - 'Ts, du scheinst langsam zu vergessen, daß Cay doch
ebenfalls ein Androide ist', schoß es Acy durch den Kopf - hatten
sich gleichmäßig mit allerlei Materialien über den Raum
verteilt.
"Was ist denn hier los?" wollte Alycia wissen. Sie machte
eine Geste, die das gesamte Labor umfaßte. Cayvyn erhob sich von
seinem Arbeitsplatz und schenkte ihr sein unwiderstehliches
Lächeln.
"Einen wunderschönen guten Morgen, Mylady Alycia!" Er
machte zwei Schritte und zog sie in seine Arme. "Ich hoffe, Ihr
habt wohl geruht, mein Herz...?"
Acy schmiegte sich an ihn und kicherte unterdrückt.
"Sicherlich, Mylord, obwohl ich Eure Nähe und Eure
Zärtlichkeiten missen mußte", gab sie in lupenreinem
Naysyny zurück.
Shentay und Myriella verfolgten diesen kurzen Dialog eher
verständnislos.
"Was gibt das hier?" fragte Alycia noch einmal nach.
"Du wolltest doch ein Raumschiff umbauen, sobald wir Shentay
und Myriella fertiggestellt hätten. Ich habe ihnen unsere Planung
nahegelegt, und sie sind voll und ganz einverstanden."
"Klingt gut. - Danke, Shen und Myri! - Und das hier
wird?" erkundigte sie sich zum dritten Mal mit einem
mißtrauischen Blick auf das Chaos im Labor.
"Nun... Ähm... Ich hielt es für angebracht, meine
neuste Entwicklung erst einmal an einer ungefährlichen Stelle zu
testen. Was du hier siehst, sind die Einzelteile des Haupttriebwerks
der Dreamsong..."
"Cayvyn - heißt das etwa, du hast meine
Dreamsong demontiert, um diesen meines Erachtens völlig
verrückten, weil unbrauchbaren Ultraraumschubverstärker
einzubauen?" Cayvyn gab ihren wütenden Blick verletzt
zurück.
"Der USV ist nicht unbrauchbar! Ich muß
lediglich die genaue Kalibrierung hinbekommen..."
"Aber nicht mit der Dreamsong als Versuchskaninchen!
Warum hast du nicht dieses alte Möhrchen Silver Arrow
genommen - ich habe sie doch noch im Delta-Hangar stehen, weil ich es
nicht übers Herz brachte, sie zu verschrotten."
"Ähm..." Cay sah seine Gefährtin leicht
schuldbewußt an und war dankbar ob der Tatsache, daß er
nicht schamhaft erröten konnte. "Was ich vergaß, dir zu
erzählen..."
"Was?" fragte Alycia ahnungsvoll. Cayvyn blickte
gen Decke, während er zum Zwecke der Ablenkung sanft über Acys
Rücken strich.
"Ich wollte dir schon letzte Woche mitteilen, daß die
Silver Arrow ein bedauerliches Geschick ereilte..."
"Cayvyn!" Alycia starrte ihn empört an.
"Ich habe nicht gedacht, daß du das arme Schiffchen -
immerhin ein Erbstück von meinem Vater - derart brutal
zugrunderichten würdest! Ich wette, sie ist einem deiner
USV-Experimente zum Opfer gefallen."
"Mh... Indirekt..." Cayvyn wand sich
förmlich.
"Inwiefern?!"
"Ich mußte doch letzte Woche mit ihr zur
alljährlichen TKD-Untersuchung. Dummerweise habe ich den USV nicht
vorher ausgebaut - und da beschlossen die Typen dort, den Raumer wegen
unerlaubtem Tuning zu konfiszieren..."
(TKD - Technischer Kontroll-Dienst, so etwas wie der TÜV
auf Sol III/Terra.)
"Cay, hat dir schon mal irgendjemand gesagt, daß du
absolut unmöglich bist?"
"Du. Des öfteren", erwiderte er mit einem halb
schuldbewußten, halb entschuldigenden Grinsen. Acy stellte wie
schon so oft fest, daß sie ihm einfach nicht böse sein
konnte, wenn er sie derart anschaute und seufzte gestreßt.
"Aber es hat anscheinend funktioniert...?"
"Sicherlich. Durch den USV ist uns eine
Höchstgeschwindigkeit von gut 10 pc/h möglich - was eine
hundertprozentige Steigerung gegenüber den üblichen 5 pc/h
bedeutet."
"Na gut. Aber dann werden wir uns ein anderes Schiff suchen,
das wir komplett umgestalten! Immerhin ist die Dreamsong ein
Raumer von Comtesse Chambleau - und diese Produkte sind Unikate, das
heißt, es würde auffallen..."
"Keine Sorge - für unseren ersten Coup können wir die
Dreamsong nehmen. Ich habe endlich die Konstruktionsunterlagen
für den Tarnschild so weit komplettiert, daß wir ihn in die
Dreamsong einbauen können."
"Cay, dein Tempo ist mir wieder einmal unheimlich! Ich kann
mich entsinnen, daß ich vorgestern noch den Entwurf in die Ecke
geknallt habe, weil ich keine Lösung sah, wie meine Erweiterung des
Firestar-Modells ordentlich miniaturisiert werden konnte..."
"Das war ein trivialeres Problem, nachdem es dir
gelungen war, die Umlenkung der Ultraraumsensor-Strahlung zu
bewerkstelligen."
"Hm-hm. Cayvyn, was meinst du, wann hast du die
Dreamsong fertig?"
"Du bist einverstanden?"
"Mh, jaaa... - Mögt Ihr mir zum Frühstück
Gesellschaft leisten, mein Liebster?" meinte Acy wieder in
formellem Naysyny.
"Es ist mir eine Ehre, Mylady Alycia", erwiderte Cay
belustigt. "Was die Dreamsong betrifft - sie ist
voraussichtlich in drei Tagen umgerüstet und einsatzbereit."
"Super!" Sie strahlte Cayvyn an, bevor sie sich an Shentay
und Myriella wandte. "Was ist mit euch? Kommt ihr auch mit?"
"Wenn dies dein Wunsch ist", sagte Shentay.
"Sicherlich", meinte Acy mit hochgezogenen Augenbrauen.
"Schließlich möchte ich euch kennenlernen, nachdem ich
euch gemeinsam mit Cayvyn zusammengebaut habe..."
Die vier zogen in Richtung Küche bzw. Eßsalon ab, wo
Cayvyn drei Portionen seines Special-Cocktails, sowie eine Kanne Kaffee
für Alycia orderte. Mit dem Tablett bewaffnet düste Cay in
den Nebenraum, wo er bereits von den drei anderen erwartet wurde. Acy
nahm den Kaffee in Empfang und bedankte sich mit einem liebevollen
Kuß bei ihrem Lebensgefährten.
"Alycia..."
"Ja, Myriella?"
"Cayvyn hat uns einiges über die Situation in der FGS
erzählt und auch, was du beabsichtigst..."
"Ja?" Acy sah die Androidin fragend an.
"Waren seine Ausführungen bezüglich des offiziellen
Status von Androiden vollständig und korrekt?"
"Ich denke schon. Cay hat bislang noch keine Erläuterung
von sich gegeben, die nicht ausführlich und/oder korrekt
gewesen wäre..." Sie sah ihn amüsiert an. Cayvyn guckte
wieder einmal, als könne er kein Wässerchen trüben.
"Dann würde es mich interessieren, warum deine Einstellung
offenbar gänzlich von der der sonstigen FGS-Bewohner
abweicht."
"Keine Ahnung..." Acy zuckte mit den Achseln. Das
wußte sie wirklich nicht - aber sie hatte schon immer ziemlich
extravagante Positionen vertreten. "Wieso fragst du?"
"Anbetracht der offensichtlich üblichen Einstellung des
Großteils der FGS-Bewohner verwunderte mich das Faktum, daß
du anscheinend eine relativ enge Beziehung zu Cayvyn hast."
"So könnte man es auch formulieren", meinte
Acy und warf ihrem Lebensgefährten einen zärtlichen Blick zu.
Dieser ergriff ihre Hand und deutete einen formvollendeten Handkuß
an, was Alycia mit einem belustigten Kichern quittierte. Cayvyn war
einfach süß, befand sie.
"Was für eine Rolle hast du uns in deinem Spiel explizit
zugedacht?" erkundigte sich Shentay.
"Wenn ihr einverstanden seid, könnt ihr mir beim Aufbau
einer Einsatzbasis, sowie eines Raumschiffs behilflich sein. Auf jeden
Fall habt ihr hier erst einmal eine Bleibe, und wenn ihr irgendwann
einmal auf eigenen Beinen stehen wollt, steht es euch frei zu gehen, wo
immer ihr hingehen wollt. Bis dahin habt ihr hier eine
Tarnidentität als Butler beziehungsweise Dienstmädchen auf der
Villa Alycia."
"Das klingt akzeptabel", meinte Shentay, und Myriella
nickte zustimmend.
"Okay, also fangen wir an", beschloß Acy und stellte
ihre Kaffeetasse beiseite. "Wir müssen die Dreamsong
fertigmachen, damit wir uns für später ein anderes Raumschiff
organisieren können."
* * *
Es war Telaratag, der 3757/01/08 GZ, und die Dreamsong schwebte
im Schutz ihres neuen Tarnschilds aus dem Alpha-Hangar der Villa Alycia.
Shentay und Myriella waren zurückgeblieben und hatten sich als
Sir Cayvyn und Alycia Blade zurechtgemacht, während Cay und Acy
sich sicherheitshalber anderweitig getarnt hatten. Cayvyn hatte die
Haare schwarz eingefärbt, passend zu einem gleichfarbigen Overall,
und Alycia hatte sich zum Partnerlook mit ihm entschieden.
"Laut der Auslieferungsliste von Comtesse Chambleau läuft
der Raumer Flashlight heute vom Stapel. Er soll danach
unmittelbar von Tarishaan nach Ansikka überführt werden. Die
Flashlight ist ein sehr schönes Schiff, und es dürfte
uns relativ wenig Aufwand kosten, sie für unsere Bedürfnisse
umzubauen", meinte Alycia mehr zu sich selbst.
"Wir müssen nur zusehen, daß wir die
Flashlight unbeschädigt abfangen und zur Landung auf
Serajs IV/Kemtall zwingen. Kemtall ist zwar ziemlich unwirtlich, aber
man kann dort zur Not ein paar Wochen überleben", bemerkte
Cayvyn. "Und wenn wir die Überführungscrew dort
ausgesetzt haben, können wir immer noch die Weltraumpolizei
verständigen, daß sie die Typen auf Kemtall abholen
sollen."
"Hm-hm", machte Acy nachdenklich. "Meinst du, die
Kapazität des Traktorstrahlers reicht aus, um die
Flashlight einzufangen?"
"Ich denke schon. Zu dumm, daß wir das TM-System noch
nicht so weit einsatzfähig haben, um einfach an Bord zu springen.
Hm. Im Zweifelsfall müssen wir uns halt an das Schiff ankoppeln
und es nach alter Piraten-Manier entern."
"Im Ultraraum?!" meinte Alycia entsetzt.
"Natürlich nicht! Die Dreamsong ist durch den
USV schnell genug, um die Flashlight einzuholen. Wenn wir den
Traktorstrahler einsetzen, wird automatisch das Ultrafeld gestört,
und wir werden mitsamt dem anderen Schiff in den Normalraum
zurückfallen."
"Ich wollte schon immer eine Raumpiratin sein", seufzte
Acy amüsiert. "Wie sollen wir denn die Crew
überwältigen? Hm... Wie wäre es mit
Betäubungsgas?"
"An etwas in der Richtung dachte ich", stimmte Cayvyn ihr
zu. Er war in seinem Element. Fast ein Jahr hatte er darauf warten
müssen, seine Fähigkeiten auf diesem Gebiet unter Beweis
stellen zu können. Immerhin war er gemäß der
Firestar-Kristalle programmiert worden, und dieser war der genialste
Weltraumgangster in der gesamten FGS-Geschichte gewesen.
Wie hatte es ihn frustriert, als Acy damals auf Naravina darauf
bestand, daß er die ganzen geklauten Sachen diskret wieder
zurückbeförderte... Dabei war er selbst höchst
begeistert über seine Geschicklichkeit gewesen, sowohl Aylannas
Collier, als auch deren Armband und die Tiara verschwinden zu lassen,
als jene sie während eines abendlichen Dîners so offen zur
Schau stellte... Aber nein, Alycia meinte, so etwas gehörte sich
nicht für den 'Erben' eines naravinischen Herzogtums. Das war der
Augenblick, da er es zum ersten Mal bedauerte, diese Identität
angenommen zu haben.
Unsichtbar jagte die Dreamsong dem Treffpunkt mit der
Flashlight entgegen.
"In siebzehn Minuten erreichen wir Abfang-Entfernung",
bemerkte Alycia und war heilfroh, daß Cayvyn am Kurscomputer
saß und gegebenenfalls unverzüglich eingreifen würde.
Für einen Menschen wäre solch ein Rendezvouz-Manöver im
Ultraraum schlichtweg unmöglich gewesen.
"Aye, verstanden", bestätigte Cay und blickte
unverwandt auf den Monitor, der die Sensordaten in einer Geschwindigkeit
anzeigte, die Acy beinahe Kopfschmerzen verursachte.
Einige Minuten vergingen in angespanntem Schweigen, bis ein vage
deltaförmiger Reflex auf dem Ultrasensor erschien und immer klarere
Formen annahm.
"Flashlight voraus", bemerkte Cayvyn. "Ich
leite die Vektorangleichung ein."
Wenig darauf stimmten sowohl Geschwindigkeit, als auch Richtung der
beiden Raumer bis auf wenige, vernachlässigbare Dezimalstellen
überein.
"Ich empfange einen Funkspruch der Flashlight. Sie
wollen wissen, was unser Manöver soll..." Acy grinste ihren
Partner an. "Der Chef der Überführungscrew droht uns mit
einer Anzeige wegen Unterschreiten des Sicherheitsabstands..."
"Sage ihnen einen schönen Gruß, und laß sie
wissen, daß wir beabsichtigen, ihr Schiffchen zu
entführen", meinte Cayvyn mit einem unternehmenslustigen
Glitzern in seinen derzeit wieder sturmwolkengrauen Augen.
"Habe ich. Aber die Typen meinen, verarschen können sie
sich selbst..." Alycia kicherte in sich hinein.
"Nun gut. Ich aktiviere den Traktorstrahl", sagte Cay ein
wenig niederträchtig. Urplötzlich durchschoß Acy ein
Gefühl der ...Unwirklichkeit, das aber sofort wieder verging, und
statt der sanften Regenbogenschleier des Ultraraums waren nun wieder die
üblichen Sterne auf nachtschwarzem Samt auf dem Hauptbildschirm zu
sehen. "Wiedereintritt in den Normalraum vollzogen, Traktorstrahl
hält."
"Schaffen wir es, die Flashlight nach Kemtall zu
schleppen?"
Cayvyn runzelte die Stirn.
"Nicht bevor die Weltraumpolizei hier eintrifft. Sie
kompensieren über einen Sensor-Computer-Steuerungsverbund jede
Flugbewegung der Dreamsong. Zwar mit einer geringfügigen
Verzögerung, aber es wird uns nicht gelingen, sie abzuschleppen,
ohne unser Schiff völlig zu überlasten..."
"Ich habe verstanden..." Acy stand auf und wühlte
zwei Raumanzüge aus dem Schrank neben dem Gang zur Hauptschleuse.
"Wieviel Zeit haben wir bis zum Eintreffen der
Weltraumpolizei?"
"Deren nächste Einsatzbasis liegt auf Kenlusha
VII/Enkarion - falls sie sofort starten, wenn sie den Automatik-Notruf
gehört haben, sollten sie in drei Stunden hier sein. Wir
müssen die Besatzung überwältigen, die
Flashlight verstecken und dann deren Crew mit der getarnten
Dreamsong auf Kemtall absetzen."
"Klingt hektisch. Dann wollen wir lieber keine Zeit
verlieren", befand Acy, während sie den Sauerstoffvorrat des
Raumanzuges noch einmal checkte. Natürlich waren die
Atemluftpatronen und CO2-Filter vorschriftsmäßig erst zu
Beginn ihres Fluges gecheckt worden, aber im Weltraum war Vorsicht
besser als tot...
Cayvyn benötigte den Anzug eigentlich nicht, da er durchaus
begrenzte Zeit ohne Atemluft auskommen konnte, stieg aber dennoch in das
Teil. Er mußte ja nicht direkt alle seiner Fähigkeiten
preisgeben - und schon gar nicht bei seinem ersten Auftritt. Es
würde ohnehin genug Gerede geben, wenn es sich herumsprach,
daß ein Raumschiff im Ultraflug abgefangen und gekapert worden
war... Er schaltete die Dreamsong auf Autopilot und folgte Acy
in die Hauptschleuse, wo er den Desintegrator-Brenner in Empfang nahm,
der normalerweise dazu diente, im Falle eines Absturzes o.ä.
verbogene Metallteile zu zerschneiden. Aber zum Öffnen einer nicht
im Bauplan vorgesehenen Einstiegsluke ließ er sich auch verwenden.
Cay desintegrierte kurzerhand die Verriegelung einer Notschleuse und
schweißte die Luke anschließend hinter sich wieder zu, damit
die Schiffsatmosphäre nicht entwich, wenn er das Innenschott
öffnete. Nun blieb ihnen wirklich nichts anderes übrig, als
den Raumer einzunehmen, wenn sie ihn wieder verlassen wollten.
"Cay, du leitest das Betäubungsgas in die zentrale
Luftverteileranlage, und ich kümmere mich um die Leute in der
Zentrale. Es dürften eigentlich nur zwei Piloten sein, es sei denn
die Firma hat ihre normale Prozedur für
Überführungsflüge umgestellt."
"Wie du meinst..." Cayvyn machte sich sogleich auf den
Weg, während Acy, die die Pläne der Flashlight aus
dem Computer von Comtesse Chambleau entwendet hatte, einen
Wartungsschacht ausnutzte, um zu einer Ventilationsluke am Fuß der
Raumüberwachungskonsole zu kriechen.
Pfui Teufel, war das schmutzig da unten - und sowas bei einem
funkelnagelneuen Schiff! Alycia spähte vorsichtig in die Zentrale.
Die zwei Piloten standen mit dem Rücken zu ihr, und einer hatte
einen Mikroblaster auf das Zentraleschott gerichtet, bereit, alles
umzunieten, was von dort aus in den Leitstand einzudringen gedachte.
Der zweite Mann war unbewaffnet und sah hektisch vom Schott zum
Hauptmonitor, auf dem ein Übersichtsplan der Flashlight
abgebildet war und zurück. Zum Glück waren dort nur die
offiziellen Gänge angezeigt, stellte Acy erleichtert fest. Die
Kraucherei durch den Dreck hatte sich also doch gelohnt - obwohl der
Raumanzug sie ziemlich dabei behindert hatte.
Lautlos klappte sie das Ventilationsgitter beiseite und zog sich aus
der Öffnung auf den Boden der Kommandozentrale. Geräuschlos
schlich sie sich hinter den bewaffneten Mann und tippte ihm auf die
Schulter.
Völlig geschockt wirbelte dieser herum und krachte in einen
fürchterlichen Schwinger von Acy, woraufhin er erledigt zu Boden
ging - aber auch Alycia fühlte sich etwas mitgenommen, ihre Hand
war mindestens verstaucht. Während sie noch ihre
malträtierten Knöchel rieb und fürchterliche Flüche
ausstieß, erholte sich der zweite Gegner von der Überraschung
und beschloß, sich nun zur Abwechslung mal auf den Angreifer zu
stürzen. Ergo machte jetzt Acy ebenfalls mit dem Boden
Bekanntschaft und fand es gar nicht gut, daß der zweite Mann sich
kurzerhand auf sie setzte und somit zur Bewegungsunfähigkeit
verdammte. Mit zwei Handgriffen hatte er ihren Raumhelm entfernt und
war offenbar ziemlich erstaunt, ein weibliches Wesen dorten zu
erblicken. Auf jeden Fall gaffte er sie verdattert an, und Alycia
fürchtete schon, daß er sich den Kiefer dabei ausrenkte.
Endlich zischte das Betäubungsgas in die Kommandozentrale. Kurz
bevor Acy das Bewußtsein verlor, fand sie, daß ihre
Kampftaktik unbedingt einer Verbesserung bedurfte.
* * *
"Lisha!" Alycia erwachte mit einem
fürchterlichen Brummschädel, und auch ihre linke Hand
schmerzte gräßlich. Außerdem war ihr schlecht - und
überhaupt... Sie weigerte sich, ihre Augen zu öffnen. Was
war eigentlich los gewesen? Sie runzelte die Stirn, was das
Hämmern und Pochen just hinter dieser um noch einige Grade
verstärkte.
"Alycia!" Nein... Sie war nicht da, sie war weit, weit
weg!
Patsch, patsch - etwas schlug zunächst gegen ihre rechte, dann
gegen ihre linke Wange. Patsch! Plötzlich saß Acy
kerzengrade und schlug blindlings zurück. Treffer, dachte sie
befriedigt.
"Was soll das?" empörte sich Cayvyn.
"Du hast mich geschlagen", jammerte Acy. "Ich habe
Kopfschmerzen und Handschmerzen, und außerdem bin ich tot!"
Sie sank wieder in die Kissen zurück.
"Laut Medscanner sind deine Lebensfunktionen klar und deutlich
wahrnehmbar", machte Cayvyn sie irritiert aufmerksam.
"Cayvyn, ich brauche dringend etwas gegen meine Kopfschmerzen!
Und fürderhin hätte ich nichts dagegen, von dir getröstet
zu werden..." Sie rieb sich die Schläfen. "Wie lange war
ich eigentlich k.o.?"
"Sieben Stunden."
"Oh... Heißt das, du hast das Unternehmen alleine
durchgezogen?"
"Du warst ja leicht indisponiert", stichelte Cayvyn, was
ihm einen mörderischen Blick von Alycia eintrug.
"Wo ist die Flashlight?"
"Ich habe sie auf dem Mond von Serajs XIX in einer Felsspalte
versteckt. Sobald sich die Aufregung ob des dreisten Überfalls
etwas gelegt hat, werde ich sie von dort abholen. Zudem habe ich die
beiden Piloten mit einem Peilsender auf Kemtall abgesetzt, so daß
sie fast unmittelbar wieder eingesammelt werden konnten - und nun hat
die Weltraumpolizei vor wenigen Minuten eine Fahndungsmeldung
veröffentlicht... Da heißt es, daß eine 'schwarze
Raumpiratin' zugeschlagen hat... Es ist auch ein recht nettes
Phantombild von dir über den Äther gegangen. Offensichtlich
hast du einen ziemlichen Eindruck auf den einen Typen gemacht..."
Breit grinsend spielte Cay die Aufzeichnung der Fahndungsmeldung ab, und
ein wahrhaft ätherisches Konterfei erschien unter dem
'GESUCHT!'-Schriftzug. Wallende, tiefschwarze Haare, ebenso
kolorierte Augen und ein völlig ebenmäßiger, heller
Teint...
"Hups, soll ich das sein?" japste Acy
fassungslos.
"So entstehen Legenden..." deklamierte Cayvyn
süffisant.
"Aber ich habe doch gar keine schwarzen Augen! Meines
Erachtens sind sie ganz normal blaugrau!"
"Die menschliche Beobachtungsgabe ist nicht sehr präzise,
wie du wissen solltest", stellte Cayvyn fest. Mittlerweile hatte
Alycia ihre Kopfschmerzen ganz vergessen, sie schob nur noch Kohldampf.
Außerdem mußte sie mal dringend verschwinden...
* * *
Es war Temitag, der 3757/03/07 GZ.
Cayvyn und Shentay hatten ein provisorisches Tarnschild-Aggregat
zusammengebastelt, das sie behelfsmäßig in die
Flashlight einbauten, um diese ins Suune-System
zurückzubefördern. Mittlerweile hatte die Weltraumpolizei es
aufgegeben, im Serajs-System nach Flashlight oder den
Raumpiraten zu suchen; jene hatten sich offenbar gekonnt in Hochvakuum
aufgelöst.
Bereits wenige Stunden später kehrten die beiden Männer
zurück. Als die Flashlight ungetarnt im Beta-Hangar
stand, betrachtete Alycia ihr neues Schiff begeistert. Der Raumer war
etwa 50 Meter lang und bestach durch eine elegante, klare
Linienführung, sowie einen strahlend silbernen Schutzanstrich, auf
dem in verschnörkelten, dunkelgoldenen Lettern der Name
Flashlight aufgebracht war.
"Ich denke, als erstes werde ich dieser Schönheit einen
neuen Namen geben", beschloß Acy. "Was hältst du
von Silver Lightning, Cay?"
"Das klingt mir so nach Silver Arrow - und
das halte ich nicht unbedingt für ein gutes Omen, wenn man
bedenkt, wie dieser Raumer sein Leben aushauchte..." Alycia sah
Cayvyn amüsiert an. Ein Androide, der von Omen sprach?!
"Hm. Naja... Silver Star?" schlug sie vor.
"Wie wäre es mit Black Lightning?" meinte
Cayvyn belustigt. "Das wäre doch ein passender Name für
das Schiff der 'Schwarzen Raumpiratin'..."
"Haha!" machte diese und schnitt eine Grimasse. "Wie
wäre es mit einem Kompromiß - nur
Lightning?!"
"Okay." Cayvyn öffnete die Hauptschleuse über
die Fernsteuerung. "Zunächst einmal sollten wir die bei der
Kaperung beschädigte Notschleuse reparieren. Dann werde ich mich
darum kümmern, den Ultraraumschubverstärker an das
Haupttriebwerk anzuschließen. Shen, Myri, würdet ihr bitte
den Tarnschildprojektor fest einbauen? Dieses Provisorium im
Maschinenraum gefällt mir überhaupt nicht." Acy
betrachtete ihren Lebensgefährten mit hochgezogenen Augenbrauen.
"Und was, Mylord, habt Ihr mir zugedacht?"
"Mir scheint, ich kenne deinen Terminkalender besser als du
selbst - denk dran, daß du zur Aufsichtsratsversammlung der Blade
Enterprises mußt!" Acy zog eine Schnute.
"Ich hasse diese albernen
Aufsichtsratsversammlungen...! - Aber du hast recht, mein Schatz, ich
muß wohl oder übel da hin..."
"Wenn du wieder zurückkommst, werden wir bereits einen
Teil der Umbauten in die Wege geleitet haben. Schließlich hat
auch noch deine liebe Freundin Calris Geburtstag, falls du es nicht
schon wieder vergessen hast..."
"Bei der Verlorenen Schriftrolle der Dunklen Mutter -
sicher habe ich das vergessen... Hm... Ich hoffe, es steht
hier noch eins meiner Machwerke herum, das ich ihr schenken
könnte..."
Für ihr Image als exzentrische Milliardärserbin hatte
Alycia sich ein spleeniges Hobby überlegt, und zwar das Malen
exorbitanter abstrakter 'Kunstwerke'. Zu ihrer totalen
Überraschung gingen die Teile weg wie warme Semmeln - und das,
obwohl sie bestenfalls zwischen Hauptmahlzeit und Dessert entstanden.
Immer, wenn sich Alycia langweilte, griff sie zu Farben und Leinwand
und klatschte kurzerhand ein paar Kleckse auf den Untergrund. Dies,
zusammen mit einem möglichst esoterischen Titel, wurde von allen
Kunstkritikern bis zum Umfallen hochgelobt. Acy fand das Ganze
ausgesprochen witzig und fuhr munter fort, Leinwände mit Farbe zu
verschandeln. Außerdem hatte sie so immer Geburtstagsgeschenke
auf Lager...
"Mh, Cay, und ich kann dich absolut nicht dazu bringen, mich zu
begleiten? Diese Parties bei Calris sind immer so entsetzlich
öde!" Sie schmiegte sich verführerisch an ihn
und wuschelte in seinem kupferrotgoldenen Schopf herum.
"Keine Chance", bemerkte Cayvyn grinsend. "Sie ist
immerhin deine Freundin!"
"Naja, etwas anderes würde ich dir auch nicht geraten
haben", sagte Alycia und schlang die Arme um Cayvyns Mitte.
"Okay, ich weiß noch nicht, wann ich wiederkomme - unter
Umständen bleibe ich über Nacht in Calris' Domizil."
"In Ordnung. Bis dann!" Cay verabschiedete sich mit einem
ausdauernden Kuß von ihr, bevor er sich wieder der
Lightning zuwandte.
Nach lediglich drei Monaten war es ihnen dann gelungen, den Raumer
nach ihren Bedürfnissen umzubauen, und am 49. Meyari 3757GZ
starteten Cayvyn und Alycia zu einem ausgiebigen Testflug, der sie bis
in den Bereich der Planetenallianz Tamjira brachte.
Und nun galt es, eine geeignete Basis für ihr geplantes
Vorhaben zu finden. Am besten wäre wohl ein Asteroid im
Trümmerring zwischen den Planeten Suune VII/Kolshaan und Suune
VIII/Temirisa.
Gegenwart
Eniatag, der 3760/01/02 GZ.
Blackfire überprüfte noch einmal den Sitz ihrer
weißblonden, hüftlangen Perücke. Gut... Auch das
knallrote lange Kleid und die schwarzen Stiefel saßen perfekt.
Cayvyn trug einen grauen Coverall und hatte hellrotblondes Haar. So
wären sie sicherlich nicht wiederzuerkennen, befand Karylla.
Sie holte ein Kästchen Rohdiamanten hervor, die sie im Zuge der
Erschließung des Asteroiden, der nun ihre Basis Nightfall Station
beherbergte, gefunden hatte, und steckte das kleine Behältnis in
ihre Handtasche.
"Ich bin soweit, Cay - äh, Ryko!" sagte sie
und reichte ihm ihren Arm. Ryko lächelte ihr zu und hakte sie
unter.
"Ich habe unsere TM-Gürtel synchronisiert. Bei
gelb-gelb-grün materialisieren wir in einer abgelegenen
Seitenstraße", erläuterte Infinity.
"Dann los!"
Sie verstofflichten sich in einer verlassenen Gasse der Stadt Ilso
auf Solse IV/Enaryshavell. Zielstrebig schlug Ryko eine Richtung ein.
Nach einigen Minuten erreichten sie eine belebtere
Fußgängerzone, die von mehreren Transportbändern
gesäumt wurde. Acy runzelte die Stirn. Sie hatte gar nicht daran
gedacht, daß Ilso eine der größten Städte
Enaryshavells war... Inmitten der ganzen verschwenderisch gekleideten
Enaryshaner wirkte sie reichlich hinterwäldlerisch. Nun gut, dann
kam sie eben aus einem Dorf in Kancia, dem mehr landwirtschaftlich
genutzten Kontinent des Planeten, dessen Bevölkerung es als
unsittlich ansah, sich dem luxuriösen, automatisierten Leben der
Metropolen des Kontinents Tamincia hinzugeben... Alycia war ja
prinzipiell ein Stadtkind gewesen, aber ihre Jugend im Varieté
hatte dazu geführt, daß sie hauptsächlich unter Artisten
aufgewachsen war - und diese waren ja bekanntlich auch nicht das
Maß aller Dinge.
"Wie weit ist es noch?" erkundigte sie sich bei Ryko.
"Steig auf das Transportband, dann sind wir in fünf
Minuten da", erwiderte er. Mit einem Hüpfer stand sie auf dem
langsamsten der drei Bänder, und ihr Partner kam mit einem
großen Schritt hinterher. Ein Antigrav-Stützfeld fing sie
sicher ein, so daß sie sich nicht einmal darum bemühen
mußten, ihr Gleichgewicht zu halten.
"Da vorne ist es!" Ryko deutete auf ein schimmerndes
Gebäude aus Glas und Metalloplast, dessen Peripherie von einem
dezenten Holoschriftzug umlaufen wurde: Planetenbank Enaryshavell-Ilso.
"Jawohl..." Karylla kniff die Augen zusammen, als sie mit
Ryko das Transportband verließ. Endlich war der Zeitpunkt
gekommen, da sie mit Chenary Tharulla Ondavall abrechnen konnte!
* * *
Vergangenheit
Es war Tenmatag, der 34. Zameri 3743GZ.
Marycia Enylla Khyshisall stand vor dem zimmerhohen Spiegel in der
Suite ihres Hotels in Ilso. Sie streifte das juwelenbestickte
Kostüm über, das sie bei jedem ihrer Auftritte trug, bevor sie
ihren schweren Schmuck in das wallende, schneeweiße Haar flocht
und die übrigen Stücke um Hals und Arme legte.
"Lisha, wo steckst du?" Wie von Zauberhand stand ein
elfjähriges Mädchen vor ihr. Ihre Haare hatten nicht das
reine Weiß der Rhianna-Kaste von Emrhiann, und auch die Augen des
Mädchens waren eher von einem hellen Blaugrau denn von dem
leuchtend blauen Farbton derer von Emrhiann. Marycia lächelte.
Nichtsdestotrotz war Alycia Cherylla ihre Tochter, auch wenn sie
offenbar mehr nach ihrem Vater schlug.
"Hier, Marsha! Was gibt's?"
"Bist du immer noch nicht fertig? Denk dran, wir müssen
in zwei Stunden bei Monsieur Ondavall auftreten. Er wollte eine
Sondervorstellung - zum Geburtstag seines jüngsten Sohnes, wie er
mir sagte..."
"Ja, ich weiß..." Acy starrte auf den Sessel, auf
dem ihr glitzernder Gürtel lag und streckte eine Hand aus.
Unvermittelt hielt sie den Gürtel in derselben. Marycia nickte
anerkennend.
"Du wirst immer besser, Lisha! In vier Jahren kannst du den
Test der Würdigkeit ablegen, dann werden dich die Rhianna-Priester
richtig im Gebrauch deiner Gabe schulen."
"Muß das sein?! Ich habe aber keine Lust, zu
diesen Priestertypen zu gehen!"
"Warte erst einmal ab, Kleines", sagte Marycia lachend.
"Wo hast du die Umhänge schon wieder hingelegt?"
"Mh... Ich glaube, die hängen da drüben über
dem Sessel!"
"Gut. Also, Lisha, heute führen wir das kleine Programm
vor, das heißt, wir sind nach einer Stunde fertig. Wenn ich
Monsieur Ondavall recht verstanden habe, sind wir noch geladen, an
seinem Dîner teilzunehmen, und anschließend geht es retour.
Dann müssen wir schon wieder unsere Sachen packen, weil ich
Kolshatag in Kervall vorsprechen muß."
"Kervall?! Aber das ist doch in Kancia, wo es fast nur
Grünzeug gibt... Ich wußte gar nicht, daß man da
überhaupt auftreten kann..."
"Auch Kancia verfügt über ausgedehnte Städte,
Lisha. Zugegeben, die Leute dort ziehen ein naturverbundeneres Leben
vor, doch das hat nicht viel zu sagen."
"Mhm..."
* * *
Später am Abend, als Marycia und Alycia ihre Vorstellung beendet
hatten, wurden sie in einen kostbar ausgestatteten Raum geführt.
Marycia betrachtete die kunstvoll gestalteten Statuetten in den Vitrinen
und war fast versucht, das eine oder andere Exemplar dezent mitgehen zu
lassen, als Chenary Ondavall hereintrat.
Dieser war ein kleiner, untersetzter Mann in mittleren Jahren,
dessen früh ergrautes Haar einen ziemlich wüsten Kranz um
einen kahlen Fleck mitten auf dem Schädel bildete. Acy musterte
ihn stirnrunzelnd. Irgendetwas an dem Blick aus diesen grünbraunen
Augen gefiel ihr ganz und gar nicht.
"Ich war entzückt!" rief er enthusiastisch aus.
"Wahrlich, meine Liebe, und neben Ihrem überwältigenden
Talent sind Sie auch noch solch eine Augenweide -
Marycia..." Die Angesprochene verengte ziemlich irritiert
die Augen zu schmalen Schlitzen. Was erlaubte sich dieser Kerl?! Die
Tür öffnete sich, und eine ältere Bedienstete winkte
Alycia zu sich.
"Mädchen, möchtest du noch ein paar
Süßigkeiten?"
Alycia warf einen Blick zu ihrer Mutter herüber. Diese zuckte
mit den Achseln.
"Geh nur, Lisha. Ich habe ohnehin noch ein paar
geschäftliche Dinge mit Monsieur Ondavall zu besprechen." Als
Acy verschwunden war, machte Ondavall noch einen Schritt auf Marycia zu.
"Nur ein paar geschäftliche Dinge...?" fragte er mit
einem höchst beunruhigenden Unterton.
"Was erlauben Sie sich?" sagte Marycia eisig.
"Marycia Enylla Khyshisall - Sie glauben doch nicht im Ernst,
daß ich solch ein bezauberndes Geschöpf wie Sie wieder gehen
lasse..."
"Es wird Ihnen nichts anderes übrig bleiben, wenn Ihnen
Ihr Leben lieb ist. Denken Sie daran, ich bin eine Rhianna, und ich
könnte Sie mit einem Gedanken in Stücke reißen!"
"Das würde ich Ihnen nicht raten, meine Liebe... Ich habe
Anweisung gegeben, daß Ihrer Tochter ein höchst unangenehmes
Geschick zuteil wird, wenn mir irgendetwas zustößt... - Und
ebenso weiß Ihr Töchterchen, daß Sie jegliches
Fehlverhalten ihrerseits ausbaden dürfen. Sie sehen, Marycia, Sie
gehören mir!"
"Sie sind das bösartigste Individuum, das..."
"Aber, aber, meine Liebe... Es wird Ihnen hier
äußerst gut gehen. Ich werde es Ihnen an nichts fehlen
lassen, und wenn Sie immer brav sind, liegt ein Leben voller Luxus und
Annehmlichkeiten vor Ihnen..." Er setzte ein niederträchtiges
Lächeln auf, und Marycia funkelte ihn in ohnmächtiger Wut an.
"Lieber sterbe ich, als in solch einem Gefängnis
dahinzuvegetieren!"
"Das sollten Sie sich gut überlegen. Denn dann wird auch
Ihre Tochter sterben - und es wird kein angenehmer Tod für das
Mädchen werden..."
Ondavall taxierte Marycia noch einmal abschätzend bevor er sich
abwandte und den Raum verließ. Die Tür war noch nicht einmal
verschlossen, stellte diese erbittert fest, als sie das Sensorfeld
berührte. Eine junge Frau im Kleid eines Dienstmädchens trat
zu ihr.
"Madame Khyshisall, der gnädige Herr hat uns mitgeteilt,
daß Sie zu bleiben wünschen?" Sie strahlte die
Illusionistin an, und Marycia entschied, daß sie offenbar keine
Ahnung von Ondavalls Erpressung hatte. "Bitte kommen Sie mit, ich
werde Ihnen Ihre Gemächer zeigen! Einer der Hausdiener ist bereits
unterwegs, Ihre Habseligkeiten aus dem Hotel abzuholen."
"Danke..." sagte Marycia abwesend. Sie hatte die
Situation noch gar nicht so richtig realisiert. Gefangen?! 'Oh, Dunkle
Mutter der Verlorenen Schriftrolle, was hast du mir angetan?'
Sie wurde in eine prächtig ausgestattete Suite geführt,
und das Dienstmädchen meinte:
"Wenn Sie etwas wollen, dann können Sie nach mir klingeln,
Madame."
"Ja ja - danke..." entgegnete ihr jene leise, und die Frau
machte einen Knicks und zog sich zurück.
'Das, was ich will, können Sie mir ohnehin nicht bringen',
dachte Marycia und ließ sich auf das Bett fallen. Irgendwie
mußte sie wieder hier herauskommen - aber ohne Lisha dabei in
Gefahr zu bringen!
* * *
Gegenwart
Eniatag, der 3760/01/02 GZ.
Gemeinsam betraten Blackfire und Infinity die Planetenbank
Enaryshavell-Ilso. Das Interieur des Gebäudes war, ebenso wie das
Äußere, im Stil des späten 37. Jahrhunderts gehalten.
Aufwendige Designer-Innenarchitektur mit halbdurchsichtigen
Metalloplastmöbeln wurde von sorgfältig getrimmten
sinhalonischen Dschungelpflanzen ergänzt und von der Decke her in
sanft orangegetöntes Licht getaucht. Der Türrahmen am Eingang
schimmerte in schwach bläulichem Licht, das Standard-Abtastfeld auf
Waffen und ähnliche Gegenstände. Als Ryko unbeanstandet
passierte, atmete Karylla auf. Seine 'Isolierung' war also
tatsächlich gut genug, und auch seinen Miniscanner hatte der
Abtaster übersehen. Gut.
Die beiden schlenderten zum Informationsschalter, der von einem
jungen Enaryshaner besetzt war.
"Sie wünschen, bitte?" erkundigte er sich
geschäftsmäßig. Karylla kramte in ihrer Handtasche
herum und zog das Kästchen mit den Steinen hervor.
"Mein Freund ist Prospektor im Saluna-System", sie warf
Ryko einen strahlenden Blick zu, "und er hat mir einige seiner
schönsten Rohdiamanten geschenkt. Nun halte ich es aber nicht
für sinnvoll, diese bei mir zu Hause zu deponieren. Eine Freundin
empfahl mir diese Bank, weil sie meinte, hier wären die Steine am
besten aufgehoben..."
"Sie wollen also ein Tresorfach mieten?"
"Ja, genau das!"
"Dann warten Sie bitte einen Moment, ich werde einen Kollegen
verständigen, der mit Ihnen die Modalitäten
abklärt."
Wenige Minuten darauf erschien ein anderer Angestellter. Alleine
daraus war zu ersehen, daß dieses Institut hochangesehen war, denn
nur größere Firmen u.ä. konnten es sich leisten,
Menschen für solcherart Tätigkeiten einzustellen.
Normalerweise wurde sogar der Publikumsverkehr von einfachen
Dienstleistungsandroiden abgewickelt.
Karylla und Ryko folgten dem Mann zu einer Privatsphäre. (Dies
ist ein von einem Solido-Energiefeld abgeschlossener Raum, der schall-
und abhördicht ist.)
"Bitte, setzen Sie sich doch. Ich bin Ginery Lerulla
Elaioll..." Blackfire und Infinity leisteten der Aufforderung
Folge.
"Ich bin Amelycia Unnila Saritoll."
"Hilyko Varella Eskevall", nannte Ryko den erstbesten
enaryshanischen Namen, den sein Zufallsgenerator produzierte.
"Sehr erfreut, Madame et Monsieur... Ihr Anliegen war das
Mieten eines Tresorfaches?"
"Richtig!" Karylla nahm das Kästchen, das sie immer
noch in der Hand hielt und öffnete es, wobei sie die diversen
Rohdiamanten auf dem Schreibtisch ausleerte. Elaioll wurde blaß,
das war ihm in seiner Karriere auch noch nicht vorgekommen. Hastig
bemühte er sich, die Steine von seinen Papieren herunter und in das
Kästchen zurückzubefördern.
"Dafür", fügte Blackfire noch
erläuternd hinzu, und sah ihn mit einem möglichst naiven
Gesichtsausdruck an.
'Hoffentlich habe ich das glaubhaft hingekriegt', dachte
sie, innerlich kichernd. Auch Ryko hatte Mühe, die Fassung zu
bewahren. Seine Partnerin schaffte es immer wieder, die internen
Barrikaden zu unterlaufen, die sein Emotio-Zentrum von seinem
voll-rationalen Computergehirn abschotten können sollten.
"Nun", begann er in allerbestem Saluna-Platt, bevor er
offenbar mühsam nach Starlingua wechselte, welche er immer noch mit
dem Slang der salunischen Prospektoren spickte. "Die Steinchn
solltn hier gut aufgehobn sein, meinte mein Ameli-Schatz, nicht? Aber -
und das müssn Se mer nicht übelnehmen, nicht - wenn'ch mer
erstmal Ihrn Raum mit dem Tresorfächern ansehn will. Das wird doch
wohl möglich sein, nicht?"
"Aber sicher! Schließlich müssen Sie sich auch
selbst davon überzeugen können, daß Ihre
Wertgegenstände korrekt und sicher verwahrt werden. Allerdings ist
es dabei stets unabdingbar, daß ein Angestellter dieses Instituts
Sie zu den Tresorfächern begleitet."
"Das wird schon in Ordnung gehen", meinte Karylla und
nickte heftig. Ryko war einfach gut! Daß sie sich nicht vor
Lachen ausgeschüttet hatte, war nur eisernster Konzentration auf
ihr Vorhaben zu verdanken gewesen. Ginery Elaioll erhob sich, nachdem
er sichergestellt hatte, daß alle Steine wieder sicher in Karyllas
Behältnis verschwunden waren.
"Wenn Sie mir nun bitte folgen würden?" meinte er,
nachdem er ein paar Worte mit jemandem am Viphon gewechselt hatte. Da
er die Privatsphäre aktiviert hatte, war es selbst Ryko
unmöglich, etwas zu hören. Blackfire und Infinity trotteten
hinter dem Angestellten her, der sie zu einem altmodischen Kabinenlift
führte. Karylla runzelte die Stirn. So dumm war das mit dem
Kabinenlift gar nicht, überlegte sie. Im Falle eines
Überfalls brauchte das Teil lediglich blockiert werden, und niemand
kam an die unteren Etagen mit den eigentlichen Wertsachen heran. Hm.
Diese Bank auszunehmen, mochte sich als komplizierter erweisen, als sie
zunächst gedacht hatte. Mal sehen, was Ryko mit dem Miniscanner
herausgefunden hatte.
Sie erreichten eine monumentale Panzertür, die bestimmt einer
von diesen antiken, im Geschichtsunterricht ab und zu erwähnten,
Nuklearbomben standhalten würde. Dahinter zweigten mehrere,
ebenfalls von solchen Schotts geschützte Gänge ab. Elaioll
zückte eine Codekarte, eine weitere Schlüsselkarte und
führte eine komplizierte Prozedur an dem Türschloß
durch, die über eine Sensorüberprüfung seiner
Fingerabdrücke bis zur Eingabe eines Passwords ging. Ryko und
Karylla wechselten einen amüsierten Blick. Ondavall war offenbar
ein echter Sicherheitsfanatiker. Geraume Zeit später standen sie
in einem ausgedehnten Tresorraum, in dem sich Tresorfach an Tresorfach
reihte.
Ginery Elaioll steuerte zielstrebig auf eine der Türen zu und
entnahm einem Schlitz zwei Codekarten.
"Ich denke, Sie wollen beide Zugriff auf den Safe haben?"
"Klaro", bestätigte Ryko.
"Gut. Dann fangen wir mit der Dame an. Geben Sie ihren Namen
zweimal in das Tastenfeld ein. Gut. - Jetzt wählen Sie ein
Password aus; das müssen Sie ebenfalls zweimal eintippen. Fertig?
Gut. Dann legen Sie Ihre Hand - die rechte bitte! - auf das
Sensorfeld. So, nun müssen Sie noch einmal Ihren Namen und das
Password eingeben... Jetzt warten Sie kurz!" Der Mann steckte die
Codekarte in einen anderen Schlitz neben der Tastatur. "So, und
wenn Sie an das Fach wollen, müssen sie zunächst Namen und
Password eingeben, woraufhin Sie die Codekarte in das Lesegerät
eingeben können. Wenn diese Prozedur ordnungsgemäß
abgelaufen ist, wird über den Sensor das Türschloß
freigegeben. Ist das soweit klar?"
"Entschuldigen Sie, Monsieur - äh, wie war noch Ihr
Name?"
"Ginery Elaioll", half ihr der Bankangestellte aus.
"Ja, Monsieur Elaioll - könnten Sir mir das bitte noch
einmal erklären? Es ist mir leider etwas zu schnell
gegangen..." Elaioll sah sie leicht gestreßt an, wiederholte
seine Vortrag aber pflichtschuldig noch einmal.
"Ich danke Ihnen... So, lassen Sie es mich nun
probieren!" Karylla steuerte auf das Fach zu und hantierte daran
herum. Nach etwa einer Minute stand sie immer noch vor der fest
verschlossenen Safetür. "Es funktioniert nicht",
beschwerte sie sich. Elaioll eilte zu ihr hin und besah sich die
Bescherung, während Ryko unauffällig den Raum untersuchte.
"Lassen Sie mich einmal sehen! - So, geben Sie einmal Ihren
Namen und Ihr Password ein... - Da haben wir es! Sie haben sich beim
Password vertippt!"
"Nein, das kann gar nicht sein. Ich tippe es genau so, wie ich
es zuerst eingegeben hatte."
"Aber Madame... Sie sehen doch genau, daß Ihre Eingabe
als inkorrektes Password abgelehnt wird!"
"Oh... Oder sollte ich mich am Anfang vertippt haben?"
Karylla sah den Mann betont hilflos an.
"Moment, ich bringe das in Ordnung..." Elaioll -
mittlerweile schon reichlich enerviert - löschte Karyllas
Eintragung aus der Password-Datei. "So, jetzt können Sie ein
neues Password eingeben..."
"In Ordnung. - Aber nicht Hingucken!" Der Bankangestellte
gab einen tragischen Seufzer von sich.
"Madame, es ist mir völlig gleichgültig, was Sie da
eingeben..."
"Scht! Sehen Sie, was Sie angerichtet haben. Ich habe mich
schon wieder vertippt..."
Nach bestimmt einer Viertelstunde war sie endlich fertig - und
Ginery Elaioll ebenfalls, aber eher mit den Nerven... Karylla war
überaus stolz auf ihre Verzögerungstaktik. Wenn es hier
irgendwelche Schwachstellen geben sollte, hatte Ryko sie nunmehr
bestimmt entdeckt.
Unmittelbar darauf war auch ihr Partner versorgt, und die
Rohdiamanten lagen im Tresorfach. Als die zwei abgezogen waren, atmete
Elaioll erleichtert auf und beschloß, sich zunächst einmal
eine ausgiebige Kaffeepause zu gönnen.
* * *
Blackfire und Infinity schlenderten aus dem Gebäude und nahmen Kurs
auf den nahegelegen Stadtpark von Ilso. Sie ließen sich auf einer
Parkbank nieder, und Ryko legte einen Arm um die Schultern seiner
Partnerin.
"Nun, mein Schatz, was hast du herausgefunden?" wollte
Karylla von ihm wissen.
"Ein 'normaler' Einbruch wäre viel zu aufwendig. Bis wir
alle Wertsachen eingesammelt hätten, wäre soviel Zeit
vergangen, daß die Weltraumpolizei noch diverse Jobs zwischendurch
erledigen müßte, um uns nicht zu erwischen... Also,
auf Anhieb sehe ich keine Chance."
"Hm..." Karylla spähte zu dem Bankgebäude
herüber. "Ich habe da eine ganz verrückte Idee..."
"Was sonst?!" Ryko starrte in den fliederfarbenen Himmel
von Enaryshavell. Nur ein paar Schleierwolken zauberten ätherische
Muster hinein.
"Wenn wir schon nicht die Bank ausrauben können -
ja, warum sollten wir dann nicht einfach die ganze Bank
rauben?"
"Karylla, habe ich deine Äußerung richtig verstanden
- du willst das ganze Gebäude mitgehen lassen?!"
"Warum nicht?!" fragte sie treuherzig zurück.
"Du bist verrückt! Wie willst du das denn
anstellen?"
"Naja, wozu hat die Lightning einen
leistungsfähigen Traktorstrahler?!"
"Leider wird dieser nicht ausreichen, das Bankgebäude von
seinem Fundament zu lösen."
"Naja, so vielleicht nicht - aber wenn wir das
Fundament untergraben und Treibsätze an strategisch sinnvollen
Positionen anbringen..."
"Ach, du willst ganz einfach zur Bank gehen und anfangen, das
Grundstück mit Tunnels zu unterminieren?!"
"Wir könnten uns zunächst einmal die Kanalisation
ansehen und von dort aus anfangen, weitere Tunnels zu graben."
Ryko sah seine Partnerin nachdenklich an.
"Weißt du was, Kary?! Das könnte sogar
funktionieren..."
"Natürlich weiß ich das! Also komm, mein Schatz -
sehen wir uns die Angelegenheit vor Ort an." Sie blickte sich
suchend um, um die nächste Wartungsöffnung des
Kanalisationssystems ausfindig zu machen.
"Karylla, denk dran, wir benötigen auch noch dieses
'Beweismaterial' gegen Ondavall. Was hältst du davon, wenn ich
mich darum kümmere, während du die Lage unter dem
Bankgebäude sondierst?"
"Hm..." machte Blackfire stirnrunzelnd. Wenn es etwas
gab, was sie abgrundtief verabscheute, dann war das - außer
Spinnen u.ä. - ekliger Gestank. Es wäre ihr eindeutig lieber
gewesen, wenn Ryko sich erboten hätte, diesen Job da unten zu
übernehmen. "Na gut. Aber ich werde mir zunächst einmal
die Bauunterlagen des Gebäudes verschaffen, damit ich genauer
abschätzen kann, wo die einzelnen Treibsätze angebracht werden
müssen."
"In Ordnung. Nebenbei, hat Chenary Ondavall irgendwelche
Familie?"
"Irgendwelche ist gut... Er gehört zur Kaste der Erhsammi
von Fah-Ilso... Du weißt doch, daß auf Enaryshavell sehr
viel Wert auf Abstammung gelegt wird - und die Erhsammi gehören
einer der Ur-Religionen an, in der noch Erhsa, die Vielmutter und Ammy,
der Vielvater verehrt werden. Die Erhsammi haben als eins ihrer
obersten Prinzipien das 'Mehren aller Dinge' in ihre Kastengesetze
einbeschrieben. Dazu gehört unteren anderem der Besitz, ebenso wie
Ehegatten, Nachkommen etc. Das ist auch der Grund dafür, daß
die Erhsammi-Kaste schon längere Zeit verpönt ist. Sie gehen
ihren Leitsätzen auch nur noch im Verborgenen nach. Naja, um auf
deine Frage zurückzukommen - Ondavall betreibt eine Art 'Harem' ,
zu dem aber auch noch weitere männliche Personen - Ehegatten
einiger der Frauen - gehören. Alles in allem sind
Erhsammi-Familienangelegenheiten für Außenstehende so gut wie
undurchschaubar..."
"Ich stelle fest, daß ich unbedingt noch einige Daten
über Enaryshavell sammeln muß", bemerkte Ryko
fasziniert. "Wie viele dieser Kasten gibt es denn hier?"
"Mehrere tausend. Aber ich glaube, die sind bei weitem nicht
alle katalogisiert. Die bekanntesten sind die Arishanna, die etwa 60
Prozent aller Enaryshaner ausmachen. Diese sind der Religion des
Schicksalsmeisters verbunden und haben sonst eigentlich wenige Maximen
außer dem kategorischen Imperativ, also vereinfacht gesagt, die
Regel, daß man sich allen Wesen gegenüber so verhalten soll,
wie man möchte, daß diese sich einem selbst gegenüber
verhalten."
"Klingt höchst vernünftig", meinte Ryko.
"Leider halten sich die wenigsten daran", seufzte Karylla
und legte ihren Kopf an Rykos Schulter.
"Ich dachte, diese Grundsätze der 'Kasten' wären
verbindlich, wenn man einer derselben angehört...?"
"Da die Kastenzugehörigkeit durch die Geburt festgelegt
ist, sind die meisten Mitglieder gar nicht unbedingt aus
Überzeugung zugehörig. Ich bin ja auch nur Rhianna, weil
meine Mutter eine Rhianna-Priesterin war. Sicherlich gibt es immer
wieder Leute, die diese Prinzipien über alles andere stellen - aber
die sind recht selten. Obwohl, die Rhianna-Kaste ist ohnehin ein
ziemlicher Ausnahmefall. Da sie - neben vielleicht zehn oder elf
anderen - zu den wenigen Kasten gehört, in denen noch die
PSI-Fähigkeiten der alten Zeit erhalten geblieben sind, ist sie
eine 'geschlossene' Kaste, das heißt, die Priester behalten es
sich vor, Bewerber anzunehmen oder abzulehnen. Voll-Kinder der
PSI-Kasten haben auf jeden Fall die jeweiligen Talente, während
aber Halb- und neveshell-Kinder erst einen 'Test der Würdigkeit'
ablegen müssen, um zu zeigen, daß sie von ihrem
Kasten-Elternteil die Gabe geerbt haben. Ich habe zwar den offiziellen
Test nie abgelegt, aber meine Mutter hat mich schon relativ früh
getestet und begonnen, mich teilweise auszubilden, daß der Test
für mich mehr Formsache gewesen wäre."
"Höchst interessant. Kary, wird diese
Kastenzugehörigkeit eigentlich durch äußere Merkmale
kenntlich gemacht?"
"Das ist von Kaste zu Kaste verschieden. Die meisten
reinblütigen Rhianna haben schneeweißes Haar und
leuchtendblaue Augen. Die Kershi erkennt man an einem kunstvoll
verzierten Dolch, den sie rechts am Gürtel tragen, Mharenni
schmücken sich mit blau-gold-bestickten Stirnbändern - es gibt
noch so viele Dinge... Die Arishanna wiederum haben kein besonderes
Merkmal, ebensowenig Ishalli oder Shivenna... Aber ich glaube, das sagt
dir momentan nicht allzuviel."
"Korrekt. Ich werde den entsprechenden Datenkomplex zu
gegebener Zeit genauestens examinieren. Ach - gibt es ein
Erkennungsymbol dieser Erhsammi?"
"Hm..." Karylla dachte kurz nach. "Ich bin mir nicht
ganz sicher - über die ist so wenig bekannt... Aber ich entsinne
mich, daß meine Mutter eine Tätowierung erwähnte, die
Ondavall an der Innenseite seines linken Unterarms trug - einen roten
Lhairann-Vogel, der durch einen Bogen grüner Shatram-Ranken flog.
Der Lhairann ist das uralte Symbol Ammys, während die Ranken
für Erhsa stehen, so würde ich es zumindest annehmen. -
Ähm, Ryko, diesmal hast du was Verrücktes vor, das
habe ich im Gespür!" Sie richtete sich wieder auf und
erforschte Rykos Gesichtsausdruck. Jee, was ein Pokerface betraf, war
er wirklich unschlagbar! "Sag bloß, du willst dich bei
Ondavall einschmuggeln?"
"Wir benötigen schriftliche Unterlagen von ihm, um die
'Beweise' zu fälschen", erinnerte er sie. "Ich werde
einmal Nachforschungen anstellen, um exakte Infos über die
Erhsammi-Kaste zu erlangen. Dann wurde ich versuchen, mir einen Zugang
zu Ondavalls Haushalt zu verschaffen..."
"Ryko! Untersteh dich, auch nur den Gedanken
zu verfolgen, dich kurzfristig Ondavalls Familienclan
anzuschließen!" Karylla funkelte ihren Partner höchst
ungehalten an.
"Warum nicht?"
"Ähm - nun... Da herrschen ziemlich zügellose
Sitten", begann Blackfire zögernd. "Ich könnte die
Vorstellung nicht ertragen, daß du und eine andere Frau... -
Verdammt, Ryko, ich liebe dich!"
"Sch, Kary..." Ryko lächelte sie an und gab ihr einen
zärtlichen Kuß. "Du kannst sicher sein, daß ich
nichts tue, was dich verletzen würde."
"Hm... Naja..." Karylla musterte ihn eher zweifelnd.
Vielleicht nicht absichtlich - aber er hatte sich ja schon so
einige Sachen geleistet...
Sie beschloß aufzustehen und räkelte sich erst einmal.
"Aah... Ich glaube, wir sollten uns langsam einmal
aufmachen..." Insgeheim stellte sie sich vor, was wohl ihre
Halbschwester dazu sagen würde, daß sie hier in aller Ruhe
einen größeren Coup plante.
Nardia war doch immer so schrecklich auf ihren Ruf bedacht und was
'die Leute' sagten... Sie fand es ja schon schrecklich genug, daß
sie, Acy, so 'furchtbar exzentrisch' war... Ob Nardia es jemals merken
würde, daß sie und Blackfire bzw. Infinity und Cayvyn ein
und dieselben Personen waren?!
Karylla dachte belustigt daran, wie sie damals ihrer Schwester
Cayvyn vorgestellt hatte...
* * *
Vergangenheit
Es war Ensitag, der 3756/04/05 GZ.
Alycia beschloß, mit ihrer 'neusten Errungenschaft' von
Naravina nach Tarishaan zurückzukehren. Sie sandte einen
Funkspruch gen Blade Manor, das monumentale Gebäude, in dem Nardia
Ashni Blade residierte, wo sie ihre Halbschwester vermutete.
"Nardia?" Sie starrte gebannt auf den Monitor.
"Humpf!" ertönte es. Kein Bild erschien.
"Hm?" Acy beugte sich ein Stückchen vor und klebte
förmlich mit der Nase am Schirm. "Ich sehe dich nicht. Ist
dein Sender defekt?"
"Nein."
"Oh. Ich wollte fragen, ob ich gleich mal bei dir vorbeikommen
könnte. Weißt du, ich habe eine aufregende
Neuigkeit..."
"Jetzt?" ertönte es entsetzt.
"Warum nicht?"
"Es ist 3 Uhr morgens!"
"Oh. Als ich von Naravina startete, war dort
Vormittag..."
"Grummel... Nun gut. Jetzt bin ich eh wach!"
"Fein! Ich lande in einer halben Stunde bei dir!"
Sie unterbrach die Verbindung und leitete - nach dem obligatorischen
Fight mit der Raumüberwachung und Luftraumkontrolle - die Landung
ein.
* * *
Schwungvoll stürmte Alycia die Freitreppe zum Eingangsportal von
Blade Manor empor. Cayvyn mußte sich beeilen, ihr zu folgen. Es
war wirklich noch stockdunkel, aber zum Glück wurde das Areal Blade
Manors hell erleuchtet.
Mit einer Berührung der Sensorplatte glitt die Tür auf.
In der Empfangshalle stand Anthony herum, der ebenfalls gerade von
irgendeiner Unternehmung zurückgekehrt war.
"Hi Tony! Solltest du nicht längst im Bett sein?"
begrüßte Alycia ihren Halbbruder, der unschuldig gen Decke
schaute, bevor er einen raschen Abflug machte. Nardia wollte er doch
lieber nicht um diese Zeit und in diesem Aufzug über den Weg
laufen. (Er trug einen ...extravaganten Glitzeranzug und seine Frisur
war - nun ja, gestylt...)
Nardia schwebte ziemlich verschlafen die Treppe herunter.
"Tolles Nachthemd", stellte Acy fest. Es war ein
weißes Spitzenteil und sah nachgerade verwegen aus. Cayvyn hob
fasziniert eine Augenbraue. Es erschien ihm sehr rätselhaft, wie
dieses Kleidungsstück hielt.
"Seid mir begrüßt, Lady Nardia!" meinte er
amüsiert.
"Müßte ich Euch kennen?" erkundigte sich diese
stirnrunzelnd.
"Nein!" rief Acy. "Deshalb wollte ich ja
bei dir vorbeikommen... - Nad, darf ich dir Sir Cayvyn vorstellen? Er
ist mein" - Jee... Acy beschloß, sowohl Cay als auch Nardia
zu schocken. Das geschah ihm nur recht. Er hatte es ja so gewollt...
"Hm... Lebensgefährte!" Cayvyn sah Alycia
höchst fasziniert an.
"Ach?!" Nardia musterte diesen eher desinteressiert.
"Wieso 'ach?!'?" Acy war ein wenig irritiert. "Sir
Cayvyn ist meine große Liebe!"
"Nur so... - Sehr erfreut, Sie kennenzulernen", bemerkte
Nardia und gähnte diskret.
"Ganz meinerseits, Lady Nardia", verkündete Cayvyn
und machte eine stilvolle Verbeugung.
"Also, irgendwie bist du heute nicht sehr
gesprächig", stellte Alycia verwundert fest und betrachtete
ihre Schwester nachdenklich. War sie vielleicht krank?
"Grummel, grummel", ertönte es aus Richtung Treppe.
"Ach, du bist müde! - Okay, dann komme ich in 3
Stunden noch mal vorbei - du hast doch Zeit, oder?"
"Da kannst du doch gleich hierbleiben!"
"Gute Idee! Wenn ich mit dem Schiff jetzt zur Villa und wieder
zurückflöge, hätte ich eh kaum Zeit, um mich umzuziehen
et cetera... Welche Bleibe weisest du mir zu?"
"Das violette Zimmer!"
"Na gut. Auch wenn es sich mit meiner Haarfarbe
beißt..."
Acy schwebte davon, und Cayvyn trottete hintendrein. Völlig
geschafft wankte Nardia wieder in Richtung ihres Schlafgemachs
zurück.
* * *
Am nächsten Morgen wurde lautstark zum Frühstück gegongt.
Alycia wäre beinahe aus dem Bett geflogen.
'Arme Nardia, kein Wunder, daß sie immer so gestreßt
ist', dachte sie.
Etwa 50 Minuten später begaben Acy und Cayvyn sich nach unten.
Alycia konnte diese Speisehalle immer noch nicht ausstehen. Der Saal
maß gute 20 x 10 Meter, und die Tafel paßte sich diesen
Ausdehnungen perfekt an. Sie war zwar nicht ganz so gewaltig wie die im
Burgschloß zu Süd-Ayryana, aber es hatten dorten trotzdem
bestimmt hundert Leute Platz, und so wirkte der gewaltige Tisch bei den
nur vier Gedecken etwas unterfordert. Wenigstens mußte hier nicht
jeder an einer Seite Platz nehmen, dachte Acy erleichtert.
Nardia saß bereits an ihrem Stammplatz und wartete. Anthony
schlief noch - woran das bloß lag?
"Moin, Nad!" Nun war es an Alycia, eher unausgeschlafen zu
sein, denn solch unmotivierte paar Minütchen Schlaf zwischendurch
konnten einen müder machen als alles andere, dachte sie verstimmt.
Sie musterte Cayvyn stirnrunzelnd. Tsayée! Vielleicht
hätte sie doch lieber ganz wach bleiben sollen... Nardia
grinste sie an.
"Morgen!"
"Ebenfalls einen Guten Morgen, Lady Nardia", wünschte
Cayvyn dieser frisch, munter und ausgesprochen gutgelaunt.
'Graa', dachte Acy. Es war frustrierend. Androiden waren einfach
durch nichts kleinzukriegen! Naja, aber andererseits hatte das auch so
seine Vorteile... Nachdem die Begrüßungsrunde zur
allseitigen Befriedigung abgeschlossen war, nahmen auch Acy und Cay
Platz. Gähnende Leere auf der Tafel - außer den schon
erwähnten vier Gedecken, versteht sich.
"Wo bekomme ich hier einen Kaffee?" fragte Alycia leidend
und spähte sehnsüchtig in ihre leere Tasse. "Am besten
ein bis zwei Kannen..."
"Bestellen!"
"Bei wem?"
Nardia drückte ihrer Schwester eine Menükarte in die Hand.
Nebst einer opulenten Auswahl gab es zu jedem Punkt ein Sensorfeld, mit
dessen Betätigung man die jeweilige Bestellung aufgeben konnte.
Acy drückte sicherheitshalber gleich dreimal auf den Punkt
Kaffee.
Nach zwei Minuten erschien ein Dienstmädchen und schob eine
Schwebetablett mit immerhin drei großen Kannen Kaffee vor
sich her.
"Oh", kommentierte Alycia diese Entdeckung. Aber
wenigstens würde sie nicht verdursten.
Die folgenden Minuten vergingen in schweigender Vernichtung diverser
Nahrungsmittel, vornehmlich eben jenes Kaffees.
"Wie bist du eigentlich auf die Idee gekommen, mich zu
besuchen?" wollte Nardia nun wissen.
Im Prinzip war Alycia hauptsächlich neugierig gewesen, ob es
irgendjemandem auffiele, daß Cayvyn kein menschliches
Wesen war. Obwohl... Vielleicht hätte sie sich da ein
geeigneteres Testobjekt aussuchen sollen als ihre Schwester, die ja eh
an fast gar nichts Interesse zeigte und auch so wohl nicht die beste
Beobachterin war. Ts. Naja. Auf jeden Fall fiel es dann wohl nicht
ganz so sehr auf, wenn sich Cayvyn vielleicht doch mal etwas seltsam
benahm - obwohl er die Angelegenheit auf Naravina eigentlich mit Bravour
hinter sich gebracht hatte.
"Nun... Weißt du... Ach, ich hatte ja gar keine
Ahnung, daß sich mein Leben so einschneidend verändern
würde, als ich diesen kleinen Abstecher nach Naravina machte...
Seufz!" Alycia warf Cay einen glutvollen Blick zu. "Aber als
ich ihn dorten entdeckte..." Sie gab einen noch
tragischeren Seufzer von sich.
"Wie interessant!"
"Nicht? Hach, es war Liebe auf den ersten Blick!" 'Naja,
obwohl ich ihn immer noch manchmal erdolchen könnte', dachte Acy
eher grimmig. Cay hatte Probleme, eine feierliche Miene beizubehalten,
und Nad sah verdächtig so aus, als würde sie sich gleich
erschüttert abwenden.
Plötzlich wurde die Tür zum Eßsaal schwungvoll
aufgerissen und Tony stürmte herein.
"Hi! Gibt's noch was zu essen für mich? - Hey Acy, ist
das dein Neuer?" Er musterte Cayvyn äußerst
interessiert. Heute morgen hatte er ja keine Zeit mehr dafür
gefunden. Der Typ war eindeutig ein Naravino, so dekadent wie seine
Klamotten wirkten. Seine Kleidung war erbarmungslos metallicgrün
und golden von Kopf bis Fuß. Tse.
"Tony!" sagte Alycia vorwurfsvoll. "Was heißt
hier 'mein Neuer'?! - Sir Cayvyn ist wahrlich meine große
Liebe!"
"Oh nein! Ich kann es nicht mit ansehen", bemerkte
Anthony geknickt. "Wie altmodisch!" Dabei war er
doch immer der festen Überzeugung gewesen, daß Acy sich nicht
mit solchen, längst überholten Konzepten wie etwa
'großer Liebe' oder so abgab. Die Ärmste - was für ein
Rückschritt!
"Seufz", machte Alycia nur, und Cayvyn mußte das
Grinsen nunmehr gewaltsam unterdrücken. Tony ließ sich auf
seinen Stuhl plumpsen und fiel über die einzig verbliebene
Kaffeekanne her, bevor er eine gewaltige Schüssel Müsli
orderte. Als angehender Jet-Setter und Playboy mußte man in Form
bleiben.
"Nadi, duuu...!" begann er zögernd.
"Hm...?" entgegnete diese ihm ahnungsvoll.
"Kriege ich zum Geburtstag einen TMW-Rallye-Gleiter? Ich war
auch immer ganz brav..."
"Laß dich überraschen."
"Aber wenigstens einen Blade Dragon...!"
"Vielleicht!"
"Na gut. Und was ist mit meinem monatlichen Taschengeld? Denk
dran, ich werde in vier Wochen siebzehn! Wie soll ich mit lumpigen 5000
Credits pro Monat auskommen?"
"Sparen, mein Lieber", kam es von Acy, die immer noch
etwas ungehalten wirkte, da sie von Tony als 'altmodisch' bezeichnet
worden war.
"Wozu?"
"Damit du dir selbst mal etwas leisten kannst und
nicht immer weitere Taschengelderhöhungen einfordern
mußt..." Acy setzte ein niederträchtiges Grinsen auf.
"Stell dir vor, du müßtest arbeiten..."
Das Entsetzen in Tonys Blick war unbeschreiblich.
"A-arbeiten...?!" Dieses Konzept war ihm
noch mehr zu wider als eine etwaige 'große Liebe'... "Acy,
was ist nur in dich gefahren - daran ist bestimmt nur dieser Kerl
schuld!"
Ein dezentes Glucksen ertönte aus Cayvyns Richtung. Er war
froh, daß er sich hier nicht übermäßig
äußern mußte - das würde er wahrscheinlich nicht
überleben.
Tony hatte seine Müsli-Schüssel geleert und sprang auf.
Pah! Arbeiten! Er entschloß sich, dieser Gesellschaft erst
einmal den Rücken zu kehren.
"Mir scheint, der allgemeine Aufbruch hat begonnen",
stellte Alycia fest. "Ich denke, Sir Cayvyn und ich werden uns
auch alsbaldig zurückziehen. Ich muß noch zu Calris fliegen
und ihr die umwerfende Neuigkeit verkünden..." Acy
stand auf. und Cay folgte ihrem Beispiel.
"Lady Nardia, ich möchte mich an dieser Stelle
überaus herzlich für Eure edle Gastfreundschaft
bedanken", sagte er salbungsvoll. Acy war sich sicher, daß
er das ironisch meinte. Ts ts.
"Tschüs!" war Nardias einziger Kommentar. Sie war
froh, wenn die beiden wieder weg waren. Vielleicht gelang es ihr
dann einmal, richtig auszuschlafen...
Acy schnappte sich Cayvyns Arm und düste mit ihm Richtung
Landefeld, wo die Dreamsong stand.
* * *
Gegenwart
Eniatag, der 3760/01/02 GZ.
"Gut, machen wir uns auf den Weg", meinte Ryko zustimmend.
Karylla nickte nur und verschwand in Richtung Stadtbauamt von Ilso.
Wenn es irgendwo Unterlagen des Bankgebäudes gab, dann dort.
Ryko hingegen suchte zunächst ein öffentliches
ZIV-Terminal auf. Er mußte noch genauere Daten über diese
'Erhsammi-Kaste' einholen. Sicherlich waren die diesbezüglichen
Informationen nicht frei zugänglich, aber er hätte es auch
ausgesprochen langweilig gefunden, wenn man es ihm so leicht
gemacht hätte. Wozu war er denn sonst mit Firestars Wissen
über alle möglichen Einbruchstechniken (und sogar noch
mehr, denn man bildete sich schließlich weiter...)
ausgerüstet.
Das Terminal befand sich in einer Art gläsernen Zelle, und ein
Berührungssensor gab den Eingang frei. Kaum daß Ryko in dem
kleinen Raum verschwunden war, aktivierte sich automatisch eine
Privatsphäre, die hier zusätzlich zum Schall auch noch die
Sicht abschirmte. Von außen sah die ZIV-Zelle nun undurchsichtig
dunkelblau aus. Ryko aktivierte das Terminal, indem er eine Kreditkarte
in den dafür vorgesehenen Schlitz steckte, und das Symbol der
ZIV-Enaryshavell - ein stilisierter Speicherkristall auf einer
angedeuteten antiken Schriftrolle - erschien auf dem Monitor. Wenige
Sekunden darauf ertönte eine sanfte Stimme.
"ZIV-Enaryshavell ist bereit. Wünschen Sie Hilfe?"
"Nein", erwiderte Ryko und warf einen höchst
unschuldigen Blick auf die Sensortastatur. Bei den ZIV-Einrichtungen
waren Anfragen sowohl akustisch möglich, als auch über andere
Medien; so verfügten die öffentlichen ZIV-Stellen
zusätzlich über Schreib-/Lesegeräte für
Info-Kristalle und Solido-Printer, falls schriftliche Ausgaben
erwünscht waren. "Ich brauche eine Verbindung zum
Kommunikationscomputer der Universität von Tamsaioll."
(Tamsaioll ist die Hauptmetropole von Solse
IV/Enaryshavell)
"Verbindung steht." Gleichzeitig erstrahlte das Wappen der
Uni auf dem Schirm, gefolgt von einem Prompt, der Ryko bedeutete,
daß er sich hier und sofort einloggen müßte, um
weiterzukommen. Nun gut, dann machte er erst einmal auf Gast... Und
von da würde er weitersehen. Jetzt kam der Zentralrechner der
Universität an die Reihe, den man über den Kommrechner
ansprechen konnte. Also loggte sich Ryko nun dort ein und besah sich
die Angelegenheit.
Jedes System hatte seine Lücken, die ironischerweise sogar
durchaus bekannt waren, was aber nicht bedeutete, daß irgendjemand
sich die Mühe machte, sie zu beseitigen. Und falls doch - es gab
immer noch genug Dilettanten, die wieder neue
Einbruchsmöglichkeiten schufen... Ryko probierte ein paar
Strategien aus, und siehe da, bei Nummer 4 klappte es bereits, und er
hatte nun auch die Möglichkeit, auf die vor öffentlichem
Zugriff geschützten Daten zuzugreifen.
Nach einiger Suche fand er in einer Datenbank der Soziohistoriker,
was er suchte: Einen sehr umfangreichen Abriß über die
Entwicklung einiger in der heutigen Zeit verpönten bis verbotenen
Kasten. Ryko runzelte die Stirn. Die Erhsammi schienen in dieser
Gruppe noch zu den harmloseren zu gehören... Allerdings
mußte man dabei zugute halten, daß die hier abgelegte
enaryshanische Kastengeschichte bis zu 2900 Jahre zurückreichte,
und damals mochte es noch angegangen sein, wenn Mitglieder einer
verfeindeten Kaste am Spieß gebraten und als Hauptgang auf einem
Festmahl gereicht wurden oder wenn die eine oder andere Kaste auszog, um
das Umfeld mit allen Mitteln (bevorzugt Mord und Folter) nach ihren
Glaubenssätzen zu missionieren.
Heutzutage sah das ja ganz anders aus. Da beschränkten sich
einige wenige kleinere Kasten aufgrund ihrer Überzeugung, daß
sie doch eigentlich etwas besseres als der Rest der Welt waren, auf
Bestechung, Sabotage u.ä., um an Einfluß zu gewinnen. Das
Gros der enaryshanischen Bevölkerung kümmerte sich jedoch
nicht um solche Fragen der Philosophie oder des Glaubens. Man war
zufrieden, wenn man sein Auskommen hatte und niemand einen dabei
störte, während man sein von der Gesellschaft vorgezeichnetes
Leben lebte und keine Abweichung von der Norm sein friedvolles Dasein in
Unordnung brachte.
Ryko schüttelte nur den Kopf. Zum Glück war er kein
Enaryshaner; das hätte er entschieden zu langweilig gefunden. Er
las die Daten durch und verließ den Uni-Computer wieder, bevor er
sich auch von der ZIV verabschiedete. Nun würde er sich ohne
Schwierigkeiten als Mitglied der Erhsammi ausgeben können. Er
müßte sich nur die bereits von Karylla erwähnte
Tätowierung aufmalen und einige Details der geheimen Gestensprache
beachten, die zugegebenermaßen für einen
Nicht-Kastenangehörigen so gut wie nicht erlernbar war. Aber
für einen Androiden war das natürlich kein Problem...
Zum Glück waren die Erhsammi - wenn auch nicht sehr beliebt -
eine der größeren der kleinen Kasten, was bedeutete,
daß sich die einzelnen Mitglieder untereinander nicht alle kennen
konnten. Also sprang Ryko erst einmal hinauf zur Lightning, um
sich mit der erforderlichen Malerei zu versehen, bevor er in der
Nähe von Chenary Tharulla Ondavalls Besitz materialisierte.
* * *
Karylla saß im Warteraum des Vorzimmers des städtischen
Stadtbauamtes. Sie war zwischendurch noch einmal kurz auf der
Lightning gewesen, hatte ihre Sachen gewechselt (nun wirkte sie
eindeutig wie eine etwas höhergestellte Beamtin) und sich
zusätzlich ein paar sinnige Papiere gefälscht.
"Bitte, Madame Darishell, Sie können durchgehen. Monsieur
Khumevall erwartet Sie bereits."
"Danke", sagte Blackfire hoheitsvoll und rauschte in das
Büro des städtischen Bauamtsleiters. Dieser blickte von einem
Monitor hoch. Karylla erhaschte gerade noch einen Blick auf die
Schlußsequenz von 'Dämonenlabyrinth', einem besonders in
Büros beliebten Computerspiel. Offensichtlich war Khumevall ein
Profi in der Geisterjagd, denn er hatte beinahe die Höchstpunktzahl
erreicht.
"Ah, guten Tag, Madame...?" Khumevall suchte nach dem
Memocordereintrag, der ihm den Namen seines Gegenübers verraten
sollte, doch Karylla war schneller.
"Henya Elissa Darishell, Sub-Koordinatorin des
Bezirksbaugewerbeamts von Nord-Tamincia, zuständig für dem
Großraum Fah-Ilso..."
"Ilyko Mharulla Khumevall. Angenehm, Madame Darishell. Was
kann ich für Sie tun?"
"Bei unserer letzten Überprüfungen der
Baugenehmigungen ist uns aufgefallen, daß uns offenbar ein
schwerwiegender Fehler unterlaufen ist, als wir dem Bauunternehmen
Shentesoll&Co. einige Großprojekte genehmigten. Der
entsprechende Beamte ist derzeit vom Dienst suspendiert..."
"Worum geht es?"
"Diese Firma hat bei einigen Projekten schwer gepfuscht, und es
steht zu befürchten, daß einige ihrer Bauten aus
Sicherheitsgründen abgerissen werden müssen. Ich bin
beauftragt worden, die Baupläne und Unterlagen über folgende
von Shentesoll&Co. errichtete Gebäude einzuholen, um sie einer
eingehenden Überprüfung durch die zuständigen Stellen
zugänglich zu machen: die Stadtverwaltung Ilso-Süd-4, die
Planetenbank Enaryshavell-Ilso, die Stadtteil-Bibliothek Ilso-West, das
Einkaufszentrum Themisall und das Schwimmbad Ilso-Süd. Diese
Gebäude sind einem breiten Publikum zugänglich, und es ist
daher vordringlich, diese zu überprüfen. Stellen Sie sich
vor, dort passiert etwas, Menschen werden verletzt oder gar
getötet, und es heißt, die Behörden sind dafür
verantwortlich, weil sie nicht aufgepaßt haben..."
Khumevall nickte hektisch. Da diese Gebäude unter seiner
Aufsicht entstanden waren, würde es auch auf ihn
zurückfallen... Vor seinem geistigen Auge sah er sich schon
versetzt in ein Amt im Hinterland von Kancia, wo er landwirtschaftliche
Quoten überwachen durfte...
"Sicherlich, Madame Darishell. Warten Sie einen kleinen
Moment..." Er verließ das Spielprogramm und forderte die von
Karylla genannten Baupläne an. Kurz darauf drückte er ihr
einen Speicherkristall in die Hand.
"Ich danke Ihnen, Monsieur Khumevall. Ich werde Ihre
freundliche und unbürokratische Mitarbeit an geeigneter Stelle
lobend erwähnen. Auf Wiedersehen."
Frohen Mutes schritt Blackfire aus dem Büro. In einem
verlassenen Gang des Bauamtes aktivierte sie ihren TM-Gürtel und
transmittierte zur Lightning zurück, um erst einmal den
Bauplan der Bank zu analysieren.
* * *
Ryko marschierte schnurstracks auf Ondavalls Heimstatt zu. Er
wußte zwar genau, was er wollte (nämlich diverses
handschriftliches Material von Ondavall), aber er hatte noch keine
Ahnung, wie er es anstellen sollte, daran zu kommen. Hm. Im
Zweifelsfall würde es auch ausreichen, wenn er an das
persönliche Siegel des Bankiers herankäme oder an dessen
Fingerabdrücke...
Zumindest letzteres sollte innerhalb der Wohnung Ondavalls ein
kleineres Problem werden. Wer rechnete schon damit, daß jemand
unterwegs sein könnte, um Fingerabdrücke zu klauen?!
Aber zunächst einmal sollte er dezent seine Persönlichkeit
wechseln, beschloß Ryko. Nun war er Emary Varulla Helivall aus
einem Randbezirk von Fah-Ilso, nuschelte dessen Enaryshana-Dialekt und
bewegte sich wie ein Abkömmling der Erhsammi-Kaste. Der
Unterschied in der Körpersprache war so minimal, daß ein
normaler Enaryshaner gar nichts Auffälliges bemerken würde,
doch für jemanden, der jahrelang darauf achten mußte, waren
die Signale nicht zu übersehen.
Infinity trat an die Tür und betätigte den Summer. Kurz
darauf ertönte eine unpersönliche Stimme.
"Was wünschen Sie, Monsieur...?"
"Mein Name ist Emary Varulla Helivall, und ich
möchte..." Ja, was wollte er überhaupt?! Ryko
überlegte annähernd in Nullzeit. "Ich möchte ihm
eine wichtige Nachricht übermitteln!" Das war immer gut,
befand er.
"So? Und was für eine Nachricht soll das sein?"
"Das darf ich nicht mit Subalternen besprechen", erwiderte
Ryko selbstbewußt. Ihm war endlich eine Idee gekommen.
* * *
Karylla hatte sich unterdessen in einem Kostümverleih den
Arbeitscoverall eines Tiefbauingenieurs zugelegt, mit passendem Helm und
sonstigen Accessoires. Den Übersichtsplan der Kanalisation von
Ilso hatte sie einfach bei der ZIV-Enaryshavell anfordern können,
und nun machte sie sich kurzerhand auf den Weg, um den der Planetenbank
nächstgelegenen Kanalisationseinstieg zu suchen.
Endlich hatte sie das entsprechende Objekt entdeckt. Unter den
etwas irritierten Blicken diverser Passanten verschwand sie in dem
mitten in der Fußgängerzone gelegenen Loch, wobei sie den
Deckel wieder diskret hinter sich zuzog.
Schon in den oberen Regionen des engen Schachts rümpfte
Blackfire angeekelt die Nase, aber als sie in der horizontalen
Röhre stand, war es beinahe gänzlich um sie geschehen. Pfui
Teufel, stank das hier erbärmlich! Sie war kurz davor, sich zu
übergeben. Dennoch marschierte sie mit Todesverachtung den Weg
entlang, den sie sich in der Übersichtskarte eingezeichnet hatte.
Zum Glück spendete der Helmscheinwerfer nur gerade genug Licht,
daß sie ein, zwei Meter Sicht hatte, denn bei dem Gedanken, was
hinter, über und neben ihr vielleicht an Spinnen und sonstigen
Insekten herumkrauchte, war Blackfire schon wieder einer Panik nahe.
Dann besser nichts sehen und nichts wissen...
"Ich hätte lieber meinen Raumanzug anziehen sollen",
überlegte sie und schüttelte sich, als ihr eine neuerliche
Gestankwolke in die Nase stieg. Irgendwo plätscherte etwas; es
hörte sich an, als ob kleine Tiere durch die eklige Brühe
huschten.
"Hups, wo bin ich überhaupt?!" fragte Karylla sich
stirnrunzelnd. Sie suchte nach einer Wandmarkierung und bemerkte mit
Grausen ein paar glitschige ...Monster, die über den schmierigen
Untergrund krabbelten. "Abzweigung Ilso-Süd Altstadt 5, 39m
Ost..." las sie ab. "Igitt, noch 147 Meter bis zur
Position der Planetenbank... Nein, das überlebe ich nicht!"
Angewidert balancierte sie auf dem schmalen Gehsteig entlang,
während links von ihr die schwarze, blubbernde Brühe
vorbeirauschte. Sie wagte nicht, sich vorzustellen, wie es ihr ergehen
würde, wenn sie plötzlich ausglitt und in diesem Fluß
des bestialischen Gestanks verschwand. Vermutlich würde sie in
Ohnmacht fallen und elendiglich darin ertrinken, um anschließend
von diversen Ratten und Würmern aufgefressen zu werden... Endlich
war sie an der berechneten Position und blickte nach rechts.
"Sehen Sie, Sie sehen nichts", murmelte sie und starrte an
die Wand des Abwasserkanals. Genau hier neben dieser Röhre sollte
sich die südliche Grundmauer der Bank befinden. Das hieß,
sie müßte von hier aus einen Tunnel graben, um von dort
zunächst unter die Bank zu gelangen, wo sie dann an strategisch
sinnvollen Positionen die Treibsätze anbringen könnte, die das
Gebäude mitsamt seinem Fundament aus dem Boden lösen sollten.
Hm. Vielleicht hatte sie ja Glück, und die Grundmauern reichten
nicht ganz so tief...
Karylla beschloß, es darauf ankommen zu lassen, schnallte den
Desintegrator-Brenner vom Rücken und setzte ein leichte
Sauerstoffmaske auf, die leider nichts dazu beitrug, den Gestank
wegzufiltern. Sie konnte sich Dutzende von angenehmeren
Tätigkeiten vorstellen, als in dieser Abwasserpampe herumzustehen
und Löcher in Wände zu bohren, überlegte sie voller
Selbstmitleid. Ryko war jetzt irgendwo da oben im Trockenen, in
sauberer, vielleicht nach Blumen duftender Luft - und sie?! Grumpfend
jagte sie einen Desintegratorstrahl mittlerer Kapazität in die
Wandung und sah zu, wie der Stein sich in Wölkchen schimmernder
Gase auflöste. Nach 25cm hielt sie kurz inne. Jetzt hatte sie die
Verschalung des Abwassersystems hinter sich gebracht. Von der Bank war
allerdings noch nichts zu sehen. Aber laut Plan fing das Gemäuer
ohnehin erst in 85cm an. Endlich hatte sie die angegebene Entfernung
zurückgelegt. Tatsächlich, dort war ein neues Mauerwerk!
Jetzt mußte sie lediglich sehen, wie tief dieses noch nach unten
reichte. Sie vergrößerte das gebohrte Loch, damit sie
halbwegs hineinkriechen konnte und begann, nun das Erdreich nach unten
hin aufzulösen. Nur 35cm mußte sie in die Tiefe gehen, dann
hatte sie das Ende des Fundaments der Bank erreicht.
"Hm-hm", machte Blackfire befriedigt. Es schien doch
nicht ganz so schlimm zu werden. Nun mußte sie lediglich ein paar
Gänge hier unten hineinfräsen, dort die Treibladungen
placieren, und das weitere würde sich ergeben...
* * *
Infinity hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah unbewegt
in die Überwachungskamera. Endlich hatte sich der unsichtbare
Sprecher zu einer Entscheidung durchgerungen.
"Gut, dann treten Sie ein. Ich werde Monsieur Ondavall von
Ihrer Anwesenheit in Kenntnis setzen."
Ein Butler-Androide führte Ryko in eine Art prunkvoll
ausgestattetes Wartezimmer. Und er wartete... Nach etwa einer
Dreiviertelstunde bequemte sich Chenary Tharulla Ondavall, bei ihm
vorbei zu sehen. Zwischendurch hatte Ryko das Interieur des Raums einer
eingehenden Untersuchung unterzogen, wobei er beschloß, eine
besonders hübsche kleine Statuette aus einer der Vitrinen zu
entfernen. Die Alarmanlage hatte sich nämlich bei der ersten
flüchtigen Untersuchung als nicht-trivial erwiesen, und das reizte
ihn doch ungemein. Leider gab es hier insgesamt viel zu viele
Fingerabdrücke, als daß er die von Ondavall hätte
herausfinden können.
Gerade als das Figürchen in Rykos Mantel verschwunden war,
betrat der Bankier den Raum.
"Was für eine Nachricht wollten Sie mir
überbringen?"
"Monsieur Ondavall, ich habe eine Information für Sie, die
eine Aktion gegen Sie betrifft, und ich dachte, Sie wären bestimmt
interessiert daran, mir diese abzukaufen."
"Wollen Sie mir drohen?"
"Aber nein, Monsieur Ondavall - im Gegenteil! Ich versuche,
Sie vor Schaden zu bewahren. Und Sie können es mir doch nicht
übelnehmen, wenn ich daraus für mich ebenfalls einen geringen
Profit ziehe. Wissen Sie, das Unternehmen, von dem ich gehört
habe, könnte Sie in den Ruin treiben..."
"Reden Sie schon, Mann!"
"Zuerst meine Konditionen: Insgesamt 50000 Credits, 20000 im
Voraus und noch einmal 30000, wenn Sie die Übeltäter
arrestiert und somit festgestellt haben, daß ich die Wahrheit
gesagt habe."
"Sie unverschämter..."
"Monsieur Ondavall, dürfte ich Sie daran erinnern,
daß Sie einen Jahresumsatz haben, der in die Millionen Credits
geht... Was sind da für Sie 50000 Credits? Ich bitte Sie! Und
für mich ist das viel Geld..."
"Hm..." Man sah es Ondavall an, wie es in ihm arbeitete.
"Monsieur Ondavall, ist es vermessen, wenn ich Sie um eine
kleine Erfrischung bitte?" Ryko sah den Bankier mit einem scheuen
Lächeln an. Er hoffte, daß sein Gegenüber ebenfalls
etwas zu trinken nahm. Dann brauchte er lediglich das entsprechende
Glas zu entwenden - et voilà! "Ich bin bereits mehrere
Stunden unterwegs und mich dürstet ungemein..."
Vielleicht fände er auch eine Möglichkeit, Ondavalls
Siegelring zu kopieren. Der Bankier trug ihn am Mittelfinger der
rechten Hand, und Ryko überlegte schon, wie er das Teil inklusive
der persönlichen Codesequenz duplizieren konnte. Plötzlich
hatte er die Erleuchtung. Ein wenig war er ungehalten darüber,
daß es so lange gedauert hatte, bis er aus den gegebenen
Umständen einen funktionierenden Plan entwickeln konnte. Am besten
sollte er zu gegebener Zeit seine Assoziationsprogramme eingehend
durchchecken lassen...
Unterdessen hatte Chenary Ondavall eine Karaffe Jimar geordert, ein
erfrischendes Fruchtgetränk mit schwach berauschender Wirkung. Er
reichte Ryko ein Glas der sprudelnden, rotorangefarbenen
Flüssigkeit, bevor er sich ein anderes nahm. Infinity war
begeistert.
"Danke. Nun, Monsieur Ondavall, was sagen Sie zu meinem
Vorschlag?"
"In Ordnung. Erzählen Sie, Monsieur!"
"Moment - nicht so rasch... Ich möchte, daß wir
unsere Vereinbarung vertraglich festhalten, damit ich Ihnen nicht meine
Informationen preisgebe und keine Gegenleistung dafür
erhalte..."
"Sie vertrauen mir nicht?" Ondavall sah Ryko gekränkt
an, doch dieser gab den Blick mit einem Lächeln zurück.
"Sagen wir - ich gehöre ebenfalls der Erhsammi-Kaste an,
mein Herr."
"Ich sehe... Nun, dann begleiten Sie mich in mein
Arbeitszimmer, wo ich ein entsprechendes Schriftstück aufsetzen
kann."
"Mit dem größten Vergnügen."
Unauffällig ließ Ryko Ondavalls Trinkbecher, den dieser
gerade abgestellt hatte, in seinem Mantel verschwinden, bevor er dem
Bankier folgte.
Wenig später hatte Ryko 20000 Credits, einen persönlich
von Ondavall unterschriebenen und gesiegelten Vertrag und diesen von
einem angeblich in zwei Tagen geplanten Überfall auf die
Planetenbank Enaryshavell-Ilso unterrichtet. Mit seiner Beute
verabschiedete er sich und kehrte zur Lightning zurück, um
die Unterlagen zu fälschen, die Chenary Tharulla Ondavall ruinieren
sollten. Was mochte Karylla gerade tun?
* * *
Blackfire fluchte lästerlich. Angeblich hieß es doch,
daß man sich an jeden Gestank - und sei er noch so furchtbar - im
Laufe der Zeit gewöhnen konnte. Warum funktionierte das bei ihr
bloß nicht?
Sie hatte gerade die siebte Treibladung an der berechneten Stelle
installiert, und ihr war so schlecht von dem ganzen Mief, daß sie
am liebsten sofort zur Lightning zurückgekehrt wäre
und sich dort erst einmal ein paar Stunden erholt hätte.
Aber was sollte es? Dann hätte sie noch einmal hier herunter
gemußt, und sie war sich nicht sicher, ob sie es schaffen
würde, sich ein zweites Mal dazu zu überreden. Also, noch
drei Ladungen, und sie hätte es überstanden...
Endlich war es geschafft. Sie kroch zu ihrem Ausgangspunkt an der
Fußgängerzone zurück und kletterte hinauf. Als sie aus
dem Loch stieg, schloß Karylla geblendet die Augen. Verdfluxt,
war das hell hier... Unter den erneut verwunderten Blicken des
derzeitigen Publikums kraxelte sie aus der Öffnung und machte sich
davon, nachdem sie den Deckel wieder ordnungsgemäß arretiert
hatte.
In einer unbeobachteten Ecke transmittierte sie zur
Lightning zurück. Sie hatte dies nicht von dem Standort
unter der Bank tun wollen, denn man konnte sich nie sicher sein, ob
nicht gerade irgendwo die Transmit-Sprünge mitprotokolliert wurden,
und ein Impuls, der von einem Ort unter einer Bank ausging, würde
sicherlich Verdacht erregen.
* * *
"Hallo Kary!" wurde sie von Ryko begrüßt. Er
musterte sie kritisch. "Ich empfehle dir einen sofortigen und
längeren Aufenthalt unter der Dusche."
"Ha ha! Du hast es ja nicht nötig gehabt, die
Dreckarbeit zu machen! Aber ich, als bedauernswerte Angehörige des
'schwachen Geschlechts', mußte mich mit Tiefbauarbeiten
herumplagen..."
"Hast du es geschafft?"
"Sicherlich!"
"Warum regst du dich dann auf?"
"Graaaa!" Karylla stampfte mit dem Fuß auf.
"Sieh doch nur, wie ich aussehe! Und dann dieser Gestank!"
"Im anderen Fall wäre mein Exterieur verschmutzt
worden", konstatierte Ryko. "Du solltest dich jetzt
reinigen."
Blackfire warf ihrem Partner einen tödlichen Blick zu und
trollte sich ins Bad. Gut zwei Stunden später kehrte sie
zurück, in einen knallbunten, schlabberigen Freizeitanzug
gehüllt, und die Haare nachlässig zu einem Pferdeschwanz
gebändigt. Ryko erwartete sie bereits, doch sie war immer noch
verärgert und würdigte ihn keines Blickes, bis er sie
kurzerhand in die Arme nahm und ihr einen Kuß auf die Nasenspitze
gab.
"Laß mich!" fauchte Karylla ihn an.
"Sch, Kary..." meinte Ryko und strich ihr zärtlich
über die Wange. "Jetzt komm erst mal mit. Ich habe uns etwas
zu Essen gemacht."
Karylla runzelte die Stirn, beschloß dann aber, seiner
Aufforderung Folge zu leisten. Ihr Magen knurrte bereits bedrohlich.
Als sie den Eßsalon der Lightning betrat, konnte sie sich
ein Lächeln nicht verkneifen. Ryko wußte genau, wie er sie
immer wieder herumkriegen konnte...
Der Tisch war kunstvoll dekoriert, und er hatte sogar ein paar
Kerzen organisiert, die eine schummrige Helligkeit verströmten.
(Kerzen - Energiezellenbetriebene, stabförmige Lampen,
deren oberes Viertel mäßig helles Licht ausstrahlt. Sie
haben die altertümlichen Wachskerzen ersetzt.)
"Ihr mögt Platz nehmen, meine Liebste", sagte er
huldvoll und schob ihr den Stuhl zurecht.
"Habt Dank, Mylord", erwiderte Karylla amüsiert und
setzte sich. Ryko spielte den vollendeten Gentleman und tischte ihr
allerlei Köstlichkeiten auf. Sie schüttelte nur den Kopf.
Manchmal war er einfach süß. "Was hast du bei Ondavall
erreicht, mein Schatz?"
"Ich habe sowohl einen Satz Fingerabdrücke, als auch sein
Siegel und seine Unterschrift organisiert."
"Super! Du bist echt gut! - Würdest du mir bitte noch
ein Glas Wein eingießen? Wir sollten uns ohnehin erst morgen
wieder an die Arbeit machen... Was hast du Ondavall denn
erzählt?" Ryko tat, wie ihm geheißen, dann setzte er ein
niederträchtiges Grinsen auf.
"Oh, ich habe ihn lediglich gewarnt, daß jemand vorhat,
die Planetenbank Enaryshavell-Ilso auszurauben... Er wird seine Wachen
vervierfachen, hat er mir erzählt."
"Ich hoffe doch, nicht vor morgen abend..."
"Keine Sorge, ich sagte ihm, die Gangster wollten in zwei Tagen
zuschlagen, wenn die großen Geschäfte am Tenmatag die Gewinne
der ersten Halbwoche auf die Bank gebracht hätten."
"Perfekt."
"Außerdem habe ich ein kleines Souvenir für dich
mitgebracht", meinte Ryko und holte ein hübsch verpacktes
Kästchen hervor. Neugierig wickelte Karylla es aus und entdeckte
die Statuette. Als ob sie sich die Hände daran verbrannt
hätte, ließ sie die Figur fallen und begann zu weinen. Ryko
sah seine Partnerin völlig perplex an.
"Kary? Was ist?"
Karylla wischte sich über die Augen und versuchte, den
Kloß herunterzuschlucken, der sich in ihren Hals zu befinden
schien.
"Die Statuette hatte meiner Mutter auch so sehr gefallen, und
Ondavall schenkte sie ihr, als er sie in seinen Harem steckte..."
Sie sah in weite Fernen. Vor genau 16 Jahren hatte sich Marycia der
Dunklen Mutter anheimgegeben - am 3. Enuari 3744 GZ... Und dafür
sollte Chenary Ondavall nun endlich bezahlen! "Ich will ihn tot
sehen", knirschte Blackfire mit zusammengebissenen Zähnen.
"Tot!"
Sie hob die Figur auf und stellte sie auf den etwa hüfthohen
kleinen Schrank unter dem Nahrungssynthetisizer, bevor sie zu Ryko trat
und die Arme um ihn legte. "Ryko, hast du die 'Beweisstücke'
gegen Ondavall fertig?"
"Ja. Warum fragst du?"
"Ich möchte heute nacht nicht alleine schlafen. Leistest
du mir Gesellschaft, mein Schatz?"
"Gerne, Kary. Ich räume nur eben die Sachen hier
weg."
"Warte, ich helfe dir."
* * *
Gegenwart
Keltag, der 3760/01/03 GZ.
Blackfire sah gespannt auf die Uhr. 19:11 Uhr GZ, bzw. 14:94 Uhr
EGZ4.
( EGZ4 - Enaryshanische Galakta-Zeit, Zeitzone 4. Dazu ist
anzumerken, daß auf Enaryshavell die standardmäßige
Einteilung eines Tages in 20 Stunden etc. übernommen wurde. Durch
die etwas andere Rotationsperiode des Planeten ist allerdings eine
enaryshanische GZ-Stunde um 22 Prozent länger aqls die
Standard-GZ-Stunde. Ebenso werden die anderen Zeiteinheiten
angepaßt. Es ist müßig zu erwähnen, daß es
infolge der unterschiedlichen Zeitrechnungen häufig zu gravierenden
Mißverständnissen kam, bis man sich angewöhnte, immer
die jeweilige Zeitrechnung explizit anzugeben.)
"So, in sechs Minuten macht die Bank zu", verkündete
Karylla.
"Die Lightning steht in Position", sagte Ryko.
"Ich habe den Tarnschild aktiviert. Wenn nicht gerade jemand einen
Satz Ultraraumsensoren auf uns richtet, können wir hier bis auf
weiteres verbleiben... Hm, ich sollte den Tarnschild langsam soweit
verbessern, daß wir auch nicht via Ultrasensoren angepeilt werden
können..."
"Naja, wir müssen ohnehin nur so lange bleiben, bis
niemand mehr in der Bank ist und das Gebäude abhebt", meinte
Karylla und starrte gebannt auf den Hauptbildschirm. "Wo schleppen
wir das Teil eigentlich hin?"
"Was hältst du von Solse I/Senjavell? Der innerste Planet
steht zur Zeit in Opposition, und Solse III und V, wo einige
Stützpunkte der Weltraumpolizei situiert sind, befinden sich
augenblicklich in Konjunktion mit Enaryshavell. Bis die kapiert haben,
was läuft, haben wir die Planetenbank längst auf der
sonnenabgewandten Seite von Senjavell abgestellt und in aller Ruhe
ausgeräumt. Wir werden zwar die Sonne in relativ geringem Abstand
passieren, aber ich habe unser Schirmfeld so umgestellt, daß wir
auch unser Anhängsel vor der Strahlung schützen können.
Ich glaube nicht, daß die Polizeigleiter uns auf direktem Kurs
folgen, dafür sind ihre Außenhüllen nicht
gemacht..."
"Gut."
Blackfire und Infinity warteten geschlagene zwei Stunden EGZ, bis
die Sensoren kein lebendiges Wesen mehr im Bankgebäude anzeigten,
dann aktivierte Karylla den Auslöser für die Treibsätze,
während Ryko im selben Augenblick den Traktorstrahl ansetzte.
Einen Sekundenbruchteil leuchteten die Warnsignale auf und zeigten eine
Überlastung der Traktorgeneratoren an; sie erloschen jedoch sofort,
als sich die Bank langsam aber sicher aus dem Boden hob.
"Wir haben sie!" rief Blackfire begeistert.
Tatsächlich blieb das Gebäude auch noch sicher im Zugstrahl,
als Ryko die Lightning vorsichtig beschleunigte und Kurs auf
Solse nahm. Langsam zog er die Bank näher an das Schiff, damit er
den Schutzschirm auch um sie herum noch schließen konnte.
Karylla sah auf die Raumüberwachungsmonitore.
"Keine Verfolger", meinte sie frohlockend. "Ich
vermute, die glauben, daß sich jemand einen Streich mit ihren
Ortungsanlagen erlaubt hat, als sie sahen, wie sich die Planetenbank auf
und davon machte..."
"Ist doch höchst vorteilhaft für uns. Abgesehen
davon, die Lightning hat trotz der Last noch immer eine
höhere Beschleunigung als der beste Polizei-Raumgleiter; wir sind
also in jedem Fall schneller als die..."
Etwa fünf Stunden später (ironischerweise dauerte dieses
kurze Stück Flug innerhalb des Systems länger als
normalerweise die ganze Strecke von Tarishaan nach Enaryshavell im
Ultraraum) hatte die Lightning Senjavell erreicht. Mit
ziemlich hoher Geschwindigkeit näherte sich der Raumer der
zernarbten Oberfläche des atmosphärelosen Planeten, der sein
Zentralgestirn in gebundener Rotation umkreiste. Kurz vor dem Boden
hielt Ryko die Lightning an. Karylla hatte bereits ihren
Raumanzug angelegt und das erforderliche Werkzeug zusammengesucht. Als
Ryko zustimmend nickte, verließ sie das Schiff. Ihr Partner
folgte dichtauf, wobei er diesmal auf einen Raumanzug verzichtete, der
nur seine Bewegungsfreiheit behindert hätte.
Sicherlich wußte Karylla, daß Ryko problemlos
ohne Schutz im Vakuum agieren konnte, aber dies war das erste Mal,
daß sie ihn so in Aktion sah. Es machte ihr auch zum ersten Mal
wirklich bewußt, daß er mit einem Menschen eigentlich nur
die äußere Form gemeinsam hatte - naja, abgesehen davon,
daß er jegliche menschliche Funktion perfekt simulieren konnte...
Gemeinsam betraten sie das Bankgebäude.
"Gut, dann wollen wir mal in den Tresorraum gehen", meinte
Ryko. Er sendete direkt Funkwellen an ihren Empfänger und machte
sich daher gar nicht die Mühe, passende Lippenbewegungen
auszuführen.
"Okay", stimmte Kary zu. Natürlich war Ryko auch in
der Lage, Funkwellen zu hören... Auf einmal fühlte
sie sich ihm gegenüber hoffnungslos primitiv und unterlegen. Was
bewog ihn eigentlich, bei ihr zu bleiben? Sie beschloß
allerdings, diese Gedankengänge vorerst ad acta zu legen, denn
jetzt gab es Wichtigeres zu tun.
Systematisch knackten Blackfire und Infinity jedes einzelne
Tresorfach und räumten dessen Inhalt in eine voluminöse
Tasche. Zwei Stunden und 70 Minuten später waren sie fertig und
flogen mit der Lightning nach Enaryshavell zurück.
Diesmal gewandeten sie sich in ihre Einsatzcoveralls, Karylla ganz
in Schwarz mit schwarzen Haaren und Ryko komplett in Silber. Die
Lightning umkreiste den Planeten in einer Parkbahn, und
Blackfire & Infinity transmittierten nach Ilso, wobei sie aus
Ortungsschutzgründen darauf achteten, in der Nähe der
großen Transmit-Station zu materialisieren, über die
normalerweise Eiltransporte abgewickelt wurden. Via Gleitbahn begaben
sie sich zu dem Ort, wo früher einmal die Planetenbank
Enaryshavell-Ilso gestanden hatte.
Nun war der Platz von Dutzenden von Weltraum- und enaryshanischen
Polizisten abgesperrt, die ratlos das gewaltige Loch umstanden. Die
Detonation der Treibladungen hatte offenbar auch die Kanalisation in
Mitleidenschaft gezogen, und so war die Grube etwa knietief mit
gräßlich stinkendem Morast bedeckt.
Blackfire konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, als sie sah, wie
die Gesetzeshüter sich mit angeekelten Gesichtern mit der
Spurensicherung beschäftigten. Sogar drei Spezialagenten der ISPC
waren am Tatort erschienen und umstanden das klaffende Loch.
(ISPC - Interstellar Society of Protection and Crime-fighting,
Gesellschaft zur Verbrechensbekämpfung, die immer dann in
Erscheinung tritt, wenn die lokalen planetarischen Polizeitruppen der
FGS hilflos sind.)
Gerade schüttelte eine junge Frau mit wallender, weißer
Mähne angewidert den Kopf und trat den Rückzug zu ihrem samtig
schwarzen CASS-Gleiter an. Auch die beiden anderen ISPC-Agenten
trollten sich.
(CASS = Computerized Aero-Shuttle System)
Endlich hatte Blackfire den ihr am nächsten stehenden
Weltraumpolizisten erreicht. Es war ein junger Osikkaner mit gelblichem
Teint und blauschwarzen Haaren.
"Entschuldigung, Monsieur", machte Karylla ihn auf sich
aufmerksam. "Wir sind Touristen und gerade angekommen - was ist
denn hier passiert?"
"Tja, Madame, auch wenn es verrückt klingt - hier hat
jemand eine Bank geraubt..."
"Eine Bank ausgeraubt, meinen Sie wohl?!" meinte
Blackfire mit betont ungläubigem Gesicht, obwohl sie am liebsten
vor Lachen explodiert wäre.
"Nein, nein, eine Bank geraubt", versicherte ihr
der Polizist gestreßt.
"Aber wie ist denn das möglich?"
"Tja, das wissen wir auch noch nicht. Sie sehen ja, die
Spurensicherung ist noch an der Arbeit."
"Ja, aber, wo sind denn die Räuber mit der Bank hin?"
wollte Blackfire todernst wissen. Es kostete sie ungeheure Anstrengung,
die Fassung zu bewahren.
"Die Raumüberwachung hat den Flug der Diebe bis zur Sonne
aufgezeichnet."
"Ja, meinen Sie, daß die da eine Basis haben
könnten?" erkundigte sich Karylla mit weitaufgerissenen Augen.
"Sehen Sie, Madame, wir wissen zur Zeit auch noch nichts
genaues", wehrte der Polizeibeamte genervt ab.
"Och, das ist aber schade...!" Blackfire und Infinity
nahmen Kurs auf eine andere Traube Schaulustiger. Einige Reporter waren
ebenfalls dort und suchten nach Augenzeugen. Karylla hatte eine Idee,
aber dazu sollte sie besser wie eine Enaryshanerin aussehen. Schnell
verschwand sie in einem Hauseingang und entledigte sich ihrer schwarzen
Perücke, die sie Ryko in die Hand drückte. Er sollte sie in
einer seiner voluminösen Hosentaschen unterbringen. Auch die
schwarzen Kontaktlinsen verschwanden in ihrem Behälter. Sie fuhr
kurz mit den Fingern durch ihre halblangen, weißblonden Haare,
bevor sie in Richtung auf einen der Reporter wanderte. Schweigend
hörte sie einige Minuten dem Interview zu, dann stieß sie die
neben ihr stehende Frau an und flüsterte:
"Wissen Sie, was ich glaube? Daß Ondavall diese
Show selbst inszeniert hat..."
Ihre Nachbarin drehte sich zu ihr um.
"Aber warum denn?"
"Er hatte Spielschulden mit Geld aus seiner Bank beglichen -
Ich weiß das von einer Freundin, deren Mann häufig mit
Ondavall in der Spielbank war... Er ist Erhsammi! Und nun wollte er
die Beweise gegen sich aus dem Weg räumen..."
Die Frau sah Karylla mit offenen Mund an, bevor sie ihrerseits ihre
Nachbarin anstieß. In Windeseile machte das Gerücht die
Runde, und Ondavalls 'Untat' wurde von Minute zu Minute furchtbarer und
verwerflicher.
Als es die Reporter erreichte, war aus dem Gerücht bereits eine
feststehende Tatsache geworden. Blackfire hingegen hatte sich schon zum
nächsten größeren Pulk von Schaulustigen begeben. Im Nu
ging die Sage, daß Ondavall selbst für alles hier
verantwortlich war, und die Polizisten stellten auch in dieser Hinsicht
Nachforschungen an, wobei sie auf Rykos gutgefälschte Beweise
stießen.
Noch am selben Tag wurde Ondavall festgenommen. Zunächst war
der Bankier noch zuversichtlich, doch als man ihm die von Ryko
organisierten Beweise vorlegte, regte er sich so sehr auf, daß er
einen Herzanfall erlitt. Auch sofort eingeleitete
Wiederbelebungsmaßnahmen blieben erfolglos.
* * *
Gegenwart
Tenmatag, der 3760/01/04 GZ.
Während Karylla noch schlief, hörte Ryko die aktuellen
Nachrichten ab. In FGS-Aktuell der überregionalen interplanetaren
Nachrichtensendung, kam die Kunde von dem tolldreisten Bankraub - und
dazu der Kommentar, daß der Hauptverdächtige - Chenary
Tharulla Ondavall - einem Herzanfall erlegen sei. Ryko ging in ihr
gemeinsames Quartier und weckte seine Partnerin mit einem
zärtlichen Kuß.
"Mh?" machte sie verschlafen. Ryko setzte sich auf die
Bettkante und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Karylla
blinzelte und schlug die Augen auf. "Hallo, Ryko!"
"Einen wunderschönen guten Morgen, mein Schatz!"
"Moin", brummelte Karylla. Sie hatte noch keinen Kaffee
bekommen und war dementsprechend mißgelaunt.
"Ich habe mir gerade die Nachrichten angesehen..."
"Grumpf. Erwartest du von mir, daß ich um diese Uhrzeit
schon mitdenke?!"
"Es ist 08:14 Uhr, Kary, also hab dich nicht so!"
"Ich habe aber noch keinen Kaffee gekriegt!" Sie sah ihren
Partner mitleidheischend an.
"Wenn du dich bequemst aufzustehen, könnte ich mich
vielleicht dazu durchringen, das Frühstück zu
machen."
"Na gut..."
Etwa eine Stunde später saß Karylla - immer noch nicht
ganz momentan - am liebevoll gedeckten Kaffeetisch und spähte
erwartungsvoll in ihre monumentale Tasse. Ryko konnte sich ein Grinsen
nicht verkneifen, als er ihr das dampfende Getränk einschenkte.
Nach der zweiten Tasse war Karylla soweit, daß man sie gefahrlos
ansprechen konnte.
"So", meinte sie gedehnt und reckte ihre müden
Glieder. "Was wolltest du mir vorhin sagen?"
"Einmal ist unser Coup in aller Munde, und zum zweiten hast du
dein Ziel erreicht - Ondavall ist an einem Herzanfall gestorben."
"Was? Dieser Hund! Ich hätte ihm einen langsamen,
qualvollen Tod gegönnt, nach dem, was er meiner Mutter angetan
hat..."
"Hey, Kary, nun mach mal halblang - hin ist hin, oder?"
"Naja, eigentlich hast du recht. Aber irgendwie, finde ich,
ist er viel zu leicht davongekommen..." Ryko zuckte mit dem
Schultern.
"Was machen wir jetzt eigentlich mit unserer Beute?"
wechselte er das Thema.
"Hm. Ich würde sagen - zurückgeben, denn nach deinen
'Beweisen' wird die Versicherung keinen MilliCredit bezahlen. Und ich
hatte ja nicht vor, daß irgendwelche Leute dabei zu Schaden
kommen, die all ihre Ersparnisse auf der Planetenbank deponiert haben.
Sagen wir mal so, wir brechen in den zuständigen Computer ein und
gucken nach, wer eh zuviel Geld hat. Deren Zeugs werden wir einfach
anders verteilen - und dem Rest der Leute geben wir den Kram halt wieder
zurück - samt einer kleinen Entschädigung, versteht sich...
Mit besten Grüßen von Blackfire!" Sie grinste ihren
Partner an. "Nun, was meinst du?"
"Akzeptiert. Machen wir es so."
"Düdeldü..." Blackfire lehnte sich zurück
und studierte die mattsilbrige Beschichtung der Decke des
Eßsalons.
"Was hast du, Kary?" Ryko betrachtete seine Gefährtin
mißtrauisch.
"Och, ich meditiere darüber, was wir als nächstes
unternehmen könnten..."
"Ich empfehle, daß wir uns als nächstes auf den
Rückflug nach Tarishaan machen. Für Übermorgen ist die
Jahresbeginn-Hauptversammlung des Aufsichtsrats von Blade Enterprises
angesetzt, und ich denke, du solltest dort partizipieren.
Außerdem haben Shentay und Myriella heute 'Geburtstag'."
"Himmel, das habe ich ja ganz vergessen! Meinst du, die beiden
wären begeistert, wenn ich ihnen je eins meiner phantastischen
Kunstwerke schenken würde?! Ich glaube, es liegen noch drei oder
vier auf der Villa herum..."
Ryko kicherte unterdrückt, während Karylla sich schon
einmal aufmachte, wieder ihre wallende Neon-Perücke und
entsprechende Kleidung aus dem Kostümfundus zu graben, um sich zu
gegebener Zeit erneut in Acy Blade zurückverwandeln zu können.
Aber zunächst mußten sie einmal ihre Beute zurückgeben.
Als dies einige Stunden später erledigt war, machten sie sich
auf den Rückflug ins Suune-System, um dort wieder ihre angestammten
Rollen als Sir Cayvyn und Alycia Cherylla Blade zu übernehmen - und
auch, um sich den nächsten Coup von Blackfire und Infinity zu
überlegen...
- BYE -
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Last modified: 13.04.2002
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