Die Hüter des Friedens
Amyshica! Ich träume das Universum
(c) 1987 by Stayka Quest
Regenbogenfarbenes Sternenlicht spritzt wie Gedanken durch die ewige
Nacht des Alls und funkelt diamantengleich auf samtiger Schwärze.
Mein imago folgt den interstellaren Energielinien, die das
Universum an das Große Muster fesseln. So oft ich auch mit meinem
Geistkörper die Unendlichkeit durchstreife -- ich glaube nicht,
daß ich dieser Art der Fortbewegung jemals überdrüssig
werden könnte! Ein wenig sehne ich die Zeit herbei, wenn ich in
meine wahre Gestalt zurückwechsele.
Plötzlich gleißt ein unfarbiger Blitz durch den Raum und ruft
meinen Namen. Was ist schon ein Name?
"Morgaine!"
Eine Nova schickt ihre Fühler aus und ringelt Protuberanzen um
meinen Geist, die sich unbarmherzig zu meinem Innersten vorglühen.
Erschreckt zieht sich mein imago zurück.
"Morgaine!"
Ay jéesha! Ich komme doch schon! Wer wagt es da, mich aus
meiner Viláyan-Trance zu reißen? Je näher
ich meinem physischen Körper komme, desto eindeutiger werden meine
Erinnerungen -- und auch die Erkenntnis, daß ich bei meinem
abrupten Trance-Abbruch mit fürchterlichen Kopfschmerzen zu rechnen
habe. Der ewige Preis dafür, eine Weile in einem stofflichen
Körper zu leben. Vielleicht sollte ich doch lieber wieder
umkehren?
Aber nein. Der Grund, aus dem Vérryth mich weckt, muß
schon gravierend sein. Wenig begeistert kehre ich in meinen physischen
Körper zurück und schlage die Augen auf -- aber nur, um sie
Sekundenbruchteile darauf wieder reflexhaft zu schließen.
Dieser marsianische Volltrottel hat doch glatt die Kabinenbeleuchtung
auf maximale Leistung gestellt! Ay djárr, er bewegt sich hart am
Rande eines gewaltsamen Todes. Als reinrassige Amyshica bin ich an
weitaus weniger Licht gewöhnt, denn mein Heimatplanet ist die
sechste Welt des goldgelben G4-Sterns Raccis-Vála -- oder,
für euch alhmáyy, Außenweltler, ist es
Rákhiswala bzw. Zeta Gruis. Vorsichtig öffne ich abermals
die Augen. Ein weißhaariger, junger Mann in orangefarbener Montur
beugt sich besorgt über meine Wenigkeit. Zu seinem ganz
persönlichen Glück hat er es unterlassen, mich zu
berühren. -- Nein, normalerweise hätte ich durchaus nichts
dagegen (das ist einer der interessanten Aspekte der körperlichen
Existenz), aber eine Amyshica in Viláyan-Trance sollte
ein Nicht-Amyshicu besser nicht anfassen, da er sonst einen höchst
unangenehmen Energieschlag verpaßt bekäme.
Deshalb trage ich sonst aus Sicherheitsgründen meist meine langen,
dünnen Handschuhe und Stiefel aus einem silbern schimmernden
Isoliermaterial, obwohl ich als ausgebildete asthérys
('Priesterin der 3. Stufe') durchaus in der Lage bin, meine Energien
auf geistigem Weg zu kontrollieren. Das heißt, solange ich keinen
Telepathen, Telekineten oder sonst jemanden mit einer sogenannten
'aktiven' PSI-Fähigkeit berühre -- bei jenen würde ich
unweigerlich einen Kurzschluß auslösen, der sie im
harmlosesten Fall betäuben, im schlimmsten Fall jedoch psychisch
völlig ausbrennen würde.
"Morgaine!" Zum dritten Mal für heute. Vérryth
sieht mich besorgt aus seinen schräggestellten grauen Augen an.
Ich richte mich ächzend von der silbernen Matte auf, die mir als
Unterlage gedient hat und werde erst einmal meiner Umgebung gewahr. Ich
sitze auf dem Boden einer wenig geräumigen Kabine an Bord eines
Mittelklasse-Passagierliners der Mars-Kara-Route.
Die Wände sind in einheitlichem Beige gehalten, ebenso wie der an
einer Seite eingelassene Schrank und das rein auf
Zweckmäßigkeit ausgerichtete Bett. Insgesamt sind die
Kabinen hier nicht sonderlich auf gemütlich gestylt. Naja, wer
will, kann ja immer noch einen der Aufenthaltsräume aufsuchen, wenn
ihm danach ist. Ayée, mein Kopf! Ich wußte es!
Normalerweise sind wir Amyshicy nahezu unverwüstlich, aber die
Kopfschmerzen nach Trance-Störungen sind nur äußerst
schwierig zu kurieren. Ich suche meine Stiefel und Handschuhe zusammen
und schaue Vérryth strafend an.
"Was ist denn los?" erkundige ich mich leicht genervt.
"Ich hatte dir doch ausdrücklich gesagt, du solltest mich
nicht aus der Viláyan-Trance wecken!"
Der junge Marsianer breitet entschuldigend die Arme aus. Ich kämme
mir erst einmal meine po-langen, metallicdunkelroten Haare.
"Es handelt sich um einen Notfall!" sagt er
nachdrücklich. Ich habe immer noch Kopfschmerzen.
"Was denn für ein Notfall?"
"Die Avemta hat eine Triebwerksstörung, und alle
Passagiere sollen sich umgehend in den Sicherheitsbereich des Schiffes
begeben."
"Warum mußten wir auch ausgerechnet eine Passage auf der
Avemta buchen, um vom Sol IV/Mars nach Accra II/Kara zu
kommen!" seufze ich frustriert. Dieses Schiff macht seinem Namen
alle Ehre -- ist doch Av'emta das Wort für den Urbeginn
des Universums -- und so sieht der Kahn auch aus.
"Wir mußten diese Passage buchen, damit wir sofort
den Anschluß an die Kara-Ellykádja-Route bekommen!"
Ay, ich mag es nicht, wenn er diesen schulmeisterlichen Tonfall
anschlägt.
"éya vhaniána -- ich weiß..."
Wir sind auf dem Weg zu meinem Heimatplaneten, was ein recht
kompliziertes Unterfangen ist. Normalerweise haben wir Amyshicy es
nicht gerne, wenn alhmáyy, also Außenweltler,
unseren Planeten besuchen. Deshalb gibt es kaum eine Fluglinie, die
zwischen dem Raccis-Vála-System und alhmaya
(Außenwelt) besteht.
Lediglich zwischen der Raccis-Vála IV/A'licadja (für
Außenweltler heißt sie Rákhiswala
IV/Ellykádja!) und Accra II/Kara verkehrt alle paar Wochen ein
Passagierliner. Von der A'licadja zur Amyshica zu kommen, ist dann
keine Schwierigkeit mehr, auch wenn die A'licadja in der Regel auch von
den Amyshicy gemieden wird. Vérryth reißt mich aus meinen
Überlegungen.
"Komm schon, Morgaine, wir müssen in den
Sicherheitstrakt!"
Gestreßt nicke ich und zupfe meine knappe weiß/silberne
Tunika zurecht, bevor ich nach meiner metallicblauen
étholana, einen ca. 3--4m langen, 1m breiten
Stoffstreifen, der auf verschiedene Arten drapiert werden kann, angele,
die ich achtlos über die Lehne des Antigravsessels geworfen habe,
der neben dem Bett und einem Klapptisch an der Wand den einzigen
Einrichtungsgegenstand darstellt.
Oh, diese Versuchung, eben schnell hinauszureichen und das Große
Muster dergestalt zu korrigieren, daß ich bereits wieder zu Hause
bin... Aber nein, jede/r des Alten Volkes, der sich auf die
physische Ebene begibt, verspricht, nur in Notfällen mit den
Gegebenheiten des Universums zu spielen -- und außerdem
bekäme ich sicherlich Ärger, wenn ich einem anderen
Träumer in seinem Traum herumpfusche. Also lieber nicht.
Nachdem ich mir die schier endlose Stoffbahn lässig um die
Schultern drapiert habe, folge ich dem fast zwei Meter langen Marsianer
in die Schutzzelle der Avemta. Dort angekommen, stecken wir
unsere ID-Karten in einen Schlitz neben dem Schott, und es öffnet
sich.
Ein weißuniformierter, violetthaariger Karanyo blickt auf eine
Computerfolie und nimmt uns in Empfang.
"Madame deQuésta und M'sieu Y'Cárrhyn, kommt bitte
hier herüber." Er weist uns in einen Raum, in dem sich bereits
mehrere Passagiere befinden. Vérryth und ich nehmen in einer
Sitzecke Platz.
Wenige Minuten später betritt der Erste Offizier der
Avemta den Raum. Auch sie ist weißuniformiert, wodurch
die Tatsache noch mehr ins Auge fällt, daß die Frau eine
Comaana ist -- leicht zu erkennen an der mittelblauen Hautfarbe und den
orangeroten Haaren. Sie stellt sich als C. Céyo-M'han vor und
beginnt sogleich, uns mit den Sicherheitseinrichtungen des Raumers
vertraut zu machen.
Fatalistisch lasse ich den Monolog über mich ergehen. Auch die
übrigen Anwesenden wirken leicht bis mittelschwer gelangweilt,
etwas, das Céyo-M'han geflissentlich übergeht.
Offensichtlich ist sie es gewohnt, daß ihr das Auditorium nur
lustlos lauscht.
Tu'séanu sai'ishvára, so spielt das Leben, pflegt
frau in diesem Falle auf der Amyshica zu sagen.
Als der Erste Offizier den Raum verlassen hat, um die übrigen
Passagiere ebenfalls zu informieren, blicke ich mich neugierig um. Es
sind ungefähr dreißig Personen anwesend -- überwiegend
Humanoide, aber ich entdecke auch drei arachnoide Coaxi von Kraz
VII/Nollakho, die sich in der zirpenden Sprache ihrer Art unterhalten,
sowie einen der kupferfarbenen Eqini von Trélll IV/Eqixa. Der
intelligente Robot von humanoider Gestalt sitzt ein wenig abseits und
mustert die versammelte Gesellschaft ebenfalls mit offenkundigem
Interesse. Die übrigen Anwesenden wiederum sind vorwiegend Karane,
Marsianer und ein paar Terraner. Der comaan Erste Offizier, ich und
eine uralte, rothäutige Cyrja-Irvén-Frau sind die einzigen
Ausnahmen.
Die Irvénna steckt in einer tiefblauen, langen Kutte und ist
sichtlich von hohem Rang, denn ihr nachtschwarzes Haar ist zu einem
eigenwilligen Dutt aufgetürmt, den eine Art blaues Käppchen
krönt. Die Frau macht eine herrische Geste, und zwei
weißblonde, hochgewachsene Mars-Mädchen in langen, purpurnen
Kutten springen auf und eilen zu ihr.
Ich stelle irritiert fest, daß die Irvénna kurz auf meine
Wenigkeit deutet und dann den zwei Marsianerinnen einen Befehl erteilt,
woraufhin diese anscheinend fluchtartig den Raum verlassen.
Plötzlich fällt es mir wieder ein. Diese Alte ist eine
Adayli-Hohepriesterin! -- Ay djárr, ausgerechnet! Es
gibt vielleicht 18 Millionen Adaylis in der Galaktischen Union von
Nehgqù-Xuqù, und eine von ihnen muß hier in der
Avemta mitfliegen! Ich ziehe eine fatalistische Grimasse.
"Was hast du?" will Vérryth wissen. Er fährt mir
durch die Haare.
"Délho, siehst du die Irvénna da
drüben?"
"Die alte Frau mit dem komischen ...Dingsda auf dem Kopf?"
"Genau die. Sie ist eine Adayli-Priesterin."
"Auch eine Priesterin? Na, dann hast du ja sogar eine Kollegin
hier an Bord." Oh, der Ahnungslose! Ich muß schwer an mich
halten, um nicht laut loszuprusten.
"C'améstis, Vérryth -- Kollegin! Die Adaylis
können uns Amyshicy auf den Tod nicht ausstehen. Sie halten uns
für höchst unmoralisch."
"Warum? Weil euere 'Berufskleidung' so aufregend knapp ist?"
Er wirft einen belustigten Blick auf meine Tunika, die man wirklich nur
als 'Supermini' bezeichnen kann, bevor er mich kurz an sich zieht und
mir einen Kuß gibt.
"Nein." Ich grinse ihn frech an.
"Oder liegt es daran, daß ihr im allgemeinen als recht
freizügig in euren partnerschaftlichen Beziehungen bekannt
seid?"
"Auch nicht. -- Nein, du mußt wissen, die Adaylis arbeiten
auf die vollkommene Einheit von Körper und Geist hin --
koom-pa-ura, oder wie sie das bezeichnen. Wir Amyshicy dagegen lernen
während unserer Ausbildung zu asthéryi, wie man
Geist und Körper voneinander trennt. Im Zustand der
Viláyan-Trance können die asthéryi,
also Priester der 3. Stufe, alleine mit ihrem sâtsho --
ay, Bewußtsein! -- durch Raum, Zeit und Ebenen reisen. Die
Adaylis halten das für pervers, woher ihre Abneigung
rührt."
Hm, das ist nicht die ganze Wahrheit -- aber ich denke nicht daran, dem
Marsianer etwas anderes zu erzählen, als die Informationen, die der
Rat für Außenweltler freigegeben hat.
"Aha!" macht der junge Marsianer. Ich blicke wieder zu der
Irvénna herüber, die mir ausdauernd giftige Blicke zuwirft.
Ich kann dich auch nicht ab, du alte Schachtel! Nichtsdestotrotz lasse
ich mir nichts anmerken und lächele sie zuckersüß an.
Ihr von unzähligen Runzeln und Falten durchzogenes Gesicht
verwandelt sich zu einer Grimasse abgrundtiefen Ekels, bevor sie sich an
den gerade zurückgekehrten Ersten Offizier wendet.
"Ehrenwerte C. Céyo-M'han, würdet Ihr die
Freundlichkeit besitzen, es diesem Subjekt..." Eine knorrige,
sechsfingrige Hand deutet auf meine werte Person. "...anheim zu
legen, sich aus dieser Räumlichkeit zu entfernen? Es stört
mein sittlich-ethisches Empfinden."
Phé khântreevheláya! Was für eine
unverschämte Alte!
"Was haltet Ihr davon, wenn Ihr geht,
adyésca", erkläre ich hoheitsvoll. Die Lady
zuckt zusammen, als ich sie mit dem äußerst unfeinen
amyshicaan Schimpfwort für Adayli-Priester belege, macht
ein paar Schritte auf mich zu und scheuert mir eine. Den übrigens
Anwesenden erscheint die Reaktion der Irvénna
unverständlich, da sie glücklicherweise meinen Kommentar nicht
vollständig verstehen konnten.
C. Céyo-M'han sieht uns einen Moment schockiert an, dann
zückt sie einen Paralyzer und betäubt die Irvénna mit
niedrigster Strahldosis.
Natürlich habe ich mich ebenfalls im Strahlbereich befunden, aber
in einer Notfallsituation ist es die höchste Priorität eines
Offiziers der Schiffsführung, etwaige Ausschreitungen zu
unterbinden. Daß ich jedoch sofort wieder quietschfidel auf den
Beinen bin, irritiert sie beträchtlich, und so werde ich nebst der
adyésca zunächst einmal zum Schiffsarzt Doktor
Ayberk Oklü verfrachtet, einem mittelgroßen, dunkelhaarigen
Terraner mit olivfarbener Haut, der uns sofort nach Strich und Faden
untersucht.
Währenddessen wird der Alarm abgeblasen. Wenigstens etwas. Die
Passagiere kehren erleichtert in ihre Kabinen zurück, nur ich und
die Adayli liegen auf je einer Pritsche in der Medostation der
Avemta und müssen allerlei völlig unnötige Tests
über uns ergehen lassen.
In meinem Fall vollkommen überflüssig, das Ganze. Immerhin
bin ich eine Amyshica. Für uns gibt es so etwas wie 'Krankheiten'
nicht, denn wir stehen in ständigem und unmittelbarem Kontakt mit
ta'nytháva'm adyvátha-bárhamahsi --
ayée, wie kann ich euch alhmáyy das nur auf
einfache Art und Weise erklären? Daccù, sagen wir mal
einfach 'das Große Muster des Universums' dazu -- das dürfte
die eigentliche Bedeutung am ehesten versinnbildlichen.
Die Verbindung zu diesem universalen Grundmuster bedeutet für uns
Amyshicy, daß wir direkten Einfluß auf das gesamte Universum
nehmen können -- und natürlich auch auf unsere direkte
Umgebung, wie auch auf uns selbst. Allerdings impliziert diese
Fähigkeit auch eine ungeheure Verantwortung, die wir tragen
müssen.
So ist es an uns, daß wir in der Regel nur beobachten.
Kleinigkeiten wie die vollkommene Körperregeneration sind jedoch
bereits unterbewußte Aktionen, die wir gar nicht mehr zu steuern
brauchen. Außerdem ist ein solcher Eingriff in
ta'nytháva'm derart geringfügig, daß er
keinerlei kosmische Auswirkungen zur Folge hat.
Endlich hat Dr. Oklü seine Untersuchungen an mir beendet. (An der
Irvénna darf sich ein Krankenpfleger versuchen, wie ich
amüsiert feststelle.) Er schüttelt fassungslos den Kopf.
"Unglaublich. Einfach unglaublich! Madame deQuésta -- ich
habe noch keinen Menschen gesehen, dessen Gesundheitszustand derart
perfekt war..." Ich grinse ihn an.
"Ich bin schließlich kein Mensch. Ich bin eine
Amyshica." Ich gebe zu, diese Bemerkung war der
Intelligenz-Kommentar Nr. 24, aber mir war gerade danach.
"Das ist noch etwas, das mich verwundert. Ich habe den MedoComp
befragt, und nirgendwo ist eine einzige Information über
amyshicanische Krankheiten oder ähnliches." Er schüttelt
schon wieder den Kopf. Wenn er nicht aufpaßt, wird das noch
chronisch.
"Es gibt keine Informationen darüber!" kläre ich ihn
auf, "weil es gar keine amyshicaan Krankheiten gibt."
"Äh... Wie macht Ihr das?" Er bangt wohl um seinen Job
als Mediziner.
"Auf der Amyshica ist das eine Angelegenheit der Philosophie. Aber
ich bezweifle, daß Ihr als alhmáyo das verstehen
würdet, Doktor", entgegne ich ein wenig herablassend. Ich
will hier endlich raus.
"Wenn ich Euren Tonfall richtig interpretiere, dann haltet Ihr
nicht allzuviel von "almadscho", was immer das ist!"
bemerkt der Terraner etwas säuerlich. Ich mache eine wegwerfende
Handbewegung.
"Alhmáyo heißt ganz einfach
'Außenweltler'. Falls Ihr darüber nicht informiert sein
solltet -- die Amyshica ist eine syth
á'bárrima."
"Eine Syth á'bárrima -- eine 'gesperrte Welt
auf eigenen Wunsch'... Ungewöhnlich für einen Planeten mit
hoher Kulturstufe, wie ich es bei Euch unterstellen würde."
Ich lächele ihn nachsichtig an.
"Auch dies hat mit unserer Philosophie zu tun.
Alhmáyy würden nur isháva'm --
äh, unsere Große Aufgabe -- stören."
Ebenfalls die vom Rat freigegebenen Kommentare.
"Faszinierend. Und was für eine 'Große Aufgabe' soll
das sein?"
"Wir träumen das Universum." Soll er mich doch für
ein bißchen exzentrisch halten...
"Wie bitte?!" Der Schiffsarzt starrt mich höchst
irritiert an, als sei ich eine Amöbe, die plötzlich zu morsen
anfängt, oder etwas ähnlich merkwürdiges.
"Wir träumen das Universum!" wiederhole ich einfach.
"Ihr träumt vom Universum?" erkundigt sich Doc
Oklü unsicher.
"Nein. Wir träumen das Universum. Es gibt keine
Wirklichkeit, nur kollektive Subjektivität -- und wir halten den
Traum."
"Ich verstehe nicht ganz..."
'Nicht ganz' ist gut! Ay, alhmáyy! Aber lustig sind sie
trotzdem. Der gute Mann guckt mich ein wenig mitleidig an. Bestimmt
hält er mich für psychisch ein wenig gestört.
Manchmal wünschte ich, ich dürfte den Außenweltlern mehr
erzählen, aber das würde die meisten nur unnötig in
Verwirrung stürzen. Immerhin befindet sich die Amyshica nach der
Benné'schen Skala der Entwicklungsstufen bei V. Die
asháry-vhaúny, die 'Ältesten der Amyshica'
sind längst bei Stufe Y angelangt. Dabei hört die
Benné-Skala bei Z auf, und nicht einmal die Stufen T bis Y werden
von allen hiesigen Wissenschaftlern als gesichert akzeptiert.
Zum Vergleich: Accra II/Kara, die Zentralwelt der Galaktischen Union,
steht erst auf Stufe O. Die Karane waren bereits einmal auf Stufe R,
doch damals, als der Bund der Vier Galaxien zerfiel, erhielten
alle Zivilisationen einen schweren Rückschlag. Als sich Karas
Mutterwelt Konja I/Cyrea abkapselte, brauchte der Tochterplanet lange
Zeit, um sich davon wieder zu erholen.
Ich bequeme mich endlich, von der Liege zu kraxeln. "Kann ich
jetzt gehen, Doktor? Der Befund war doch negativ."
"Ja, geht nur!" Der Arzt zieht ein Gesicht, das recht deutlich
verrät, wie genehm ihm mein Abgang sein wird.
Alhmáyo!
* * *
Als ich in meine Kabine zurückgehe, wartet Vérryth bereits
dort auf mich.
"Nun?" erkundigt er sich neugierig. Er ist wirklich der
geborene Reporter, dieser Marsianer. Ich lasse mich neben ihm auf dem
Bett nieder.
"Was nun?" frage ich zurück. "Der Doc wollte mich
nach allen Regeln der Kunst auseinandernehmen, als er aber nichts fand,
hat er es dann doch sein gelassen."
"Aha. Was ich dich noch fragen wollte -- wie sieht eigentlich die
Amyshica aus? Ist sie eher ein Wasserplanet oder eine
Wüstenwelt?"
"Daß du aber immer gleich in solche Extreme verfallen
mußt! Sie ist ein schöner Planet mit allem, was
dazugehört -- und mehr. Warte es doch ab -- in ein paar Tagen
wirst du sie selbst sehen."
"Bei den Monden des Jupiter, ich kann wirklich nur dem Schicksal
danken, daß du mir in Nova-Athen über den Weg gelaufen bist.
Gee, ich glaube nicht, daß irgendeiner der anderen Jung-Reporter
mit so einer Abschlußarbeit zurückkommen wird!"
Aber auch ich bin nicht unzufrieden damit. Jetzt kann ich endlich
einmal unsere sâvha'm asthérasi, die Vorsitzende
des Hohen Rates der Amyshica-Priesterschaft, herausfordern und dabei
gewinnen! Zur Zeit ist der sâvha'm asthéryisa
(der Hohe Rat) zerstritten und in zwei Lager gespalten. Einmal sind es
die zwölf Räte (mit insgesamt 16 Stimmen), die hinter
V'árhain sha N'ynhain, der Vorsitzenden, stehen, und zum anderen
die 13 Räte (mit ebenfalls 16 Stimmen), die den Hohen Rat C'ayvhedo
vy N'ámvhue unterstützen.
Der große Streitpunkt der beiden Parteien ist der Spruch der
syth á'bárrima. V'árhain ist der festen
Überzeugung, der Spruch sei Tradition und dürfe deshalb unter
gar keinen Umständen aufgehoben werden, während die Gruppe
unter C'ayvhedo der Ansicht ist, diese Angelegenheit sei längst
überholt, und man müsse die Amyshica wieder der
Außenwelt öffnen.
Ich für meinen Teil finde, daß das eigentlich egal ist,
immerhin sind wir sowieso nur zu unserem Vergnügen in dieser
Daseinsform -- aber manche scheinen das irgendwie etwas zu ernst zu
nehmen. Aber wenn man mich unbedingt zu einer
Meinungsäußerung verpflichten will, finde ich C'ayvhedos
Ansicht besser. Ein bißchen Abwechslung hat noch niemandem
geschadet.
V'árhains stärkstes Argument war bisher, daß ein
Außenweltler mit den Kraftlinien des Großen Musters
interferiere, doch eine Gruppe asthéryi (Priester der 3.
Stufe) unter M'árghain sha M'árvhain hat in einigen
Experimenten nachgewiesen, daß ein solcher Einfluß von den
Viláyan-unbegabten Außenweltlern gar nicht
ausgehen könnte. Dies wird von der Hohen Rätin jedoch nicht
anerkannt.
Ich für meinen Teil habe den Eindruck, ein Großteil der
Amyshicy hat vergessen, wer wir eigentlich sind. Aber wenn es
V'árhain anders nicht beizubringen ist...
Aus diesem Grund bin ich nach Außenwelt geflogen, um einfach einen
echten alhmáyo auf die Amyshica zu bringen, und
V'árhain sha N'ynhain so zu beweisen, daß gar nichts
geschehen würde. Ich lächele den Marsianer an, bevor ich die
Arme um ihn lege. Abgesehen davon gefällt er mir auch anderweitig.
Ayée, ich kann es mir wieder mal nicht verkneifen, in seinen
schimmernd weißen Haaren herumzuwuscheln -- eine meiner
Lieblingstätigkeiten. Daraufhin küßt er mich erst
einmal -- eine weitere meiner Lieblingsbeschäftigungen. Ich
glaube, es dauert eh noch ein Weilchen, bis die Avemta auf
Accra II/Kara ankommt -- bis dahin ziehen Vérryth und ich uns
diskret zurück.
* * *
"Morgaine!"
"Mh?" Ist was? Ich habe keine Lust aufzustehen. Ich hatte
noch nie Lust dazu aufzustehen, soweit ich mich erinnern kann.
Vérryth jedoch läßt nicht locker.
"Morgaine!"
"Vérryth. Was ist?"
"Wir landen!"
"Ah, wir landen! Super!" -- Sehr geistreicher Kommentar, ich
geb's zu, aber es ist wohl doch noch ein wenig früh am Morgen,
oder? Ay, eher spät am Morgen, sehe ich gerade. Ayée, auf
jeden Fall ist es kurz nach dem Aufstehen, also zu früh für
mich. Ich kuschele mich hingebungsvoll an den jungen Marsianer (er ist
einfach niedlich!) und denke gar nicht daran, mich in absehbarer Zeit
erheben zu wollen. Vérryth rupft mir die Bettdecke weg.
Gemeinheit! Hm... Soll ich mal eben im Großen Muster -- nein!
Ich darf ja nicht. Es ist nicht leicht, ein stoffliches Kind des Ersten
Prinzips zu sein.
"Muß das sein?" erkundige ich mich gestreßt, bevor
ich ihm einen Kuß gebe. Vielleicht sollte ich mich mit ihm
zudecken; das wäre jedenfalls zu überlegen. Vérryth
nickt belustigt.
"Sicherlich. Die Avemta hat nur fünf Stunden
Aufenthalt, bevor sie nach Accra III/Thrall weiterfliegt."
"Schade. Naja, kann frau wohl nichts machen." Langsam aber
sicher krauche ich nun doch aus den Federn, um meine diversen
Kleinigkeiten zusammenzusuchen etc. Die Aussicht, endlich aus diesem
fliegenden Schrotthaufen herauszukommen, stimmt mich gleich
fröhlicher. Nachdem die Avemta auf dem Raumhafen der
karanischen Metropole Keara-Lerát aufgesetzt hat, werden die
Passagiere zunächst durch eine Dekontaminatio-Schleuse direkt zur
Personenkontrolle gelotst.
Als Leute und Gepäck sorgsamst durchleuchtet und angeblich
datenklausicher im Archivcomp registriert sind, dürfen alle ihren
Geschäften nachgehen. Das heißt, ich darf erst einmal wieder
ungezählte Fragen beantworten und Formulare ausfüllen, weil
man mich als Amyshica identifiziert hat. Und da mein Heimatplanet eine
gesperrte Welt auf eigenen Wunsch ist... Ich werde V'árhain bei
meiner Rückkehr gelegentlich die Meinung über diesen
Papierkrieg erzählen; vielleicht schreibt er mal einen Artikel
darüber, der all das ausgiebig anprangert.
Vérryth und ich quartieren uns bis zur Ankunft des Liners
Eascíra, der uns zur Raccis-Vála IV/A'licadja --
ayée, ich meine zur Rákhiswala IV/Ellykádja! --
bringen soll, in das Hotel Tíraan ein. Das Schiff
sollte morgen abend vom Raumhafen Kara-Central/Keara-Lerát
starten.
"Ich möchte ein wenig durch die City bummeln, Morgaine",
meint der Marsianer zu mir. Ich habe eigentlich nicht unbedingt das
Bedürfnis danach und schüttele den Kopf. Diese Geste
muß ich mir bei meinem kurzen Aufenthalt auf dem Sol IV/Mars
angewöhnt haben. Tsayée! Normalerweise zeigt frau ihre
Ablehnung doch durch eine waagerechte Bewegung der linken Hand (mit
ausgestrecktem Zeige-- und Mittelfinger) auf Brusthöhe!
"Ay, ich habe keine Lust dazu. Ich möchte noch ein wenig
vhílyánam -- jee, wie sagtest du noch dazu?
'meditieren'{}?"
Das Wort stimmt nicht ganz. vhílyánam, d.h.
'sich in Viláyan-Trance versetzen', ist mehr als
meditieren. Es bedeutet, den sâtsho (das
Bewußtsein) vom physischen Körper zu lösen und mit dem
imago (Geistkörper) das Universum zu durchstreifen.
"Na gut." Vérryth ist nicht übermäßig
begeistert von meinem Entschluß. Tu'séanu
sai'ishvára. Schulterzuckend zieht er von dannen. Ich hole
meine nedana (Meditationsmatte) aus meinem Gepäck und
breite sie auf dem Boden aus, bevor ich mich von meiner
étholana, Gürtel, Handschuhen und Stiefeln befreie.
Als ich noch kurz die Toilette aufsuchen will, um mich ein wenig zu
erfrischen, stolpere ich natürlich -- ganz wie üblich! --
über meine Stiefel. Ay djárr!
Prompt werden sie in eine Ecke gekickt, zu den Handschuhen und der
étholana. Endlich mache ich es mir auf der
nedana bequem und entspanne mich...atme ruhig und
gleichmäßig...ganz ruhig...langsam reiht sich mein
sâtsho in die kosmischen Energieströme ein, und mein
imago geht auf die Reise. Ich gleite auf unfaßbaren
Pfaden durch das All -- Sonnen tanzen ihren Reigen im Meer der
Dunkelheit -- und endlich erreiche ich den goldgelben Stern
Raccis-Vála, dessen sechster Planet die Amyshica ist. Hier liegt
die khântreevheláya, das Zentrum des Traumes, der
Ursprung des Großen Musters.
Aber vielleicht sollte ich euch zum besseren Verständnis erst
einmal etwas über den Ursprung des Universums erzählen, denn
selbst zu dieser Zeit hatte die Amyshica schon eine wichtige Rolle
gespielt.
* * *
Wenn das alte All erloschen ist, wenn sich Frage und
Antwort gefunden und erkannt haben, ist eine
is'séyéda (ein kosmischer Zyklus) abgeschlossen.
So war es vor fast 23.5 amyshicaan Zyklen, was etwa 17.408
Milliarden terranischer Jahre entspricht, und so wird es auch zum Ende
dieser is'séyéda wieder sein.
Aus der Verbindung von Frage und Antwort entstand das
Erste Prinzip des neuen Universums: CEVEDÙ,
'tai scymálth' ('der Träumer'). Mit einer vagen
Erinnerung an das alte All träumte er das neue. Zuallererst schuf
er khântreevheláya, das Zentrum des Traumes: eine
Idee, ein Modell, nach dem das Universum gestaltet wurde:
ta'nytháva'm adyvátha-bárhamahsi -- das
Große Muster des Universums. In dieses war und ist jede winzige
Einzelheit des Kosmos einbeschrieben, angefangen vom Tanz der Galaxien
bis hin zum scheinbar zufälligen Umherdriften interstellarer
Staubpartikelchen. Gleichsam mit dem Großen Muster entstand auch
schon Die Frage des neuen kosmischen Zyklus, das Zweite
Prinzip: STAIE, 'tai khéstá'.
Sie verkörpert die Suche nach dem Sinn des Seins, und aus ihr wird
dereinst auch der nächste Träumer hervorgehen. Neben
STAIE träumte CEVEDÙ noch ein Volk von
Geistwesen, die das Große Muster hüten und weiter
träumen sollten, die Amyshicy, was bedeutete 'die Kinder des
Ersten Prinzips'.
Mit der Zeit formierte sich das Universum so, wie ihr es jetzt kennt:
Unterteilt in évanyale (kosmische Ebenen) und
syt'anyale (Zeitebenen) und angefüllt mit Sternen und
Planeten, immer gemäß der Ordnung, die das Große Muster
vorschrieb.
Doch eine gab es, die durch ihr bloßes Sein das
Gleichgewicht der Ordnung störte: STAIE, 'tai
khésta', die von den Amyshicy auch ta'shaya ta'si
av'emta genannt wurde -- die Tochter des Ursprungs. STAIE
reiste durch das junge Universum, stets auf der Suche nach der
Letzten Antwort. Sie fragte und legte Die Frage in
die Herzen der Wesen des neuen Kosmos -- und somit wurde das Dritte
Prinzip des Universums auf den Plan gerufen: die, die die Handlung
verkörpert, ISTHÁNYA, 'tai dooya'. Sie,
die ta'shaya ta'si iqùnah, die Tochter des
Gleichgewichts ist, kennt kein Gut, kein Böse, nur die
Aktion. Sie ist das Ergebnis der Aufspaltung der Einheit in die zwei
Prinzipien VARYS und TESCIA, die sich
gegenüberstehen und ergänzen wie hell und dunkel, böse
und gut, positiv und negativ, ohne daß jedoch festgelegt werden
könnte, welches der Prinzipien nun das bessere wäre.
Auch diese Prinzipien haben Verkörperungen als universale
Prinzipien: SHAVAL, 'tai scérca' ('die
Sucherin'), ist die Vertreterin des VARYS-Prinzips,
während VILAYA, 'tai vhílya' ('die
Reisende') für TESCIA steht. Sowohl SHAVAL, als
auch VILAYA begleiten STAIE auf ihrer ewigen Suche.
Wenn die Tochter des Ursprungs nun dereinst den Sohn des
Gleichgewichts (to'vyyo ta'si iqùnah) trifft,
bedeutet das das Ende dieses kosmischen Zyklus.
Doch bis dahin werden noch gewaltige Energien die
leylenée (Energielinien zwischen den
évanyale) entlangströmen, unzählige Welten
geschaffen und Träume geträumt -- und dann erscheint das
Sechste Prinzip, LARIKÙ, 'tai
ascyálth' ('der, der die Antwort ist').
Aber zurück nun zu den Kindern des Ersten Prinzips. Waren
die Amyshicy auch reine Geistwesen, so begab es sich, daß durch
den Traum ein Sonnensystem dort entstand, wo sich die
khântreevheláya befand.
Dieses System gehorchte keinem der Naturgesetze, die für das
Universum galten, denn zu eng war es mit dem Großen Muster
verbunden. Seit Anbeginn der Zeit strahlte die Sonne in lichtem Gold
auf ihre neun Planetenkinder, und die Amyshicy gaben ihr den Namen
râccys vála aythasi oder in der Sprache der
Außenweltler 'ewige Herrscherin des Lichts'. Der sechste Planet,
der eine besondere Affinität zu ta'nytháva'm hatte,
wurde zu Ehren des Ersten Prinzips (amy sheeca)
CEVEDÙ 'Amyshica' genannt.
Im Laufe der Zeit entwickelten sich auch Planetensysteme um viele der
Sonnen, die zu den neu entstandenen Galaxien und Sternhaufen
gehörten, und irgendwann brachte die Evolution intelligentes,
stoffliches Leben hervor. Die Amyshicy beobachteten die
Vorgänge im Universum durch das Große Muster und
ergötzten sich an den kleinlichen Taten und Handlungen der
materiellen Wesen, und irgendwann wurde ein Teil der Kinder des
Ersten Prinzips ihres geistigen Daseins überdrüssig.
Sie beneideten die stofflichen Existenzen um ihre Lebensart und
beschlossen, sich ebenfalls materielle Körper zu schaffen und sich
auf der Amyshica niederzulassen.
Dies teilte die Av'emtyi, dieses älteste der Alten
Völker, in zwei Lager: diejenigen, die weiterhin im Zustand
der sattâvha, der geistigen Form, verharren wollten und
jene, die das physische Leben vorzogen. Die geistigen Amyshicy zogen
sich wieder auf ihren Beobachtungsposten zurück und wurden die
asháry-vhaúny (die 'wahren Weisen'), während
die stofflichen Amyshicy die Welt Amyshica so herrichteten, daß
sie durchaus als 'normale' Welt angesehen werden konnte. Sie formten
Kontinente, Meere, Inseln, Städte, Pflanzen, Tiere -- bis die
Amyshica nach ihrer Ansicht ein vollkommener Planet war. Allerdings
schaffen die Gedanken aller hier lebenden Wesen immer neue Formen, so
daß man nach zehn Schritten unter Umständen in einer ganz
anderen Welt steht als der, von der aus man losgegangen ist.
Auch dem Großen Muster verliehen die Amyshicy eine
quasi-materielle Erscheinungsform. Wie eine Kugel aus flimmernder Nacht
schwebt es über der Traumebene, wo sie sie den Tempel des
Universums, die kosha-adyvátha-bárhamahsi
erdachten. Dieser Tempel entspricht aber in nichts einem Heiligtum der
stofflichen Wesen. Die kosha-adyvátha-bárhamahsi
ist mehr eine Idee, die jeder Amyshicu in Gedanken betreten kann, ohne
einen anderen dabei zu stören.
Ein Amyshicu ist jeweils dazu ausersehen, das Große Muster in
seiner quasi-materiellen Erscheinungsform zu stabilisieren, und jeder
Amyshicu, der die Traumebene betritt, gelangt zu seinem Tempel des
Universums und kann für sich das Große Muster beobachten.
So geschah es, daß das Volk Amyshica entstand.
Die übrigen Rassen lebten in völliger Unwissenheit ob des
Volkes der Wächter, doch mit der Zeit wollten die Amyshicy auch
selbst einmal die Welten der jungen Rassen besuchen, und langsam aber
sicher wurde man dort der geheimnisvollen Humanoiden gewahr, die hie und
dort auftauchten, um zu beobachten, aber sich selbst in Schweigen
über ihre Herkunft hüllten.
Ab und zu fiel der Name Amyshica und wurde zum Sinnbild für das
Mysterium der Fremden. Sowohl Männer als auch Frauen waren
hochgewachsen und von titandioxidweißer Hautfarbe, mit
metallicdunkelroten Haaren und silbergesprenkelten, kobaltblauen Augen
-- so völlig unähnlich allen bekannten humanoiden Rassen der
drei großen Blutlinien von Cyrea, Laan und S'selite.
(Alle humanoiden Rassen werden in eine dieser Völkerfamilien
eingeteilt. So ist die Cyrea-Linie diejenige mit rotem
(Hämoglobin--) Blut, zu der z.B. Karane, Terraner, Irvénni,
Marsianer etc. gehören, die Laan-Linie hat blaues
(Hämocyanin--) Blut -- bekannte Vertreter sind z.B. die Comaany,
Svyéty und Syaane -- und die S'selite-Linie ist die, deren
Abkömmlinge grünes (Chlorocruorin--) Blut haben, wie z.B. die
Kaskáez, M'yrtaz, Delynnyr und Fáhgûna.)
Manche hielten die Amyshicy für Engel, und andere nannten sie Hexen
und Teufel, denn ihre Fähigkeiten, so sie diese zeigten, waren
Legende, und sie kannten weder Alter, noch Krankheit, noch Tod.
Außerdem stellte es sich heraus, daß sie jenseits von Gut
und Böse standen -- sie wandten sich nicht mit Abscheu von
Greueltaten ab, noch unterstützten sie diese, und sie halfen oder
hinderten auch nicht, wenn Gutes getan wurde. Die Amyshicy waren
einfach unbestechliche Beobachter, und hin und wieder, wenn sie es
für richtig erachteten, auch Ratgeber, wobei sie ihre
Ratschläge sowohl der einen wie auch der anderen Seite zukommen
ließen.
Jedoch stellte es sich im Laufe der Zeit heraus, daß die Amyshicy
begannen, Eigenschaften der jungen Völker zu übernehmen, und
nunmehr fingen auch die Kinder des Ersten Prinzips an, Partei
zu ergreifen, wo sie es eigentlich nicht hätten tun dürfen.
So begab es sich, daß der Hohe Rat der Priesterschaft
(ta'sâvha'm asthéryisa), um weiteres Unheil zu
verhindern beschloß, die Amyshica zur syth
á'bárrima (gesperrte Welt auf eigenen Wunsch) zu
erklären. Es war M'arhlynh vy N'ámvhue (Mérlin
daNimue), der den Spruch verhängte, und es bedeutete, daß es
Außenweltlern unter allen Umständen verboten war, jemals die
Amyshica zu betreten, und daß es unter den Amyshicy nunmehr
verpönt war, alhmaya (Außenwelt) zu besuchen.
Diese Situation bestand lange Zeit, bis jetzt, wo einige Amyshicy sich
dafür einsetzen, daß der Spruch der syth
á'bárrima wieder aufgehoben wird. Naja, das ist die
derzeitige Lage.
* * *
Im Augenblick allerdings ist mein imago auf dem Weg zur
Amyshica, um in das Große Muster einzutauchen und so neue Energien
aus den leylenée zu schöpfen. Ich drifte an Ashca
vorbei, dem einzigen Mond der Amyshica und tauche in die Atmosphäre
ein.
Vor mir liegt die gewaltige, zyklamenfarbene Traumebene, die
reevhanyal, mathematisch vollkommen plan, darüber der
ebenso hellviolette Himmel, der von fedrig weißen Wolkenschleiern
durchwoben ist. Nun erreicht mein Geistkörper die
kosha-adyvátha-bárhamahsi, ein gewaltiges, in den
Boden eingelassenes Fünfeck, dessen einzelne Stufenebenen man
über mehrere Rampen erreichen kann.
In der khântra, dem Mittelpunkt des Tempels, leuchtet ein
milchweißes Fünfeck, das von schimmernden Kraftlinien
durchzogen ist, deren Gleißen den diensthabenden
asthéro in seinem Zentrum in magisches Licht taucht. In
seiner schneefarbenen Robe mit gleichfarbiger Haut und nur dem unirdisch
metallglitzernden Rot seiner Haare, wirkt er wahrlich wie ein Wesen aus
einer anderen Sphäre. Mein sâtsho berührt den
Geist des asthéro. Ich erkenne C'éhadric vy
P'yrdhain (Cedric daPardeen).
"C'éhadric, ich grüße dich!"
"Auch du seist gegrüßt, M'árghain."
"Ich erbitte das Große Muster in meine Hände."
"Frage oder erhalte."
"Ich frage den Geist des Träumers."
"So sei es denn." Vor meinem geistigen Auge löst sich der
asthéro C'éhadric auf, und ich spüre, wie ich in den
Energieströmen des Großen Musters pulsiere. Allüberall
erfahre ich die Anwesenheit CEVEDÙs wie ein
unhörbares, mentales Wispern, daß sich um mein imago
legt.
"Ich grüße dich, kleine Tochter M'árghain, du
hast eine Frage?"
"Auch du seist gegrüßt, CEVEDÙ, Sohn des
Ursprungs. Siehst du, welche Veränderungen auf die Amyshica
zukommen werden?"
"Ich sehe Veränderungen auf allen Welten des Alls --
VARYSIAN, TESCIAN und noch viel mehr. Auch die Kinder des
Ersten Prinzips sind davon betroffen."
"Mehr willst du nicht sagen?"
"Mehr darf ich nicht sagen, kleine Tochter. So wie auch
STAIE Die Antwort erst erkennen muß, wenn sie
sie auch gefunden hat, so müßt ihr erkennen, wann die Zeit
der Wandlungen ruft.
"Ich danke dir, C'ayvhedo vy Av'emta, der du 'der Träumer'
bist. Träume weiter bis ans Ende der Zeiten,
CEVEDÙ!"
Schon ist CEVEDÙ, 'tai scymálth' wieder
verschwunden und in den Netzen der reevheláya, des
kosmischen Traumes, verstrickt. Ich erneuere meine Kräfte, indem
ich von den leylenée zehre, die das Große Muster,
wie auch das Universum durchziehen, und die auch die Verbindung zwischen
ta'nytháva'm und All darstellen. Als ich mich wieder
vom Großen Muster löse, berühre ich noch einmal den
sâtsho des asthéro C'éhadric vy
P'yrdhain, um ihm Bescheid zu geben, daß ich wieder fortgehe.
"Hast du deine Antwort erhalten?" fragt er formell.
"Der Geist des Träumers öffnete sich mir!" gebe ich
ebenso formell zurück. "Ich fand, was ich suchte, und nun
werde ich gehen."
"Lebwohl, M'árghain sha Q'ésthain."
"Auch dir Lebwohl, C'éhadric vy P'yrdhain." Ich
verlasse die Amyshica und mache mich auf den Rückweg nach Accra
II/Kara.
Nebenbei, M'árghain sha Q'ésthain ist mein 'richtiger'
Name, den ich auf der Amyshica trage, mein sheya.
Außenweltlern gegenüber heiße ich aber immer noch
Morgaine deQuésta (das ist mein imaya oder
Außenweltname). Überhaupt hat jeder Amyshicu ein
sheya und ein maya, z.B. ist C'éhadric vy
P'yrdhain ein sheya und der dazugehörige
Außenweltname wäre Cedric daPardeen. Die Prinzipien
haben außer maya und sheya noch ein
sheecya, den 'Prinzipnamen'.
Als Beispiel nehme ich einmal das Erste Prinzip des Universums.
Sein sheecya ist CEVEDÙ, 'tai
scymálth', das sheya ist C'ayvhedo vy Av'emta, und
sein maya ist Cayvédo dayAvemta.
STAIE, 'tai khéstá' wiederum ist
S'ílestayka sha Av'emta. Bei den anderen Prinzipien
sieht es ebenso aus. Ay, ich liste sie mal einfach der besseren
Übersicht hier auf!
- CEVEDÙ, 'tai scymálth' -- 'der
Träumer' ist das Erste Prinzip (amy sheeca). Er
ist C'ayvhedo vy Av'emta (Cayvédo dayAvemta),
to'vyyo ta'si av'emta (der Sohn des Ursprungs), und er
verkörpert den Traum und die Passivität ebenso wie die
Kreativität.
- STAIE, 'tai khéstá' -- 'die Frage'
ist das Zweite Prinzip (disa sheeca). Sie ist
S'ílestayka sha Av'emta (Morgaine deyAvemta),
ta'shaya ta'si av'emta (die Tochter des Ursprungs) und
verkörpert die universale Frage nach dem Sinn des Lebens.
- ISTHÁNYA, 'tai dooyá' -- 'die
Aktion' ist das Dritte Prinzip (téres sheeca).
Sie ist Y'stania sha Iqùnah (Yásta
deyIqùnah), ta'shaya ta'si iqùnah (die
Tochter des Gleichgewichts) und verkörpert die Handlung,
Realität und Aktivität. Sie ist weder gut noch böse, hat
aber als Stargirl in den Vier Galaxien viel Unheil
angerichtet.
- SHAVAL, 'tai scércá' -- 'die
Sucherin' ist das Vierte Prinzip (vyre sheeca). Sie
ist S'cávhal sha Varys (Shavál deVARYS),
ta'shaya ta'si sheeca varys, (die Tochter des
VARYS-Prinzips) und verkörpert eben das
VARYS-Prinzip. Sie ist eine Begleiterin STAIEs auf
der Suche nach der Antwort und heißt auch Shayla Varys Al T'oroun.
- VILAYA, 'tai vhílyá' -- 'die
Reisende' ist das Fünfte Prinzip (sina sheeca).
Sie ist V'élhaia sha Tescia (Viláya deTESCIA),
ta'shaya ta'si sheeca tescia (die Tochter des
TESCIA-Prinzips). Auch die Verkörperung des
TESCIA-Prinzips ist eine Begleiterin STAIEs. Sie hat
zusätzlich den Namen T'Lath oder Teelath.
- LARIKÙ, 'tai ascyálth' -- 'der,
der die Antwort ist' ist das Sechste Prinzip (sysa
sheeca). Er ist L'árhiko vy Iqùnah (Lérryko
day Iqùnah), to'vyyo ta'si iqùnah (der
Sohn des Gleichgewichts).
Genug davon! Ich kehre nun in meinen physischen Körper
zurück. Diesmal erwache ich langsam -- ohne Brummschädel.
Vérryth ist immer noch nicht von seinem Stadtbummel retour. Ich
fühle mich zur Zeit ziemlich frisch. Die Energien der
leylenée haben mir gut getan.
Als der Marsianer aus Keara-Lerát-City wiederkehrt, lädt er
mich ganz formvollendet zu einem Essen in einem sündhaft teuren
karanischen Restaurant ein. Naja, eigentlich brauchte ich
überhaupt nicht zu Essen -- aber ich will ihm den Spaß nicht
verderben. Außerdem zahlt die Info-Gruppe, bei der er in der
Ausbildung ist, jegliche Spesen, wie Vérryth mir glaubhaft
versichert. Ich hülle mich per Gedankenimpuls in einen
nachtschwarzen Overall, der von winzigen, regenbogenfarbig
lumineszierenden Partikelchen übersät ist, dazu ein
bodenlanges, blauschwarzes Cape und gleichfarbige lange Handschuhe und
Stiefel, ein winziger Eingriff in das Große Muster. Es hat schon
seine Vorteile, wenn frau eine Amyshica ist! Vérryth hat nur
staunend dabeigestanden.
"Wie machst du das bloß?"
"Das Universum ist ein Traum, und jeder der selbst aktiv
träumt, kann das Universum schaffen."
Vérryth sieht mich zweifelnd an, dann macht er eine Geste zur
Tür. Er hat offenbar beschlossen, dies nicht weiter zu verfolgen,
damit sein 'gesunder Menschenverstand' keinen Schaden erleidet.
Wir spazieren hinunter auf die Himmelspromenade, einen
antigrav-stabilisierten Gleitweg aus einem fast unsichtbaren, glasklaren
Material, der sich vom Boden bis in über dreihundert Meter
Höhe hinaufschraubt und geradewegs in die City von
Keara-Lerát führt. Dieser Gleitweg führt dem
unbedarften Besucher wieder einmal die überragende karanische
Hochtechnologie vor Augen. Wenn man den Weg betritt, wird man
übergangslos und ohne eigenes Zutun bis zur Kernzone gezogen, wo
sich der Hochgeschwindigkeitsbereich befindet. Ein Schritt zur Seite
löst einen gegenteiligen Mechanismus aus, anders als zum Beispiel
auf dem Mars, wo man umständliche Umsteigemanöver über
mehrere Gleitbänder benötigt, um das schnellste zu erreichen.
Auf Kara gibt es allerdings nur eine Standardgeschwindigkeit im
Gegensatz zu den fünf Stufen der marsianischen Gleitbänder.
Alles hat seine Vor-- und Nachteile.
Nach etwa zwanzig Kilometern senkt sich die Himmelspromenade wieder auf
Bodenlevel und wird zu einem offenen Weg. An den Seiten sind
verschiedene Markierungen angebracht, je nachdem wo man auszukommen
gedenkt, wenn man sich von der Promenade begibt. In der Stadt selbst
ist die Geschwindigkeit auch weit geringer als auf den
Zubringerstrecken, die nonstop von außerhalb in die City
führen.
Gerade leuchtet die Holoprojektion des Shatram-Restaurants zu
unserer Linken auf. Ich fasse Vérryth bei der Hand, und wir
lassen uns vom Gleitweg ziehen. Als wir stehen, befinden wir uns direkt
in der Eingangshalle des Shatram, das sich als antaeisches
Spezialitäten-Restaurant entpuppt.
Naja, ich bin gespannt. Die Antaei sind für ihre Blumen-Gerichte
bekannt. Auf Hemonda IV/Antae herrscht eine Treibhausatmosphäre,
die zu extremem Pflanzenwuchs auf dem Planeten führt, und gerade
die fleischigen Blütengewächse sind als wohlschmeckendste
Nahrungsquelle erschlossen worden. Zum Glück ist Antae von
Lebewesen der Cyrea-Linie bevölkert, so daß in bezug auf die
Verträglichkeit der Lebensmittel für Vérryth kein
Problem entsteht. Für mich ohnehin nicht.
Als wir uns in der Gaststätte umsehen, nickt Vérryth
anerkennend. Der Speisesaal ist nach original antaeischem Vorbild
gestaltet: die Eßnischen schweben frei in einer ausgedehnten Halle
zwischen unzähligen blütenübersäten Lianen-- und
Rankengewächsen herum. Ein dunkelhäutiger Antaero dirigiert
eine Antigravscheibe zu uns her, die uns in eine unbesetzte Nische
befördert. Kaum, daß wir Platz genommen haben, schwebt
dieser 'Zubringer' wieder davon. Ein Holoschirm in Augenhöhe
über dem Tisch läßt auf Knopfdruck das Speiseangebot
fast wie in natura sichtbar werden, sowohl visuell als auch mit
Aromaprojektion. Der Verführung eines Velvasia-Soufflés
kann auch ich nicht widerstehen, und ich ordere mir dasselbe.
Vérryth hat sich Ter-Lianenmarkklößchen mit
Nunuwia-Pürree bestellt. Keine fünf Minuten nach unserer
Bestellung schwebt ein kleiner kastenförmiger Robot heran, der die
Gerichte vor uns auf den Tisch praktiziert und prompt wieder
verschwindet.
Die Köstlichkeiten, die nun vor uns ausgebreitet sind, zu
beschreiben, entzieht sich fast meinem Vermögen. Stellt euch ein
zartfliederfarbenes Soufflé vor, das neben einem angedeuteten
Zimt-Vanille-Aroma von kunstvoll hineinpraktizierten
Honig-Schokolade-Schichten duftet und mit einem weiteren
unbeschreiblichen, exotisch-süßen Geschmack auf der Zunge
zergeht. Vérryths Mahlzeit hingegen ist herzhafterer Natur.
Scharfes, weißes Ter-Lianenmark mit süßsäuerlicher
Note zu herbbitterem Pürree aus blaugrünem Nunuwia-Moos,
garniert mit den rotgoldenen Blütenknospen der Gisan-Rosette.
Nach diesem wahrhaft fürstlichen Mahl kehren wir in das Hotel
Tíraan zurück, wo wir auf die Ankunft der
Eascíra warten, die uns morgen abend zur A'licadja
bringen soll.
* * *
Am 14:10:2164TZ gehen wir an Bord des Raumschiffs
Eascíra. Der marsianische Reporter sitzt an einem
Terminal, blättert in dem Reiseprospekt und pfeift anerkennend
durch die Zähne.
"Nicht übel, Morgaine, wirklich nicht übel! Ein Kreuzer
der Iadron-Klasse, Baujahr 2163TZ. Und schnell! Der
Liner bringt es auf lockere 0.75pc/h!"
Das ist wirklich nicht schlecht für einen zivilen Raumer.
Ungefähr fünf Tage von Accra II/Kara bis zur
Raccis-Vála IV/A'licadja -- doch, eine passable Zeit. Die
Avemta hatte für die Hälfte der Entfernung fast vier
Tage gebraucht!
* * *
Am 19:10:2164TZ kommen wir endlich auf der Rákhiswala
IV/Ellykádja an. Als wir im Raumhafen
Ellykádja-Central/Tentagill aussteigen, um auf die Fähre zur
Amyshica zu warten, kommt sich der Marsianer etwas merkwürdig
inmitten der ganzen titandioxidweißhäutigen Menschen aus dem
Rákhiswala-System vor.
(Es gibt nur sehr selten wirklich weißhäutige Rassen. Die
Fezeaner gehören dazu und die Saveenye -- aber mehr fallen mir im
Augenblick auch nicht ein. Dabei muß ich aber anmerken, daß
sowohl bei den Saveenye als auch bei den Fezeanern die Haare keine
Metallic-Schattierung haben -- Saveenye haben schwarze, Fezeaner
schneeweiße Haare. Die Rassen der Amyshica-Gruppe haben rote
(Amyshicy), türkisblaue (A'licadjy) und grüne
(S'sápadyyi) Haare -- aber alle mit Metallic-Effekt.)
Während Vérryth sich neugierig umsieht, wird auch er ob
seiner blaßbräunlich getönten Haut von den A'licadjy
bestaunt. Außenweltler sind selten auf den Planeten dieses
Systems und fallen sofort ins Auge. Plötzlich löst sich ein
rothaariges (!) Mädchen von einer A'licadja-Frau und läuft auf
mich zu. Ich bin verblüfft. Es ist sehr selten, daß die
rezessiv entworfenen amyshicaan Gene bei den Einwohnern der
beiden anderen Planeten wieder zutage treten. Andererseits ist es auch
ganz gut so, denn unsere geistigen Fähigkeiten wurden unmittelbar
an das Gen gekoppelt, das uns auch unsere Haarfarbe verleiht.
Das A'licadja-Mädchen sieht mich mit großen Augen an und
macht dann die Geste für Ehrerbietung und Hoffnung auf Segen.
"Seid gegrüßt, veyrán asthérys --
Hohe Dame der Priesterschaft!" Ich lächele sie freundlich an
und gebe die traditionelle Erwiderung.
"Auch du seist gegrüßt, meerián
déristhárys -- kleine Elèvin-Anwärterin
vor der Aufnahme." Das Mädchen gehört eindeutig auf die
Amyshica! Wenn sie ihre Fähigkeiten entfaltet ohne von einer
erfahrenen asthérys geleitet zu werden, könnte sie
ihre geistige Stabilität verlieren und zu einer großen Gefahr
für ihre Umgebung werden. Im schlimmsten Falle könnte sie
sich gar zu einer Gefahr für einen Teil des Universums entwickeln!
Ay Av'emta, manchmal sind die amyshicaan Gaben ein
fürchterlicher Fluch! Ich seufze auf, während das
Mädchen mich anstrahlt und ausgelassen zu ihrer Mutter hüpft.
"Ay, A'ryánrod, die asthérys hat mich
déristhárys genannt!"
"Sch, L'yónors, du weißt genau, daß nur Amyshicy
zu den asthéryi gehören!" winkt die Frau
unwirsch ab. Auch bei ihr kann ich wieder diese Mischung aus Ehrfurcht,
Scheu und Abneigung spüren, die die Bewohner von A'licadja und
S'sápadya uns gegenüber meist an den Tag legen. Ich trete
vor, Vérryth völlig ignorierend.
"Entschuldigt, veyrán madhánys -- verehrte
Dame!" unterbreche ich die goldgekleidete Frau, "aber es ist
durchaus möglich, auch A'licadjy und S'sápadyyi zu
asthéryi auszubilden, wenn sie die Gaben besitzen, die
sie benötigen. Und Eure kleine L'yónors gehört zu den
so Gesegneten, nicht umsonst gleicht sie den Amyshice mehr als den
A'licadje." Ich wende mich an das Mädchen. "Wie alt bist
du, L'yónors sha A'ryánrod?" Die Kleine runzelt die
Stirn.
"Zwölf rávainy, veyrán
asthérys!"
"Nun, wenn du dreizehn rávainy (9.7 Jahre TZ) alt
bist, dann bist du in den Reihen der istháryi
willkommen." Ich kann mich irren, aber irgendwie habe ich den
Eindruck, als ob die Frau A'ryánrod ein wenig erleichtert
wäre. Sie macht eine angedeutete Verbeugung.
"Ihr ehrt meine Tochter und mich, veyrán
asthérys. Ich danke Euch."
"Ihr braucht mir nicht zu danken, veyrán
madhánys; es ist nur recht und billig, daß die Kinder
der Amyshica angemessen unterwiesen werden. L'yónors sha
A'ryánrod" -- ich verwende bewußt die
amyshicaan Namensform für das Mädchen -- "wenn
Ihr in einer Rávainy die Amyshica aufsucht, dann fliegt
nach Ashiméa am Golf von Shima und fragt nach der
asthérys M'árghain sha Q'ésthain. Die
Ehre ist an mir, von Euch zur dokh-asthérys
(Lehr-Priesterin) erwählt worden zu sein!" beende ich meine
Rede mit der traditionellen Formel. Die A'licadja-Frau und ihre kleine
Tochter verabschieden sich von mir. Der marsianische Reporter
schüttelt verwundert den Kopf.
"Sag mal, Morgaine, war das dein Ernst?"
"Was meinst du, Vérryth?" Nun ist es an mir, verwundert
zu sein.
"Wenn ich dich richtig verstanden habe, hat dich dieses
Mädchen als seine Lehrerin erwählt..."
"Ja und?"
"Nun, ich dachte, du wärst im Hohen Rat der
Amyshica-Priesterschaft!"
"Das bin ich auch -- wieso fragst du?"
"Nun, darfst du denn überhaupt unterrichten? Ich meine, hast
du ein Examen oder so?" Ich beginne schallend zu lachen.
"Ay, Außenweltler! Wer immer es geschafft hat, die
Prüfung der asthéryi zu bestehen, kann auch das,
was er oder sie weiß, an einen Schüler weitergeben! Dabei
ist es völlig irrelevant, ob der betreffende
asthéru nun Archivant des Wissens um die
leylenée ist oder ein Hoher Rat der Priesterschaft! Bei
uns ist es der Schüler, der seinen Meister erwählt, und kein
dokh-asthéru hat sich jemals geweigert. Ich war jetzt
für gut zwei Rávainy nicht mehr auf der Amyshica
und habe daher meine vormaligen beiden Elèven gebeten, ihre
Ausbildung bei einer Freundin von mir zu vervollkommnen. Sie haben mir
diesen Gefallen getan, sonst hätte ich erst ihre Lehrzeit beenden
müssen, bevor ich nach Außenwelt hätte gehen
dürfen. Die kleine Leonore deyArienrhod ist im Augenblick meine
einzige déristhárys."
"Hm... Leonore deyArienrhod... Du hattest sie aber doch irgendwie
anders genannt -- Lii'ohnors scha Arr'jannrodd oder so..."
"L'yónors sha A'ryánrod. Das ist ihr sheya
oder systeminterner Name. Genau wie ich M'árghain sha
Q'ésthain heiße, du mich aber Morgaine deQuésta zu
nennen hast. Einmal ist es für Euch Außenweltler einfacher
auszusprechen, und zum anderen gehört es sich nicht, wenn ihr uns
mit unseren sheye ansprecht."
"Schon gut, schon gut, war ja nur eine Frage." Er kneift die
Augen zusammen. "Aber deshalb hast du wohl auch anstelle von
Ellykádja 'Alliikadschi' und anstelle von Ssapajja
'Sdsah'padschji' gesagt."
"Mhm!" brummele ich zustimmend. Es wäre wohl
müßig, ihm zu erklären, daß ich eigentlich die
unbestimmten Pluralformen für die Bewohner der Planeten verwandt
hatte, aber was soll's? Alhmáyy!
Der junge Mann blickt sich suchend um.
"Wann kommt denn unsere Fähre zu deinem geheimnisumwitterten
Heimatplaneten, werte Zauberin dunkler Künste?"
Ay jéesha, Ich blicke genervt zum grellgelben Himmel der
A'licadja.
"Die Scírella wird in wenigen
nínainy aufsetzen."
(Eine nínain entspricht ca. 75.0258 Sekunden TZ.)
Und wirklich! Der schnittige Gleiter schwebt bald darauf ein.
Außer Vérryth und mir geht noch eine orangegekleidete Frau
an Bord, deren Gürtel die Insignien einer
dérasthérys zeigt, also einer Priesterin der
höheren zweiten Stufe.
(Auch wenn mir die Bezeichnung 'Priesterin' irgendwie nicht paßt.
Aber 'Eingeweihte' klingt genauso blöd. Immer dieser Ärger
mit der terranischen Sprache!)
"Seid gegrüßt, veyrán
dérasthérys", sage ich formell. Die Amyshica
neigt kurz den Kopf, um meinen höheren Rang anzuerkennen und
erwidert dann: "Auch Ihr seid gegrüßt, veyrán
asthérys." Sie stellt sich mir als L'éhain sha
C'éridhain vor -- für Vérryth also Leia deKerrydaine.
Wir unterhalten uns ein Weilchen über Belanglosigkeiten, und
Vérryth kann einfach seine Augen nicht von L'éhain
lösen. Tsayée.
"Wann wirst du die Priesterschaft der dritten Stufe erhalten?"
erkundige ich mit einer Kopfbewegung auf ihren Gürtel hin.
(Natürlich sage ich nicht 'Priesterschaft der 3. Stufe' zu
L'éhain, aber ihr Außenweltler wüßtet sonst
überhaupt nicht mehr, worum es hier geht.)
"Jee... Meine Prüfung steht ganz kurz bevor. In wenigen
Díshainy werde ich das Große Muster alleine in
meinen Händen halten dürfen!)
(Eine Díshain entspricht 26.05 Terra-Stunden.)
"Dann halte das Muster und träume das Universum,
dérasthérys L'éhain! Ich werde deinen
Traum in die Unendlichkeit begleiten."
"Dafür danke ich dir, M'árghain." Sie mustert den
Marsianer kritisch. "Warum hast du es eigentlich diesem
alhmáyo erlaubt, dich zur Amyshica zu begleiten? Es ist
seit M'arhlynh vy N'ámvhue verboten!"
"Ayée, L'éhain, du weißt doch, welchen Unsinn
man in Außenwelt über uns erzählt. Vérryth
Y'Cárrhyn ist ein Reporter, und er will versuchen, endlich einmal
einen wahrheitsgetreuen Bericht über die Innere Welt der Amyshica
zu verfassen."
"Ay, wenn das die Hohe Rätin V'árhain sha
N'ynhain erfährt!"
"Vergiß nicht, daß auch ich im Rat bin. Außerdem
ist der Hohe Rat C'ayvhedo vy N'ámvhue, der erklärte Gegner
der V'árhain, mein dhévho!" Ein belustigtes
Lächeln huscht über L'éhains ebenmäßiges
Gesicht.
"Nun, das erklärt einiges. M'árghain, auch ich werde
deinen Traum begleiten."
"Und ich danke dir dafür, L'éhain sha
C'éridhain." Stirnrunzelnd betrachtet Vérryth mich.
Dieser Blick! Er scheint eifersüchtig zu sein. Ist mir egal.
Mein Typ ist er jedenfalls nicht. Zumindest nicht auf Dauer.
"Entschuldigen Sie, Leia, wird Ihre Prüfung schwierig
sein?"
"Nicht schwierig, Außenweltler, sondern entscheidend. Ich
bekomme das Große Muster des Universums in meine Hände
gelegt. Entweder bin ich in der Lage, es zu halten, oder ich mache
einen erzwungenen Transfer durch, und mein
sâtsho wird sich in die leylenée
einreihen."
"Und was bedeutet das?"
"Wenn mein ...Bewußtsein in das Große Muster eingeht,
werde ich meinen physischen Körper verlieren."
"Aber das bedeutete ja, daß Sie sterben würden! Das ist
doch barbarisch!" empört der Marsianer sich.
"Weshalb barbarisch? Ich bin 21 rávainy (etwa 15.6
Jahre TZ) für diesen Augenblick ausgebildet worden, der die
Meisterschaft über den Geist in diesem Körper bedeutet. Ich
werde das Große Muster halten. Selbst wenn ich den
Transfer vorzeitig mache, kann ich in ein paar aldainy
(einige 1000 Terra-Jahre) wieder zurückkehren oder ganz in die
Reihen der asháry-vhaúny, der Wahren Weisen der
Amyshicy eingehen. Ich habe noch eine verschwommene Erinnerung an die
Zeit der sattâvha, als ich zu den Wahren Wächtern
gehörte, und ich weiß, daß ich schon bald zu ihnen
zurückgehen werde, wie auch jede/r andere der zur Zeit stofflichen
Amyshicy."
"Ähm..." Frau sieht es Vérryth an, daß er
nicht ein Wort richtig verstanden hat. Er schüttelt den Kopf und
winkt ab.
"Alle Schiffer der Marskanäle, das mußt du mir bei
Gelegenheit noch einmal in aller Ruhe erklären, Morgaine."
- TO BE CONTINUED -
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Last modified: 13.04.2002
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