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Buch 4 - Erwachen - Schlußteil!
When judge and executioner are both the same The court has found the guilt to be immense And call aloud the eveil's secret name The hunt will start, so full of heart and inner strength An diesem Abend wurden keine weiteren Entschlüsse gefaßt. Viele Vorschläge wurden gemacht und wieder verworfen, Ideen durchdiskutiert und Vorgehensweisen durchleuchtet. Mitglieder der Nadiesda Thurus brachten uns Essen, aber die Unterhaltungen wurden bis weit in den Tag geführt. Allerdings ohne Ergebnis. So schön es war, daß alle sich beteiligen wollten, so gab es doch Probleme bei der Koordination und den verschiedensten Vorstellungen der Vorgehensweise. Irgendwann unterbrach Mikail die hitzigen Diskussionen: „Wir sollten Schluß für heute machen. Laßt uns alle in unsere Räume gehen, über die Worte der anderen nachdenken und uns dann morgen wieder hier treffen. Heute sind wir zu aufgeregt, zu müde oder zu uninformiert, um weiter zu kommen. Unser Schicksal hängt nicht davon ab, heute eine Entscheidung zu treffen, sondern eine vernünftige.“ Er hatte Recht und alle sahen das auch ein. Also gab es einen allgemeinen Aufbruch. Ich blieb wieder in Gabriels Zimmer und vorm Schlafen sprachen wir noch über einige der Vorschläge. Aber wir waren wirklich müde und schon bald war ich selig entschlafen. Am nächsten Nachmittag ging die unterbrochene Sitzung weiter. Allerdings waren nicht alle anwesend, was aber nichts mit dem Inhalt der Diskussionen zu tun hatte, sondern damit, daß einige Leute andere Dinge erledigen wollten oder mußten. Weder war Berenice anwesend, noch Liobá, weiterhin fehlten Charon und Scuro Tejat. Es entbrannte wieder eine hitzige Debatte, dieses Mal, ob alle Mitglieder des Anguis-Zirkel für die Taten ihres Kader verantwortlich waren. Gabriel widersprach dieser Prämisse vehement, er vertrat die Ansicht, daß der Kader für die Taten der Mitglieder verantwortlich war, aber nicht anders herum. Diese Frage schien für die weitere Vorgehensweise sehr wichtig zu sein. Es wurde nicht gesagt, aber jedem im Raum schien klar zu sein, daß Dezmont das Ziel dieses Gegenangriffs war und am Ende seine Vernichtung stand. Es war nur eben nicht klar, ob seine Helfer im Grunde nur Mitläufer waren oder aktiv seine Ambitionen unterstützten. Und ein Konsens schien in weiter Ferne. Während die meisten Mitglieder des Corvus-Zirkel bezweifelten, daß ein kompletter Zirkel freiwillig hinter ihm stand, argumentierten andere nicht weniger logisch. Wieder hatte Belorian das passende Argument: „Es ist wie mit einer Hydra. Wir schlagen den Kopf ab und sofort wachsen drei neue nach. Magnus ist doch das beste Beispiel dafür. Er will seinen Kader aus dem Weg räumen, nur war er eben voreilig. Pech für ihn, aber ihr wißt alle, in dem Zirkel haben nicht Respekt und Zuneigung die Oberhand, sonder Furcht und die Macht des Stärkeren.“ Carré schüttelte den Kopf: „Dennoch kannst du nicht die Taten einzelner einer ganzen Gruppe anlasten. Das ist ungerecht. Und wir haben keinerlei Berechtigung, einen kompletten Zirkel auszulöschen. Weder dürfen noch können wir das. Es muß eine Möglichkeit geben, sozusagen den harten Kern der Gruppe um Dezmont ausfindig zu machen. Bei vielen Mitläufern würde vermutlich eine ‚dezente’ Warnung reichen, ich denke, nur ein kleiner Teil des Zirkels stellt wirklich für die anderen eine echte Bedrohung dar.“ Nach vielen weiteren Argumenten einigten sich die Beteiligten am Ende darauf, daß es für die Mitglieder des Anguis-Zirkel, derer man habhaft werden konnte, eine Art von Anhörung geben sollte, um die Beteiligung zu klären. Allerdings war Dezmont von diesem Beschluß ausgenommen. Ich beugte mich zu Gabriel rüber und meinte leise: „Wenn das in diesem Tempo weiter geht, weiß ich, warum ihr so alt werden müßt. Entschuldige, aber es läuft wieder darauf hinaus, Dezmont handelt während wir reden. Und vermutlich noch Tage von einem echten Plan entfernt sind.“ Gabriel schien nicht verärgert. Er lächelte und griff nach meiner Hand. „Geduld, meine Schwarze Rose. Bisher hat Dezmont sein übereiltes Handeln nur geschadet. Und es ist ein echter Balanceakt, Menschen von so unterschiedlichem Temperament auf ein gemeinsames Ziel und eine gemeinsame Vorgehensweise einzuschwören. Aber du wirst sehen, es dauert jetzt nicht mehr allzu lange.“ Das meinte er sicher im übertragenen Sinne. Denn jetzt ging das Diskutieren erneut los. Wie sollte man Dezmont finden, seine Anhänger lokalisieren und wie seiner habhaft werden. Ich wollte ja nicht unhöflich erscheinen, aber bei dieser Geschwindigkeit konnte es locker noch Tage dauern, bis ein Entschluß auch nur in die Nähe rückte. Noch einmal zog ich Gabriel zu mir. „Ob ich wohl eine Weile verschwinden kann? Ich habe hier nicht viel beizutragen und ich glaube nicht, daß ich viel verpasse. Ich möchte gerne Gin besuchen, ich hab sie seit Tagen nicht gesehen.“ Während er meine Hand zu einem Kuß zog, nickte er: „Geh nur, stimmt, das kann noch ein wenig dauern. Grüß sie von mir und paß auf dich auf.“ Unauffällig erhob ich mich und verließ den Sitzungssaal. Draußen fand ich meinen Bodyguard und zusammen stiegen wir die Treppe hinab in den Keller, um nach Gin und ihren Geschwistern zu sehen. Die Freude des kleinen Hundes war überwältigend. Sie hatte mich jedenfalls nicht vergessen und wir tollten eine ganze Weile durch das Stroh. Und so sah ich dann auch aus, als Charon mich fand. Erst sahen die Tiere ihn kurz fragend an, dann wurde er als ungefährlich eingestuft und ausgiebig untersucht. Charon sah sich das von oben eine Weile fast amüsiert an, dann setzte er sich mir gegenüber in das Stroh. Wir hatten schon einmal so voreinander gesessen. Gin zog an seiner schwarzen Hose, aber er sah mich nur eine Weile konzentriert an, ohne ein Wort zu sagen oder das Tier zu stoppen. Diese Musterung verursachte ein unangenehmes Gefühl in meiner Magengegend. Ich sprach nicht, sah ihn nur abwartend an. Er wirkte jetzt wieder sehr ernst und konzentriert. Dann griff er nach meinem Kopf und nur eine Handbreit trennte mich von dem Reflex zurück zu zucken. Aber ich hielt still und er zog ein paar Strohhalme aus meinen Haaren. „Ich komme gerade von Liobá. Vorher war ich einige Stunden bei Scuro Tejat und hab ihm einige meiner Gedanken anvertraut. Ich bewundere seine Art, Dinge zu betrachten, ohne sie zu sehen. Er hat lange zugehört, wir haben nachgedacht und dann sind wir zu Liobá gegangen. Was ich jetzt sage, wird unter uns bleiben, dir, mir, dem Scuro und Liobá. Es wird früher oder später bekannt werden, aber wir brauchen Zeit.“ Er klang nicht glücklich bei diesen Worten, aber auch nicht verzweifelt. Etwas gepreßt vielleicht. Es war sehr schwer, ihn in diesem Moment zu durchschauen. Und ich begann mir Sorgen um meine Freundin zu machen. Was wollten diese beiden bei ihr? Hoffentlich war sie nicht doch noch krank geworden. Mit geballten Fäusten wartete ich auf den Rest der Geschichte. Selbst Gin bemerkte etwas von der Spannung, ließ endlich von meinem Gegenüber ab und kam völlig untypisch für sie mit gesenktem Kopf zu mir. Ich wartete. „Du hast – zumindest einen Teil – deiner Fähigkeiten auf Liobá mit dem Bluttausch übertragen. Das ist zusammengefaßt das Ergebnis unserer Untersuchungen. Auf die Schnelle konnten wir nicht viel testen, aber zumindest reagiert sie genauso unempfindlich gegenüber Silber wie du. Sie kann auch Wunden die mit einem Silberdolche entstanden sind, heilen. Tejat hatte ein kleines Fläschchen mit Weihwasser, das ihr keinerlei Schaden zugefügt hat, es ist einfach abgeperlt. Mehr konnten wir nicht herausfinden, in der kurzen Zeit, aber das werden wir zu gegebener Zeit nachholen.“ Ich schwieg und ließ seine Worte auf mich wirken. Zumindest ging es ihr nicht schlechter. Zwei Fragen schwirrten mir die ganze Zeit durch den Kopf, als ich langsam die Fäuste löste und abwesend das graue Fell meiner Gin kraulte. „Was unterscheidet Liobá von Magnus? Wieso ist er so krank und wieso geht es ihr so gut. Und wie – um alles in der Welt – bist du auf den Gedanken gekommen, solch einen Test bei ihr zu machen?“ Charon’s Mine hatte sich nicht verändert, aber er schob einen der ganz vorwitzigen Welpen von seinem Schuh und ließ ihn statt dessen an seinem Finger kauen. Er schaute dem Winzling zu, während er antwortete: „Ach Lumina, du kennst doch die Antworten, auf beide Fragen, denn sie gehören zusammen. Ich hab dir meine Interpretation der Prophezeiung erklärt und Tejat hat nur die Konsequenzen aufgezeigt und eine Überprüfung angeregt. Schau nicht so vorwurfsvoll, ich weiß, wie du dazu stehst. Dennoch. Ich kann auch anders antworten, wenn dir das lieber ist: du hast mit Liobá das Blut getauscht. Ach ja, und mit Magnus. Sie hat keinen Schaden davon getragen, er schon. Doch hat sie jetzt auch Blut von dir in sich, verändert durch deinen Körper. Also bietet sich eine Untersuchung ihres Blutes auf Hinweise an, ob sich deine Besonderheiten in irgendeiner Form bei ihr finden. Denn dein Blut hat eindeutig Auswirkungen, warum würde Magnus sonst im Sterben liegen. Und Mikail hat ja längst auf seine Art seine Tests durchführen lassen, nur eben auf wissenschaftliche Weise, wir sind da eher metaphysisch an die Sache heran gegangen. Das Ergebnis spricht für sich. Das zu deiner Frage, warum ich Liobá getestet habe. Sie hat die Neuigkeiten übrigens sehr locker aufgenommen. Aber sie hat jetzt schon gedroht, daß sie Bouvier nicht lange wird ausschließen können, ebenso wenig wirst du Gabriel lange im Unklaren lassen können. Aua!“ Er schüttelte den kleinen Hund von seinem Finger. So klein sie auch waren, die Zähne waren schon recht effektiv. Unschuldig machte der kleine Rüpel sich nach diesem Angriff wieder an den Schuhen von Charon zu schaffen. Gin hatte sich auf meinem Schoß eingerollt und war selig am dösen, nur ein Ohr zuckte hin und wieder. „Ich kann die Frage nach dem Unterschied zwischen Liobá und Magnus nicht ohne Hinweis auf die Prophezeiung beantworten, und das willst du ja nicht. Also frage ich dich, was du bemerkt hast. Du hast bei deinem Bericht schon darauf hingewiesen.“ Er griff dem Hund in den Nacken und beförderte ihn vorsichtig aus der Reichweite des Schuhbandes. Der Kleine nahm das als Aufforderung für ein Angriffs- und Zurückweich-Spiel. Während ich antwortete, mußte ich ein Grinsen bei diesem Kräftemessen unterdrücken: „Klar, der Geschmack. Aber Gabriel hat mir vorgeführt, daß dieser Unterschied auf den Ring zurückzuführen ist, den ich ständig trage. Er sollte mich vor bösen ‚Dämonen’ schützen und ohne ihn hätte ich diesen Unterschied vermutlich nicht einmal richtig bemerkt.“ Charon nickte. „Ja, der Ring, ich hab schon von Gabriels Versuch gehört. Eine sehr gute Idee. Aber du hast es nicht richtig formuliert. Nicht der Ring hat den Unterschied gemacht, er hat ihn nur verstärkt, denn er war immer da, du bist nur ohne ihn ignorant, wie wir - meistens. Also gib dem Ring keine Kräfte, die er nicht hat. Aber da hast du schon einen Teil der Antwort: das Blut der beiden ist ihr Unterschied. Der Bluttausch mit Liobá war sozusagen angenehm, bei Magnus wohl eher nicht – um es so zu sagen. Nun die Frage nach dem Warum. Was unterscheidet die beiden? Davon abgesehen, daß Liobá eine Frau ist. Aber dein Versuch mit den Blutproben hat gezeigt, daß auch der Geschmack von ‚Männerblut’ nicht unangenehm sein muß, nur eben von Magnus. Was also trennt die beiden voneinander? Sag du es mir?“ Irgendwie hatte er mich in eine Art von Falle laufen lassen, ich hatte nur noch keine Idee, was das für eine war. Er sah auf einmal sehr zufrieden mit dem Verlauf der Unterhaltung aus. Der kleine Hund hatte wohl auch genug gekämpft und ließ sich zutraulich ähnlich meiner Ginger auf Charon’s Oberschenkel nieder. Auch er begann reflexartig, das seidige Fell zu kraulen. Was also, war die Antwort auf diese letzte Frage und wieso schien ihn genau das so zu befriedigen? Ohne groß nachzudenken antwortete ich: „Mir fällt nur ein Unterschied auf die Schnelle ein, denn ich kenn ihn bei weitem nicht genug, um näher über seine Persönlichkeit zu spekulieren. Ich mag Liobá, ihn mag ich nicht. Sie ist ein guter Mensch, ich wollte nicht, daß sie Schaden nimmt, er ist ein Entführer, der meine Freundin gegen ihren Willen gewandelt und mich verletzt hat. Ich fühlte Haß und Zorn und hätte ihn am liebsten äh, entschuldige, aber am liebsten erschossen.“ Charon sah mich durchdringend an. Er antwortete nicht, aber sein Blick ging bis in das Innerste meiner Seele, sehr erschreckend, sehr intensiv und sogar etwas anregend. Er wartete auf etwas, was ich noch nicht gesagt hatte. Und auf einmal wußte ich, was die Falle gewesen war, worauf er wartete. Es gab noch eine weitere Art, meine Empfindungen den beiden gegenüber zu beschreiben. Entweder er würde es gleich sagen, oder ich, aber es ließ sich nicht vermeiden, er hatte mich voll erwischt. Da konnte ich auch genauso gut den Rest des Satzes aussprechen, auf den er wartete. Ich atmete durch und setzte erneut an: „Liobá ist vielleicht ein Mitglied der Oscuro, so wie Magnus auch. Aber sie symbolisiert für mich Licht und Wärme und Freundschaft. Er ist für mich genau das Gegenteil. Schwärze, Kälte, Haß und Gewalt. Aber das ist eine rein subjektive Betrachtung, rein Äußerlich entspricht diese Beschreibung nicht der Realität, es gibt da keine optische Differenzierung.“ „Aber eine Unterscheidung im Blut, das unser ganzes Leben bestimmt. Du unterscheidest zwischen hell und dunkel. Darin unterscheiden sie sich.“ Mehr brauchte er nicht zu sagen. Neben der Unruhe, die sein Blick in mir auslöste, stahl sich jetzt eine kalte Angst in mein Herz. Ein Gefühl, als würde ein Berg auf mich stürzen. Mein kleiner Hund hob den Kopf, sah mich fragend an und als ich ihn weiter kraulte, legte er sich beruhigt wieder zurück. Ich antwortete nicht. Mir hatten sich die Worte der Prophezeiung ebenso über die Monate eingebrannt, wie vermutlich jedem anderen Mitglied der Oscuro. „Charon? Mir ist kalt. Bringst du mich in mein Zimmer?“ Ohne ein weiteres Wort setzte er den Hund auf das Stroh und hielt mir beim Aufstehen die Hand hin. Ginger gähnte vorwurfsvoll, trollte sich dann aber zu ihren Geschwistern, als ich mich schwer hochziehen ließ. Der Leibwächter vor der Tür war verschwunden, ein Bewacher reichte wohl. Fröstelnd zog ich die Schultern hoch und Charon legte spontan seinen Arm um mich und zog mich etwas zu sich. So gingen wir langsam durch die Gänge des Schlosses, bis wir vor meiner Zimmertür anlangten. Hier im Gang waren überall Aufpasser verteilt, die uns aber nicht zu beachten schienen. Charon brachte mich bis zu meinem Bett und angelte nach einer der Decken. Fürsorglich legte er sie mir über und wir ließen uns nebeneinander auf der Bettkante nieder. „Willst du darüber reden, oder erst noch nachdenken? Wie gesagt, im Moment wissen nur wenige davon aber ein Verdacht wird vermutlich aufkommen, wenn die Testergebnisse da sind.“ Ich wickelte mich fester in meine Decke und lehnte mich auf der Suche nach Wärme an ihn. Er strahlte genug für uns beide aus. Während ich leise antwortete, starrte ich ins Nichts vor uns: „Ich habe Angst, Charon. Angst, daß du Recht hattest, ich eure Welt zum Einsturz bringe. Angst auch, wie das alles ausgehen soll, sogar auch etwas um Leute wie Magnus oder Dezmont.“ „Du wärest nicht du, wenn das nicht so wäre, Lumina. Aber du bist nicht Schuld, du bist sozusagen nur der Katalysator. Wenn die Ereignisse nicht hätten stattfinden sollen, gäbe es keine Aufzeichnungen über die Prophezeiung. Es war also immer klar, daß so etwas passieren würde, nur der Termin stand wohl noch nicht fest. Wir sollten uns in der nächsten Zeit mal die Mühe machen, die Textpassagen unter diesen geänderten Gesichtspunkten zu analysieren. Ich denke, Tejat hat damit schon begonnen.“ Er legte wieder seinen Arm um mich, zog mich an sich und hauchte mir einen für ihn ungewöhnlich zärtlichen Kuß auf die Stirn. „Heute sehe ich, daß ich in Nathaniels Haus eigentlich gar keine richtige Wahl hatte, ich glaubte es wohl nur eine Zeitlang. Fürchte dich nicht. Du hast so viele Freunde gewonnen, so viele alten Wunden geheilt und warst an einigen großen Veränderungen beteiligt. Freu dich! Und bedenke, wenn alles wahr ist, was wir vermuten, nimmst du am Ende einen Fluch von vielen von uns, eine Last – oder nenn es lieber Einschränkung – die schon viele Jahrhunderte währt. Denn am Ende ist die Prophezeiung kein Fluch, sondern ein Versprechen auf etwas Gutes. Und noch etwas, ich glaube nicht, daß du diese Unterscheidung von Hell und Dunkel triffst. Du kannst zwar erkennen, wer wo steht, aber ich bin sicher, es ist nicht an dir, ein Urteil zu fällen. Denn das könnte keiner von uns. Du bist in dem Sinne auch nur ein Beobachter, ein Botschafter der Gesinnung – das klingt eigentlich sehr gut…“ Er grinste tatsächlich. Und diese letzten Sätze hatten mich wirklich ein klein wenig ruhiger gestimmt. Manchmal half nachdenken doch wirklich gegen Panikanfälle. „Danke. Ich glaube auch nicht, daß ich auf Dauer mit solch einer Verantwortung leben könnte. Sicher hab ich Magnus zumindest die Pest an den Hals gewünscht und manches mal auch gerne seine Pistole in die Finger bekommen, aber am Ende widerstrebt es mir wahrscheinlich doch, jemanden vorsätzlich zu töten. Ich weiß es nicht genau, da hast du mir wohl etwas voraus.“ Erschrocken richtete ich mich ein klein wenig auf. Erst als ich das gesagt hatte, wurde mir bewußt, was ich da angerichtet hatte. Ich hatte ihm vorgeworfen, Leute vorsätzlich zu töten. Auch wenn es vielleicht auf eine Art stimmte, so was sollte man wohl nicht leichtfertig jemandem ins Gesicht werfen, auch wenn es natürlich keine Wertung war. Doch Charon zog mich nur einen Augenblick fester an sich, dann nickte er ruhig: „Ich wünsche dir, daß du es nie herausfinden wirst, Lumina. Ich weiß, daß du mich nicht verurteilst, so, wie mich keiner der Kader für meine Arbeit ablehnt. Eher im Gegenteil. Doch ich habe immer noch irgendwo eine Rechtfertigung für meine Taten. Da du aber nur erkennen aber nicht werten kannst, bleibt dir die Suche nach Rechtfertigung erspart. Wo es keinen Richter gibt, gibt es auch keine Schuld. So einfach ist das, Lumina.“ Ich schloß die Augen, lehnte meinen Kopf wieder an seine Schulter. Langsam wurde ich ruhiger, die Wärme kehrte zurück und ich fühlte eine eigenartige Kraft. Oder war das gar nicht meine eigene. „Hast du auch schon darüber nachgedacht, was all das bedeutet, ich meine, Liobá’s Veränderung, welche Auswirkung hat das auf den Umgang mit meinen Freunden? Und was bedeutet es zum Beispiel für Bouvier? Wenn er mit Liobá das Blut tauscht?“ Charon antwortete nicht sofort. Doch ich mochte grad jetzt die Augen nicht öffnen. Es war so bequem hier. Dann meinte er wesentlich leiser: „Wir hatten noch nicht viel Zeit, darüber zu diskutieren. Ich denke, dein Ring wird dir unmißverständlich sagen, mit welchen Menschen du das Blut unbedenklich tauschen kannst und bei welchen es bei dem Kuß des Lebens bleiben muß, da der Atem des Todes seinem Namen Ehre machen würde. Und – wer weiß – vielleicht wäre das sogar endgültig, wenn das Gift, das dein Körper aus dem Blut des Gebissenen herstellt, nicht – wie bei uns – nach einiger Zeit abgebaut wird. Auch wieder eine neue Frage. Und jeder, der durch den Blutstausch mit dir verbunden wird, trägt vermutlich ebenfalls die Fähigkeit in sich, diese Wandlung zu vollziehen. So wird sich auf Dauer erst durch dich und Liobá und später durch andere die Veränderung durch alle Zirkel ziehen, bis alle entweder das veränderte Blut in sich tragen – oder tot sind. Aber das ist jetzt mehr eine Vermutung. Das wird wohl erst die Zeit lehren. Ach ja, noch etwas, wenn zuerst du den Kuß des Lebens empfängst, wird sich weder für dich, noch für denjenigen etwas ändern, der danach den Atem des Todes empfängt. Denn dein Blut kann im Körper deines Partners nicht gewandelt werden. Das haben Mikails Tests eindeutig bewiesen.“ Wir schwiegen beide, aber es war keine drückende Stille. Mittlerweile drang Charons Wärme durch die Decke bis weit unter meine Haut. Es war seine Kraft, die ich in mir fühlte, ich erkannte sie als dieselbe, die ich schon in Bouviers Haus gespürt hatte. Er hatte seine Magie um mich gebreitet und damit viel von meiner Angst genommen. Und genau wie damals spürte ich, daß meine Konzentration in dem Maß nachließ, wie seine Persönlichkeit deutlicher zu spüren war. Gerade, als ich etwas sagen wollte, um mich ein wenig abzulenken, fuhr er fort: „Ich würde dir gerne beweisen, daß ich richtig mit diesem Detail liege. Aber ich weiß, es wäre vielleicht voreilig und daß ich Gabriel dieses Vorrecht einräumen sollte. Erinnerst du dich an unsere letzte Begegnung auf einem Bett?“ – „Ich versuche gerade, diese Erinnerung zu verdrängen, weil du schon wieder anfängst, mich zu irritieren“, murmelte ich. Ich spürte, wie er sich mir zuwandte. „Das ist aber nicht sehr nett von dir.“ Hörte ich da eine Ironie in seiner Stimme? Sicherheitshalber öffnete ich die Augen – und schaute direkt in seinen nachtdunklen Blick. Keine Ironie, aber ein leichtes Grinsen und etwas, das mir eine Gänsehaut den Rücken runter jagte, und die hatte garantiert nichts mit Angst zu tun. Aber er ersparte mir eine Verteidigung. „Seinerzeit war ich sehr unhöflich. Der Kodex verlangt nach einer angemessenen Frage mit der Möglichkeit abzulehnen. Damals habe ich dir wohl keine Wahl gelassen, als wir das Bett teilten. Entschuldige bitte.“ Er sah nicht so aus, als ob es ihm auch nur annähernd Leid tat. Und ich konnte mich nicht erinnern, daß ich mich irgendwie dadurch schlechter gefühlt hatte. „Hmm, vergeben und vergessen, Charon.“ Jetzt grinste ich ihn an. „Still, Lumina, ich bin noch nicht fertig. Also. Dieses Mal lasse ich dir die Wahl. Willst du jetzt das Lager mit mir noch einmal teilen. Ich werde dich wieder beschützen, es wird kein Blut zwischen uns fließen, das verspreche ich dir.“ Ich wußte, daß er dieses Versprechen halten würde. Die Erinnerung an jene Stunden war der Beweis. Selbst ohne Berührung hatte mir seine Kraft in den letzten Minuten schon so viel gegeben. Ich schob die viel zu warme Decke von mir, drehte mich vollends zu ihm und zog sein Gesicht zu mir. Sanft küßte ich ihn und antwortete leise: „Das wäre wunderbar, Charon. Ich weiß, daß du uns beide beschützen kannst. Sei mein Führer.“ Er griff vollends nach mir, zog mich vorsichtig vom Bett hoch, als er aufstand. Langsam begann er, meine Haut freizulegen und jede neu auftauchende Stelle mit Küssen zu begrüßen. Er trat hinter mich und ich stützte mich an einem der Bettpfeiler, während er sich erst mit meinen Schuhen und dann mit der Hose beschäftigte. Auf dem Rückweg nach oben, gingen seine Hände innen an meinen Schenkeln auf Wanderschaft. Und hinterließen auf meiner Haut eine Spur aus Gänsehaut. Dann raschelte es kurz hinter mir und nur einen Moment später preßte sich sein nackter Körper von hinten an meinen. Die Hitze, die von ihm mittlerweile auszustrahlen schien, drohte mich fast zu verbrennen. Einige Augenblicke genossen wir nur die warme Berührung des anderen, Haut auf Haut. Dann ging er die wenigen Schritte zum Bett rückwärts, ich noch immer von seinen Armen umgeben, die sich nicht entscheiden konnten, welchen Teil von mir sie lieber streicheln wollten. Er hielt mich sanft fest und ich folgte, ohne mich umzudrehen, vertraute darauf, daß er uns sicher ans Ziel bringen würde und als er sich rückwärts einfach auf das Bett fallen ließ, landete ich auf ihm. Völlig ohne Grund mußte ich lachen, wie ich da so lag, wie eine Schildkröte auf dem Rücken. Ich rollte mich von ihm und drehte mich um, damit ich in sein Gesicht sehen konnte. Ja, auch er lächelte und es stand ihm gut. Als Dank küßte ich ihn dann erst mal lange und mit wachsender Leidenschaft. Und ließ meine Finger ein wenig auf seiner Brust und seinem Bauch tanzen. Sein einladendes Glied ignorierte ich vorerst geflissentlich. Und es wurde noch wärmer um uns, dunkler und mein Verlangen nach ihm schien ständig zu wachsen. Ich fühlte seine Kraft in mir, seine Stärke, die uns beide umgab wie eine zweite Haut. Und diese Stärke zeigte er mir jetzt wieder. Ohne Probleme hob er mich hoch und setzte mich auf seinem Schoß wieder ab, sein Glied unter mir eingeklemmt. Wieder beugte ich mich vor, verlangte nach mehr Küssen, die ich auch erhielt. Erst als unser beider Atem schneller ging, hob er mich erneut einfach ein wenig an und fast ohne Hilfe fand sein Glied dann den Weg in meine Öffnung. Er ließ mich langsam herunter und als er in voller Länge in mir war, schloß ich die Augen und legte den Kopf zurück. Seine Hände streichelten meine Brüste, während ich mich an seinen aufgestellten Beinen abstütze, um ihn bei seiner Bewegung zu unterstützen, zu verstärken. Und als wir beide kaum noch anhalten konnten, setzte er sich auf, zog mich an sich und wir ergänzten uns in unseren Stößen. Um uns schien die Welt verschwunden, da war nur noch Wärme, kaum gezähmte Kraft, Verlangen und Vergessen. Er hüllte uns beide in eine warme Dunkelheit. Und als bei ihm die Zähne wuchsen, verletzten seine Bisse niemals meine Haut, meinen Fähigkeiten traute ich dieses Kunststück nicht zu. Und als ich kam, klammerten wir uns aneinander, bis auch bei ihm, durch mein Zucken verstärkt, der Höhepunkt folgte. Und wir hielten uns danach noch lange im Arm. Und später schlief ich ein, trotz Erschöpfung voller neuer Kraft – unser beider Kraft – ohne auch nur noch einmal an die Prophezeiung zu denken. Theorie und PraxisIf light were dark and dark were light The moon a black hole in the blaze of night A raven‘s wing, as bright as tin, Then you my love, would be darker than sin (Eclipse of the heart) Als ich aufwachte, war ich alleine, aber die Kissen neben mir waren noch warm. Ein Blick aus der Tür versicherte mir, daß mein Leibwächter brav an seinem Platz war. Freundlich nickte er. Also duschte ich, zog mich vernünftig an und gerade, als ich mein Zimmer verließ, kamen Gabriel und Isebel aus seinem Raum. Er hauchte seiner Begleiterin einen Kuß auf die Wange und sie winkte mir zu und verschwand dann um die Ecke des Korridors. „Hallo, meine schwarze Rose! Das paßt, ich wollte gleich bei dir reinschauen, ob du Lust auf ein ordentliches Frühstück – na gut, Abendbrot – hast.“ Das klang gut. Gemeinsam gingen wir in den Speisesaal, wo wir Kolya und Cesira fanden. Eingedenk der Tatsache, daß Charon seine Entdeckungen noch nicht öffentlich machen wollte, erwähnte ich unsere Unterhaltung nicht. Wir redeten über die Pläne, die sich sehr langsam entwickelten und über die Tatsache, daß eigentlich langsam etwas anderes als Reden passieren sollte.“ „Wißt ihr, daß der Fluch des Blutes wohl ein Mitglied verliert?“ Wir sahen Cesira fragend an, die leise vor sich hin lächelte. Gabriel sah Kolya an und dann begann auch er zu lächeln. Ich ahnte da zumindest etwas. Aber Cesira ließ uns nicht lange im Unklaren: „Kolya hat mich gefragt, ob ich nach diesen ganzen Ereignissen mit ihm in sein Haus kommen würde. Und da er so lieb ‚bitte’ gesagt hat,“ hier grinste sie ihn ganz frech an, „habe ich zugestimmt. Vorerst wird das nur ein Besuch sein, also keine falschen Schlüsse, meine Damen und Herren. Doch ihr werdet mich dann sicherlich öfter in eurem Haus sehen, denn Kolya hat mir gleich erklärt, daß bei euch der bessere Weinkeller ist und er sowieso fast dort wohnt.“ Gabriel trat auf sie zu und drückte sie. Der Größenunterschied war nicht unbedingt erheblich, sie war nur unmerklich kleiner als er. „Das ist wundervoll Cesira! Ich freu mich riesig, nicht nur für Kolya und dich, sondern auch für mich und LaVerne. Du bist jederzeit und so lange du magst in unserem Haus willkommen.“ Irgendwie klang das alles etwas ungewohnt. In unserem Haus, wir freuen uns. Es war mir noch gar nicht in den Sinn gekommen, daß Gabriels Anwesen jetzt auch mein Haus sein sollte. Es klang nicht unangenehm, nur eben nicht geläufig. Wieder dieser Gedanke, ob wir irgendwann wohl ganz normal dort wohnen würden? Aber vorerst freute ich mich mit Kolya und Cesira. Er hatte wieder dieses Grinsen von einem Ohr zum Anderen. Also umarmte ich erst ihn und dann auch Cesira. „Toll. Ich hasse es, die einzige Frau dort zu sein. Und wenn irgend jemanden diesen Bären bändigen kann, dann du, Cesira.“ Sie drückte zurück und meinte dabei: „Kein Problem, mit dem kleinen Finger. Aber da hab ich mir ein bißchen was von dir was abgeschaut, du bist auch irgendwo ein schwacher Punkt bei Kolya. Schau nur, ist das nicht süß, wenn so ein großer Mann rot wird.“ Sie knuffte ihn und erntete dafür einen Kuß. Die beiden waren ein wunderbares Paar. Leider gingen dann bald die Beratungen wieder los. So langsam begann ich dieses nutzlose Reden herzlich zu hassen. Tejat war dieses Mal dabei, ebenso Charon, der mir ein leichtes Lächeln schenkte, viel für diesen kühlen Mann, trotz der vergangenen Nacht. Liobá war ebenso wenig aufgetaucht, wie Berenice. Als allererstes verkündete Mikail, daß die Auswertungen unserer Blutproben noch keine Ergebnisse erzielt hatten, die der Erwähnung würdig waren. Entweder hielt er etwas zurück, oder die Wissenschaft vermochte nicht die ‚Magie’ zu durchdringen. Was es auch war, keiner zeigte sich enttäuscht oder mißtrauisch. Erstaunlicherweise wurden heute sogar Beschlüsse gefaßt, ich hatte eigentlich schon nicht mehr damit gerechnet. Zusammengefaßt lief es darauf hinaus, daß Dezmont in eine Falle gelockt werden sollte. Es sollte ungefähr so ablaufen, daß er sich an einen Ort begeben würde, möglichst mit einem Großteil seiner Helfer, an dem er bereits erwartet wurde. Solche kleinen Details, wie die Frage, warum er an einen bestimmten Ort gehen sollte oder wie man ihn darüber in Kenntnis setzen wollte, daß er dorthin wollte, waren nicht Teil des Planes. Bisher. Jetzt konnte ich endlich auch mal was sagen: „Weiß irgend jemand, ob Magnus mit Dezmont von hier aus kommunizieren konnte? Ich meine, weiß der Weiße Drache, daß sein Kaj gefangen wurde und im Sterben liegt?“ Die meisten Blicke wanderten nach dieser Frage zu Charon. Der überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf. „Nein, er hatte ein Gerät dabei, das ihm seine Position mitteilt, aber nicht an andere Stellen weiter gibt. Wir haben bei seinen Sachen einen Zettel mit Koordinaten gefunden, allerdings wissen wir nicht, ob sie ein Treffpunkt sein sollen oder eine andere Bedeutung haben. Wenn ein fester Termin vereinbart war, ist der sicherlich schon überschritten. Aber es kann keine Kommunikation zwischen Magnus und Dezmont stattgefunden haben. Warum?“ Damit wanderten alle Blicke zu mir. Was für eine dumme Frage, von diesem intelligenten Mann. „Nun, wenn Dezmont noch immer auf Magnus wartet, wäre es doch eine gute Chance für eure Falle. Man müßte ihn irgendwie wissen lassen, daß Magnus in Schwierigkeiten ist, er bald eintreffen wird, mit vielen Verfolgern auf den Fersen. Das wäre doch für Dezmont ein Grund, mit einem größeren Trupp ihm zu Hilfe zu eilen.“ John nickte mir beifällig zu. „Da gibt es ein paar kleinere Probleme“, meinte Thorben. Der Kaj des Satyrus-Zirkels hatte sich bisher kaum an der Unterhaltung beteiligt. „Wir wissen nicht, wann und wo ein Treffen vereinbart war, wie die Kontaktaufnahme erfolgen sollte und ob diese Zeit schon verstrichen ist. Davon abgesehen, daß es schwierig werden könnte, diese Informationen zu erhalten.“ Das war stark untertrieben. Man hatte uns berichtete, daß Magnus nur noch am Leben war, weil sein Blut ständig ausgetauscht wurde. Sobald es sich in seinem Körper befand, begann es zu verklumpen und seine Atmung zu blockieren. Und sein Zustand änderte sich nicht, zumindest nicht zum Besseren. „Sicherlich sind das ein paar wichtige Fragen.“ Scuro Tejat antwortete ruhig und war damit nur ein wenig schneller als Mikail, der ebenfalls angesetzt hatte. „Dennoch bietet sich hier vielleicht die vorläufig beste Chance, unseren Plan in die Tat umzusetzen. Ich denke, daß ich eine Möglichkeit finden könnte, Magnus diese Informationen zu entlocken. Aber vermutlich brauche ich dafür etwas Unterstützung und – was wahrscheinlich noch wichtiger ist, wir werden wohl LaVerne’s Hilfe benötigen, denn ohne ein Lockmittel funktioniert die beste Falle nicht.“ Na klasse! Hatte ich mir nicht nachdrücklich versprochen, daß ich nie wieder in die Augen von Dezmont sehen wollte. Andererseits, die Vorstellung, ihn mir ein für allemal aus dem Nacken zu schaffen, wäre noch einen Einsatz wert. Das kam auf den Rest des Planes an, ich war da mittlerweile ein ganz klein wenig mißtrauisch geworden. Ich sollte nicht sofort die Details erfahren. Aber als jetzt Kolya antwortete, verschwand doch ein Teil meiner Sorgen: „Wir müssen wie ein Schachspieler denken, nicht nur ein oder zwei Züge im Voraus, das reicht bei unserem Gegner nicht. Wir müssen unsere Figuren auf dem Brett verteilen und viele Schritte und Gegenschritte erahnen und vorbereiten. Ich glaube nicht, daß wir hier alle Details ausarbeiten können, da wäre eine kleinere Gruppe hilfreich. Das werde ich übernehmen, dazu würde ich John bitten und natürlich Charon. Vielleicht schließen sich uns ja noch Arpad an“ der nickte sofort, als Kolya ihn ansah „und Thorben, weil du hier einfach die beste Ortskenntnis besitzt, die wir möglicherweise brauchen.“ Auch der letzte nickte sofort. Wenn ich das richtig einordnete, waren das alleine drei ‚Sicherheitschefs’ und dazu ein ehemaliger Polizist. Das klang wesentlich beruhigender als vieles, was ich bisher gehört hatte. Kolya ergänzte noch: „Und für besondere Fälle steht uns Nathaniel bei Bedarf zur Verfügung, wenn wir seiner bedürfen. Aber er wird sich vorläufig zurück halten.“ Der letztgenannte nickte nur. Die kleine Gruppe verständigte sich kurz und verließ dann die Versammlung. Wir übrigen sahen uns ein wenig unentschlossen an. Belorian erhob sich und meinte in die verbleibende Runde: „Ich denke nicht, daß wir im Moment viel tun können. Es ist wohl am Besten, wenn wir die weiteren Pläne abwarten. Dann können wir auch das Treffen auflösen und uns anderen Dingen zuwenden.“ Er schien kurz zu zögern, dann sah er das erste Mal Nathaniel direkt an. Der schaute überrascht zurück, als der Mann ihn ansprach: „Würdest du mich auf einen Spaziergang begleiten, ich möchte mit dir sprechen?“ Auch Nathaniel erhob sich, warf uns einen überraschten Blick zu, und folgte dann seinem Onkel aus dem Zimmer. Auch die anderen erhoben sich. Ich entschuldigte mich bei Gabriel und begab mich – mit meinem Aufpasser im Schlepptau – auf die Suche nach Lioba. Eigentlich brauchte ich nur die Gänge des Schlosses entlang zu gehen, bis ich auf ein Zimmer traf, das mit einem Leibwächter verziert war. Ich ließ mein Exemplar ebenfalls an der Tür zurück und begrüßte Liobá mit einem Kuß auf die Wangen. Sie hatte in einem kleinen Buch geschrieben, das sie jetzt zurück legte und gegen eine Flasche Wein und zwei Gläser tauschte. Wir prosteten uns zu und dann schwiegen wir eine kleine Weile. „Wie fühlst du dich?“ Mehr wußte ich im Moment nicht zu sagen. „Ganz klasse, ehrlich! Du weißt doch bestimmt, daß gestern Charon und Tejat bei mir waren. Sie haben mich ein wenig befragt und dann wieder mit ihren Dolchen gepiesackt. Charon hat mir gesagt, ich sollte das Ergebnis niemandem berichten. Aber er wollte zu dir gehen also können wir ja reden. Aber lange werde ich das alles vor Bouvier nicht geheim halten können. Ach, das ist alles so spannend, richtig aufregend. Sag mal, siehst du irgendwie bedrückt aus? Doch wohl nicht wegen mir, oder?“ Ich drehte das Weinglas gedankenverloren auf dem Tisch. „Nein und ja, ach, ich weiß nicht. Ich habe gestern noch lange mit Charon gesprochen. Es ist doch eine Tatsache, daß du nur durch meine Schuld in die Hände von Magnus geraten bist. Auch wenn ich nichts dafür - genauer, dagegen – tun konnte. Wiederum hat sich jetzt dein Blut verändert und wieder hatte ich meine Finger im Spiel, und wenn auch nicht absichtlich. Also kann ich mir im Prinzip keinen Vorwurf machen aber es liegt sozusagen als dunkler Schatten auf meiner Seele.“ Liobá nickte ähnlich geistesabwesend wie ich. „Charon deutete solche Gedanken von dir schon an und Scuro Tejat hat mir später noch viel von der Prophezeiung erzählt, was Charon vermutet und so. Wenn man das alles glaubt, dann folgst du doch nur einem vorgezeichneten Weg. Ich finde das klasse, stell dir nur mal vor, wir sind der Anfang von was ganz Neuem.“ Es war fast mitreißend, wie sehr sie die ganze Sache genoß, die mich so verfolgte. Vielleicht waren Charons Überlegungen gar nicht so abwegig, daß es welche aus der Oscuro gab, die diese Art der Veränderung mit offenen Armen empfingen. Aber sie war ebenso neu in dieser Welt, wie ich. Wieso sah der dunkle Schatten um sie dann nur so richtig aus, warum wirkte sie sicherer und zufriedener mit ihrer Situation und ihrer Stellung in der Gemeinschaft als ich. Was sah Dezmont in der Prophezeiung? Er folgte ihr offenbar, sonst wäre er nicht darauf vorbereitet gewesen, daß der Imprecatio Curor sich gegen den Rat stellte. Er wollte diese Veränderung für sich und möglichst nicht für seine Feinde. Wieso hatte ich mehr Angst vor den Folgen der Veränderungen als der Weiße Drache? Nun, ganz einfach, ihm waren die Auswirkungen auf andere Menschen egal, ihm ging es nur um seine Macht. Möglicherweise war ich die ganze Sache falsch angegangen. „Was meinst du, Liobá. Tejat hat dir von der Prophezeiung erzählt, meinst du, daß am Ende etwas Gutes dabei rauskommen soll? Oder anders rum, wenn ich ein böser Mensch wäre, würde ich dann danach streben, daß die Vorhersage eintritt oder eher versuchen, sie zu verhindern?“ Sie sah mich an, überlegte eine Weile und griff dann nach ihrem Büchlein, in dem sie bei meinem Eintritt schon geschrieben hatte. Sie blätterte einige Seiten zurück und schob es mir dann rüber. In einer zarten Handschrift war dort die Prophezeiung nieder geschrieben. „Ich dachte, ich sollte es mir besser mal notieren, sonst könnte ich es mir nicht merken und so konnte ich halt noch mal drüber lesen. Wenn ich mir das so anschaue, ist die Antwort auf deine Frage eigentlich recht einfach. Betrachten wir mal Dunkel und Schwarz als zwei verschiedene Zustände innerhalb der Oscuro. Gabriel, Bouvier und alle, die wir lieben, sind Dunkel. Dieser Dezmont Darian ist Schwarz, ebenso wie zum Beispiel unser lieber Magnus. Wenn ich vorher auch dunkel war und jetzt noch lebe, vielleicht ohne die Beschränkungen der Oscuro, dann kann die Prophezeiung für mich nur gut sein. Ohne wenn und aber. Wenn sie also für mich positiv ist, ist sie für die ‚Schwarzen’ nicht gut, logisch, oder? Also sollte Dezmont doch entweder alles daran setzten, daß sich die Vorhersage nicht erfüllt oder als andere Möglichkeit, er will irgendwie was ändern, damit diese Umwandlung auch – oder nur – ihm zugute kommt. Bisher hat er nur versucht, dich zu fangen. Ihm wird die Gefahr klar sein, also will er die Nebenwirkungen ausschalten und sich dann an seiner Macht erfreuen. Klar? Es kommt etwas Gutes, du bist eben der Überträger, wie ich jetzt auch.“ Sie hatte mich völlig überrumpelt. Ich wußte nicht genau, warum ich hierher gekommen war, vermutlich, um sie ein wenig aufzumuntern, nach den ganzen Neuigkeiten, die Charon und Tejat ihr zugemutet hatten. Nur hatte ich sie da gewaltig unterschätzt, statt dessen munterte sie mich auf, warf mit Wissen um sich und Überlegungen, die des Scuro würdig wären. Offensichtlich hatte sie sich viele Gedanken gemacht. Und ihre Logik war bestechend. Entschlossen stellte ich das Glas zurück. „Du hast Recht, Liobá! Wenn es eine Gefahr gibt, droht sie dem Schwarz, nicht dem Dunkel. Ich finde es eben nur nicht so toll, daß ich überall meine Finger drin habe, ohne wirklich Einfluß ausüben zu können.“ Sie grinste. „Ach, hab dich nicht so! Wann wirst du es Gabriel erzählen?“ „Ich weiß noch nicht, vermutlich warte ich darauf, was Charon oder Tejat vorschlagen. Die beiden stecken viel zusammen. Aber vielleicht kommt es auch schon raus, wenn Mikail die Testergebnisse vorstellt; soweit er nicht mit den beiden unter einer Decke steckt. Manchmal ist das hier ganz schön verwirrend. Apropos: es gibt jetzt einen offiziellen Planungsausschuß. Kolya hat sich ein paar Experten gegriffen, darunter John und wird eine Falle für Dezmont vorbereiten. Oh, und noch was, Cesira wird erst mal bei Kolya bleiben, wenn alles vorbei ist.“ Sie grinste breit: „Das ist irgendwie nicht unbedingt die größte Überraschung. Ich finde, die zwei passen perfekt. Nicht nur optisch, auch vom Temperament. Siehst du, da kannst du John noch viel besser entbehren, wenn wir ihn mitnehmen, du hast ja dafür eine neue Frau in der Nähe.“ „Augenblick, soweit sind wir noch nicht.“ Sie grinste mich an und meinte nur: „Ich habe Bouvier mittlerweile den Floh ins Ohr gesetzt. Warte nur ab, irgendwann hab ich die zwei soweit. Wollen wir ne Wette abschließen?“ – „Na, das ist aber ganz schön gemein, oder? Wenn ich verliere, muß ich nicht nur zahlen, sondern auch noch John hergeben.“ Einen Moment überlegte sie: „Machen wir es anders rum. Wenn ich es schaffe, John zu überzeugen, lad ich dich groß zum Essen ein. Wenn John bei euch bleibt, mußt du mich ausführen. Ja?“ Ach, was sollte es. „So machen wir es.“ Wir gaben uns die Hände wie Geschäftsleute bei einem großen Deal und mußten dann herzhaft lachen. Ich verließ Liobá und kehrte mit meinem Aufpasser im Schlepptau in mein Zimmer zurück. Heute kam wohl nichts mehr, da konnte ich genauso gut noch ein wenig Schlaf nachholen. Also ließ ich mich mit einem Buch im Bett nieder und las mich in den Schlummer. Am nächsten Tag traf ich erst am Buffet auf bekannte Gesichter. Gabriel nahm mich in den Arm und hielt mich eine ganze Zeit eng an sich gedrückt. Es wurde warm und wundervoll dunkel um mich. „Hallo meine Liebste. Um dich auf den neuesten Stand zu bringen: Kolya und die anderen sind von ihrer Planung noch nicht zurück gekehrt, sie haben sich irgendwann mal Essen bringen lassen, das war es auch schon an Lebenszeichen. Belorian hat lange mit Nathaniel gesprochen. Er hat sich nicht unbedingt entschuldigt aber deutlich signalisiert, daß er die Vergangenheit begraben möchte. Sicherlich haben unsere Zuneigung und das große Vertrauen der anderen mit dazu beigetragen. Er hat Nathaniel sogar gefragt, ob er nicht zum nächsten Jahresfest des Uncia-Zirkels kommen wolle. Nathaniel war so geplättet, er hat ohne Überlegen einfach zugesagt und hat sich dann danach über sich selber gewundert. Kann aber nicht mehr zurück. Was noch? Ach ja, Scuro Tejat hat uns eingeladen, genauer gesagt, Mikail, Charon, Liobá, Bouvier, mich und dich. Somit findet heute erst mal kein Treffen der Kader statt, wir werden in gut einer Stunde in Tejats Räumen erwartet. Er wollte uns nicht sagen, worum es geht, aber er hat deutlich gemacht, daß es wichtig ist. Ich schätze mal, daß es etwas mit den Ergebnissen der Tests zu tun hat.“ Das vermutete ich auch. Nur wußte ich wahrscheinlich schon ein bißchen mehr als er. Wir würden sehen. Nach dem Essen machten wir uns langsam zu Scuro Tejat auf. Man hatte noch ein paar Sessel in seinen Raum geschafft und Bouvier und Liobá waren bereits da. Sie warf mir einen lächelnden Blick zu und hob leicht einen Daumen. Gabriel fing diese Geste auf, sah erst mich, dann sie an und zog dann die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts. Während wir auf Charon und Mikail warteten, verteilte Bouvier Getränke. Kurze Zeit später waren wir vollzählig. Und dann eröffnete Scuro Tejat die Versammlung: „Meine Freunde. Es gibt neue Entwicklungen, über die ihr Bescheid wissen müßt, bevor die Planung von Kolya und seiner Gesellschaft abgeschlossen ist. Zuerst sprechen wir über das Ergebnis der Tests.“ Und in der nächsten Stunde berichtete er in seinen Worten von den Dingen, die Charon mir schon erzählt hatte. Er fügte nur noch hinzu, daß all diese Erkenntnisse wissenschaftlich nachgewiesen worden waren. Mikail bestätigte das mit einer ausführlichen aber nicht unbedingt verständlichen Erklärung über Blutkörperchen, Plasma, Antikörper, Ribosomen und anderen Bestandteilen des menschlichen Körpers und ihres Zusammenspiels sowohl bei uns als auch bei Magnus. Als er geendet hatte, sah Bouvier Liobá an: „Du wußtest es schon längst, nicht wahr? Und du vermutlich auch.“ Damit sah er mich an. Wir nickten beide zurückhaltend. Liobá schränkte aber ein: „Wir haben es auch erst gestern gehört. Und es dauert ein wenig, bis man solche Nachrichten wirklich versteht und auf sich selber bezieht.“ Im Prinzip war ich immer noch dabei, nach so vielen Monaten, das alles zu verdauen. Gabriel sah mich an und wir tauschten einen Gedanken – oder eher ein Bild. Es klappte wieder. Er nickte und lächelte. Dann meinte er zu der Runde: „Ich bin bei weitem nicht so überrascht, wie ich es sein sollte. Es ist einfach nur gut, daß wir jetzt über einige Dinge Gewißheit haben. Und es ist mit Sicherheit wichtig, daß auch Kolya über diese Erkenntnisse schnellstens unterrichtet wird.“ Charon erhob sich wieder: „Ich werde zu ihnen gehen und berichten, ihr kommt sicher solange ohne mich zurecht.“ Und er verschwand. Wir sprachen einige Zeit über unsere Überlegungen bezüglich der Unterschiede zwischen Dunkel und Schwarz, über die Frage, ob die Lawine vielleicht noch aufzuhalten war und über andere Konsequenzen. Liobá versicherte, daß der Unterschied zwischen meinem und Magnus Blut gering gewesen war, aber vermutlich mit mehr Übung zu erkennen wäre, dennoch würde es schwer für die Mitglieder der Oscuro werden, die Schwärze zu meiden. Aber in einem Punkt stimmten alle überein. Die Veränderung – Scuro Tejat nannte es jetzt tatsächlich die zweite Wandlung – sollte nicht aufgehalten werden. Tejat schloß die Unterhaltung mit der Bemerkung: „Wir entwickeln uns weiter. Die Oscuro geht in das nächste Stadium, mit oder ohne unser Zutun. So sollten wir die Umgestaltung besser aktiv in unserem Sinne beeinflussen.“ Das Treffen war vorüber. Wir erhoben uns, dankten dem Scuro für seine Einladung und fanden uns kurz darauf im Speisesaal bei Wein und Brot. Gabriel und ich zogen uns ein wenig zurück. Er nahm mich wieder in den Arm und flüsterte in mein Ohr: „Ganz langsam entschlüsseln wir die Rätsel, die unser Leben seit einiger Zeit bestimmen. Ist dir klar, meine Schwarze Rose, daß wir dem Weg schon eine ganze Weile folgen und daß an seinem Ende jetzt ein gemeinsames Ziel sichtbar wird? Erinnerst du dich noch an die Abende mit Kolya und John vor dem Kamin im Musikzimmer? Irgendwann werden wir dort wieder sitzen, Rotwein trinken, lachen, lieben, reden und träumen.“ Ja, daran hatte ich auch schon gedacht, mehr als einmal in der letzten Zeit, nur konnte ich es mir momentan schlecht vorstellen. Außerdem: „Nun, einiges wird sicherlich nicht mehr so sein, wie es war. Cesira wird in unsere Runde aufgenommen, ich hoffe doch, daß auch Raphael dabei sein wird und vielleicht ist John dann nicht mehr da. Aber es fällt mir im Moment schwer, mir das alles vorzustellen. Das kommt mir vor wie ein Bild aus einem Fotoalbum, eine Erinnerung. Oder vielleicht ein Traum, der in Erfüllung gehen könnte – oder eben auch nicht.“ Er hatte mich nicht losgelassen. Seine Flügel waren um mich gebreitet, hielten die Welt von mir fern und beschützten mich. Er fragte zurück: „Dann wird es ein Traum sein, der in Erfüllung geht, dafür sorge ich, meine schwarze Rose. Sicher wird Raphael auch da sein. Und wieso sollte John weg sein? Gibt es etwa etwas, was ich noch nicht weiß?“ Oh, ups, jetzt hatte ich wohl zu viel gesagt. Aber was sollte es, ich konnte nicht zurück und er würde es so oder so bald erfahren, dann konnte ich ihn auch gleich vorwarnen – denn ich hatte das Gefühl, daß ich meine Wette verlieren würde. „Liobá hat sich etwas ausgedacht. Sie meint, daß John der ideale Kaj für Bouvier ist. Sie scheint die beiden unabhängig voneinander schon eine ganze Weile zu bearbeiten. Ich habe so ein Gefühl, daß sie eventuell Erfolg haben könnte.“ „Hm.“ Das war nicht grade eine ausführliche Antwort, selbst für meinen Raben. Also wartete ich mal auf einen etwas längeren Satz. „Ich fürchte, das war eine gute Idee von ihr. John wird unruhig, er ist kein Mensch, der lange sitzen und nichts tun kann. Er war damals ein Polizist mit Leib und Seele, du weißt ja, ein Experte auf seinem Gebiet. Die Qualifikation für so eine Aufgabe hat er sicherlich. Bouvier braucht dringend einen neuen Vertrauten und wenn das alles hier vorbei ist, wird John nach einer neuen Beschäftigung suchen. Warum also nicht dort. Sicher geht so was nicht so schnell, und er müßte dann auf Dauer meinen Zirkel verlassen und sich dem Colubra-Zirkel anschließen, das stimmt mich immer sehr traurig, besonders, weil ich ihn selbst gewandelt habe.“ Eine Weile schwieg er. Es tat ihm genauso weh, wie mir, nur aus anderen Gründen. Er seufzte und meinte: „Er würde mir fehlen, und dir sicher auch. Aber auch er muß seinem Herzen folgen, wenn er gehen will, werde ich ihn nicht aufhalten. Und vielleicht schließt sich dafür Cesira ja meinem Zirkel an. Außerdem haben wir ja auch nicht vor, nur vor dem Kamin zu sitzen, ein Besuch bei Bouvier ist schnell organisiert und so könnte man sich dann doch öfter sehen. Doch laß uns nicht vorgreifen. Aber danke für die Warnung, meine Lumina.“ Da! Jetzt hatte er es auch gesagt. Ich rückte etwas ab und sah ihn an. Er grinste mich schelmisch an und hatte offensichtlich mit dieser Reaktion gerechnet denn mein Protest wurde in einem langen Kuß effektiv erstickt. Die Nacht endete früh und schon bald fand ich mich in Gabriels Zimmer wieder. Doch noch bevor wir uns schlafen legen konnten, klopfte es an der Tür und Kolya trat mit ernster Mine ein. Er nickte mir nur kurz zu und sagte dann zu Gabriel: „Wir brauchen dich unten, im Planungsraum. Du mußt ein paar Dinge erklären. Bitte entschuldige. Ich hab zwei Aufpasser mitgebracht, die hier vor der Tür bleiben, bis du zurück bist. Tut mir leid, Gabe, LaVerne.“ Seufzend nickte Gabriel sah mich kurz entschuldigend an und dann verschwanden beide. Also machte ich es mir in dem Bett gemütlich und blätterte uninteressiert in einem der alten Bücher. Doch kaum hatte ich das Licht ausgeschaltet, klopfte es erneut. Ich dachte an die Aufpasser vor der Tür und überlegte, daß Einbrecher wohl nicht klopften. Sie mußten den Besucher zumindest kennen. Also rief ich halblaut „Herein.“ Da ich wußte, daß Gabriel erst kurz weg war und er sicher nicht geklopft hätte, konnte es nur Raphael sein, der in einem seidenen Morgenmantel in der Tür stand. Fragend sah er mich an. „Komm rein, Phale. Wenn du zu Gabriel willst, der wurde eben von Kolya abgeholt.“ Er nickte, schloß leise die Tür und setzte sich zu mir aufs Bett. „Ich weiß, ich hab vorher mit Kolya gesprochen. Es wird wohl einige Stunden dauern, bis die alles geklärt haben. Der Plan ist fast komplett. Eure letzten Neuigkeiten haben noch zu ein paar Änderungen geführt aber bald können wir zuschlagen. Und deshalb bin ich hier. Ich will heute eine Schuld begleichen.“ Schlagartig gefiel mir die Unterhaltung nicht mehr. Irgend etwas stimmte nicht. Er war sehr ruhig, die Traurigkeit, die ihn umgab war fast verflogen, es war – wie hatte Kolya mal gesagt – es war schwer, sich seiner besonderen Magie zu entziehen. In meinem Magen entstand langsam ein kleiner Eisblock. Konnte es vielleicht sein, daß Kolya Gabriel weggelockt hatte? Aber nein, Kaj und Kader bildeten doch eine Art von Einheit. Wieso war ich denn dann auf einmal so nervös. „Erinnerst du dich an unser Treffen auf dem Jahresfest?“ Wieso fragte mich nur jeder ständig, ob ich mich an dies oder das erinnerte. Ich konnte doch kaum so vergeßlich sein. Stumm nickte ich. „Nun, dort sagte ich, du hast mich ins Leben zurückgeholt, durch deine Liebe zu Gabriel und durch sein Vertrauen in dich. Daß du mich annimmst wie ihn und mir ohne Zögern die gleiche Liebe schenkst.“ Wieder nickte ich, mit wachsendem Mißtrauen. „Und ich sagte: mein Leben für dein Leben. Heute will ich dieses Versprechen einlösen. Ich will zwei Dinge von dir, LaVerne. Ich will sicher gehen, daß dein Kuß meinem Bruder keinen Schaden zufügt und daß ich stark in den Kampf gegen Dezmont gehe.“ Ich hatte es befürchtet aber dennoch gehofft, ich würde mich irren. Sein Gesicht sagte mir, daß sein Entschluß fest stand. Doch ich würde es zumindest versuchen, ihn umzustimmen. „Es gibt so viele Gründe, die gegen das sprechen, was du vorschlägst, Phale. Ich liebe dich, wie ich Gabriel liebe, ich will nicht, daß du Schaden nimmst. Selbst nicht, wenn ich dann den Rest meines Lebens niemals mit jemandem den Bluttausch vollziehen könnte. Ich kann dir nicht sagen, ob es funktioniert. Und es gibt kein Zurück. Niemals. Selbst der Weiße Drache – vor dem ich mich wirklich fürchte – ist solch einen Einsatz nicht wert.“ Er hatte schweigend und mit unbeweglichem Gesicht zugehört. Ich sah in Gabriels Augen und fand dort – am Grunde der Seele – eine Entschlossenheit, die meiner Meinung nach keine Grundlage hatte. Und entsprechend antworte er auch: „Du magst Recht haben, Schwarze Rose. Trotzdem, ich verlange nicht von dir, mit mir das Blut zu tauschen, ich bitte dich darum, mir die Möglichkeit zu geben, mein Versprechen einzulösen. Gabriel und ich sind uns so ähnlich, wenn ich keinen Schaden nehme, wird ihm nichts passieren. Darüber brauchen wir nicht zu streiten. Und ja, Dezmont ist jedes Opfer wert, um ihn zu stoppen. Denn sonst werden wir irgendwann von einer schwarzen Lawine überrannt werden und dann ist das vielleicht unser aller Ende. Nathaniel kann die Aufgaben unseres Planes nicht alleine bewältigen, er braucht Hilfe. Ich kann sie ihm geben. Bitte LaVerne, erfülle mir den Wunsch.“ Er sah mich an. „Du hattest diesen Plan schon viel früher Phale. Schon in eurem Wasserschloß, genauer, an dem Tag, als du beschlossen hast, hierher zu fahren und Berenice und Mikail auf unser Treffen vorzubereiten.“ Als ich bei diesen Worten sein Gesicht sah, wußte ich, daß ich mit meiner Vermutung richtig gelegen hatte. „Ich sagte dir damals, ich glaube an die Prophezeiung, nur etwas anders, als zum Beispiel Tejat das tut. Ich hatte – so wie Charon – das Gefühl, daß du der Schlüssel bist. Und genau deshalb ist Gabriel jetzt bei Kolya und ich bei dir. Ich werde ihn schützen und dich von Zweifeln befreien. Denn das ist meine Aufgabe und auch meine Schuld. Und ich kann so bei der Falle gegen Dezmont und seinen Leute mitwirken.“ Ich schwieg eine Weile. Was sollte ich tun? Es war wirklich schwer, sich ihm zu widersetzen. Aber ich hatte zumindest den Ring als Warnsignal. Bei dem kleinsten Hauch einer Gefahr würde ich den Versuch abbrechen, ob er wollte oder nicht. Aber ich konnte sie ihm nicht verweigern, diese Bitte. Was würde ich Gabriel sagen, wenn etwas schief ging. Doch dazu später. Die braunen Augen schauten noch immer in mich hinein. Ich nickte nur. „Dann komm, schwarze Rose, ich werde dich lehren, wie der Bluttausch sein soll, nicht, wie Magnus es gemacht hat.“ Er streifte den Bademantel ab und schlüpfte neben mir unter die vorgewärmte Decke. Er brachte einen kühlen Luftzug mit. Sanft zog er mich zu sich und küßte mich. Dann, als seine Finger meinen Körper unter der Decke mit Gänsehaut versahen, murmelte er leise: „Wenn deine Zähne wachsen, suche dir eine lecker aussehende Stelle an meinem Hals über der Schulter aus.“ Die Formulierung war so genial, ich prustete los: „Aber hier sieht momentan alles lecker aus…“ Eine ganze Weile ging das alberne Necken hin und her. Ich untersuchte sorgfältig seine Brust und seinen Bauch auf ebenfalls lecker aussehende Stellen. Trotz eines leisen Zweifels im Hinterkopf genoß ich die Reaktion, die meine sanften Berührungen wieder bei ihm auslösten. Sein Körper hob sich erwartungsvoll meinen Lippen und meinen Händen entgegen. Langsam verschwand die Sorge aus meinem Geist, machte einem Gefühl Platz, das Richtige zu tun. Ein Gefühl, als wenn man ganz bewußt die Kontrolle über seine Sinne aus der Hand gibt, die Grenzen nicht mehr wahr nimmt. Das, was ich so lange gefürchtet hatte, loszulassen. War dies Raphaels Magie? Sanft wanderten meine Lippen über seinen Adamsapfel bis zu seinem Mund, meine Hände strichen zart an seinen Seiten aufwärts, gruben sich in die schwarzen Locken, während seine Haut auf meiner zu glühen schien. Und bei unserem nächsten Kuß, entzündet mit wachsendem Verlangen, genährt von Leidenschaft, begannen meine Zähne langsam an Länge zu gewinnen, ebenso wie seine. Vorsichtig wanderte ich mit der Zunge abwärts bis ich eine Stelle am Hals fand, die wirklich appetitlich aussah. Ich zögerte. Ein Bild von Magnus blitzte in meinem Geist auf. Doch er legte beide Arme um mich, umgab mich für einen Moment mit einer Wärme und Zuversicht, die ich kaum von ihm kannte und drückte meinen Kopf runter: „Keine Angst. Der Kuß des Lebens ist ein Zeichen der Liebe.“ Und mit einem ganz kleinen Seufzer drückte ich vorsichtig meine Zähne in die weiche Haut. Er schmeckte nach Blut und Wein. Oder Honig, wenn es nach Liobá ging. Süß und stark und wunderbar. Flüssige Liebe, der Begriff kam mir in den Sinn, so hatte es sich angefühlt, als Kolya Gabriel gebissen hatte. Ein feines Kribbeln folgte, von meinem Mund in den ganzen Körper wandernd. Ich genoß den Geschmack ein wenig, dann schloß ich vorsichtig die Wunde und vergrub meinen Kopf in seiner Halsbeuge. Er atmete schneller als vorher, sein Herz konnte ich durch die Haut hören und er strich mir langsam und beruhigend über den Kopf. „Siehst du, Lumina, ich lebe noch. Und, war es schlimm?“ Ich hob den Kopf und blickte ihn an. Er hatte die Augen geschlossen, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Der Name schien wirklich die Runde zu machen. „Nein, Phale, es war schön, für mich schmeckst du nach einem wunderbaren Rotwein, süß und voller Lebenskraft. Anders als Liobá, intensiver, fast besser.“ Er lächelte noch mehr, immer noch mit geschlossenen Augen. „Ich bin viel älter als sie, habe das Blut verschiedenster Mitglieder der Oscuro in mir. Ich muß anders schmecken.“ Jetzt sah er mich endlich an. „Ich habe nicht sehr stark gespürt, daß du mich gebissen hast. Du bist fast zu vorsichtig, es war wie ein leichter Stromstoß, der durch meinen Körper ging und dann langsam abebbte, ein wunderbares Gefühl. Du wirst es auch bald merken, was ich meine. Wir haben jetzt ein wenig Zeit, bis dein Körper das Blut verändert hat. Magst du in der Zwischenzeit ein Glas leckeren alten süßen Rotwein?“ Das klang verlockend. Also nickte ich und er zog los, unbekleidet und noch leicht erregt, wie er war, organisierte aus der Bar zwei Gläser und zog aus einem der Schränke eine schon geöffnete Flasche. Mit den Getränken kam er zurück und wir legten uns nebeneinander, mit Blick auf den Baldachin über uns. Offensichtlich war der Schwindel und die Übelkeit, die ich bei Magnus Wandlung gespürt hatte, nicht immer ein Teil des Prozesses, ich fühlte mich fast berauschend gut. „Weißt du Phale, vor einem Jahr hätte ich mir in meinen kühnsten Träumen eine Situation wie diese nicht ausmalen können. In der letzten Zeit habe ich öfter überlegt, was kommen wird, wenn das alles hier vorbei ist. Wir werden in Gabriels Haus zurückkehren, das ist klar, Kolya und Cesira werden in der Nähe sein und hoffentlich du auch. Aber was dann? Schlafen, Musik hören, reden, am Kamin sitzen? Wie werden wir unser Leben verbringen?“ „Wenn alles gut verläuft, werden wir in einigen Wochen wirklich in Gabriels Haus sein. Ja, ich auch, ich habe mich verändert. Was wir tun werden, neben den genannten Dingen, die sicher auch nicht schlecht sind? Schach spielen, Kampftraining, unseren Kader mit der modernen Technik vertraut machen. Alleine das wäre doch eine Lebensaufgabe. Aber es gibt noch viel mehr. Wir haben überall auf der Welt Freunde. Wie wäre ein längerer Besuch bei Trevor und Carré? Ein Urlaub in Arabien. Ich wollte immer schon mal nach Buenos Aires. Reisen ist eine wunderbare Beschäftigung, wenn man nicht in Eile ist. Bouvier helfen, seine Fabrik aufzumöbeln, in die nächste Stadt in einen Nachtclub fahren und die Nacht durchtanzen. Andere Zirkel besuchen, neue Freunde gewinnen. Es gibt Tausend Dinge zu tun, ob sinnvoll oder nicht ist egal solange man Spaß daran hat. Züchte Hunde, Pferde, Vögel oder was auch immer. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Gabriel sich jemals gelangweilt hat und ihr beide zusammen schon gar nicht. Ihr hebt doch eher die Welt aus den Angeln.“ Er schwieg. Da sah man mal wieder, was dabei herauskam, wenn man immer nur in eingefahrenen Bahnen dachte. Es stimmte, es gab so viel zu tun, zu entdecken, zu genießen oder zu verstehen, daß eigentlich ein Leben dafür nicht reichen konnte. Ich sollte aufhören, mir über solche Dinge den Kopf zu zerbrechen und beginnen, mich darauf zu freuen. Tat ich ja auch eigentlich. Ich addierte zu den Dingen auf seiner Liste noch einen langen Besuch bei Sir Rodenby. „Wie fühlst du dich, LaVerne?“ Ich horchte in mich: „Gut, nicht übel, nein, falsch, sehr gut, allerdings etwas äh, erregt, was aber vermutlich an deiner Gegenwart liegt.“ Er grinste. „Das will ich doch wohl hoffen, daß ich dich nicht kalt lasse, obwohl das gar nicht der Sinn der heutigen Übung ist. Darüber reden wir dann ein anderes Mal, übrigens auch eine Art, ein paar langweilige Stunden mal zu verbringen. Aber ich denke, die Umwandlung ist abgeschlossen. Jetzt...“ er nahm mir das Glas aus der Hand und stellte beide auf den Nachttisch, „jetzt werden wir dem Atem des Todes teilen, schwarze Rose.“ Und wieder gingen seine schlanken Finger auf Wanderschaft. In einem Anflug von Galgenhumor meinte ich leise: „Dann such dir mal eine leckere Stelle aus.“ Er knabberte gerade an einer Stelle an meinem Hals und murmelte: „Das habe ich schon längst. Hier ungefähr, das sieht sehr verlockend aus, das fand ich schon bei unserer letzten Begegnung.“ Seine Zunge markierte den entsprechenden Punkt und sein Atem kühlte die Stelle anschließend auf Gänsehaut-Temperatur zurück. Seine Hände umschlangen meinen Kopf und meinen Nacken, kurze Zeit danach zog er mich fester an sich: „Schließ die Augen, Rose.“ Ich tat, wie erbeten und dann spürte ich seine Zähne auf meiner Haut. Als ob ein leichter Strom floß, von der Stelle, an der er die Haut durchbohrt hatte, sich in alle Richtungen ausbreitend. Überall am Körper schienen kleine Feuer zu entstehen. Wärme durchflutete mich von diesen kleinen Brandherden. Ich spürte seine Finger auf meiner Haut, liebevoll und zärtlich. Mein Herz beeilte sich, diese Informationen schnellstens weiterzugeben, es war wie eine Droge, die den ganzen Körper überschwemmte. Und dann verklang das Gefühl, ebbte langsam ab, als Raphael die Wunde schloß. Sofort sah ich ihn an, aber er machte einen zufriedenen Eindruck, nicht blaß oder irgendwie geschädigt, nur die Augen brannten sich noch immer in meinen Geist. „Wenn eine Wirkung eintreten sollte, geschieht es nicht sofort. Erinnere dich, ihr ward alle eingeschlafen, als Magnus krank wurde. Also schau mich nicht an wie jemanden, der dem Tode geweiht ist. Dein Blut schmeckt sehr süß, was Liobá schon sagte, ungewöhnlich aber angenehm. Ich könnte noch viel mehr davon nehmen und nie genug davon bekommen, es berauscht mich förmlich. Doch um sowohl deine Sorge zu reduzieren als auch einer Diskussion mit meinem Bruder aus dem Wege zu gehen, werde ich dich jetzt verlassen, bevor die Umwandlung meines Blutes abgeschlossen ist. Ich gehe in die Laboratorien runter und lasse mich überwachen. Wenn du nichts dagegen hast, natürlich.“ Viel lieber hätte ich ihn noch ein wenig länger bei mir gehabt. Aber diese Aktion sollte ja kein Vergnügen sein… na ja, nicht nur, zumindest. Also nickte ich zaghaft. „Aber nur, wenn du versprichst, mir sofort Bescheid zu sagen, wenn irgendwas ist. Egal, ob Gabriel dabei ist oder nicht, versprich es.“ Er nickte. „Versprochen. Aber ich mache mir keine Sorgen, dafür aber mehr um die Rache meines Bruders, wenn er davon erfährt. Also, wenn du so nett sein könntest, es vielleicht nicht sofort zu erwähnen…“ Ach nein, Angst vor dem kleinen Bruder. Aber ich grinste und nickte: „Ich werde versuchen, es für mich zu behalten. Aber lange klappt das sicher nicht.“ Als er aufstand und den Bademantel anzog grinste er ebenfalls: „Klar, und ich kann ihn auch nur sehr schwer aus meinen Gedanken abschirmen. Tue dein Bestes, Lumina. Und: Danke. Schlaf gut, Schwarze Rose.“ Er hauchte mir einen Kuß auf die Lippen, drehte sich an der Tür um, sah mich kurz an und schaltete dann beim Rausgehen das Licht aus. Ich war schon eingeschlafen, als Gabriel zurückkehrte, unlustig öffnete ich nur ein Auge. Er fragte nicht nach Besuchern, murmelte nur auf meine schlaftrunkene Frage: „Lauter uninteressanter Kleinkram, nichts, was nicht auch ohne meine Informationen geklärt werden konnte. Hm, egal, jetzt schlaf weiter, morgen werden die Pläne verkündet.“ Gehorsam schloß ich das einzelne Auge wieder. Von Phale hatte ich nichts gehört, das sah ich als gutes Zeichen an. Und Gabriel ahnte nichts. Dann konnte ich ja in Ruhe weiter schlafen. Endlich ein PlanLouder than thunder you will roar Above the world your voice will soar Through the universe you will fly Expand the earth, tear up the sky (Agathedaimon) Ich fuhr aus einem bösen Traum hoch, Raphael war krank…. Nein, es war nur ein Traum! Gabriel kam grade tropfnaß und wie üblich unbekleidet aus dem Badezimmer. Er warf mir einen lächelnden Blick zu, und zog sich dann langsam an. Widerwillig kletterte ich auch aus den warmen Federn und verschwand im Bad. Als ich endlich wieder auftauchte – zum Glück erheblich mehr bekleidet als er – war Kolya eingetroffen. Er sah mich an, grinste unauffällig und setzte dann seine Unterhaltung mit meinem Raben fort. „Die Gruppen sind verteilt, unsere Helfer halten sich bereit, wir sind soweit fertig. Nur noch ein paar Kleinigkeiten, wir werden nachher dem Konzil berichten. Tejat und Serebro sind jetzt noch mal bei Magnus, sobald sie zurück sind, können wir anfangen.“ Er nickte mir zu, als ich mich zu ihnen gesellte: „Hallo Kleine. Wir haben uns viel Mühe gegeben, dir wird garantiert nichts passieren. Du hast ein irres Komitee von Aufpassern, jetzt hoffen wir nur, daß Dezmont bei unserem Plan auch mitspielt.“ Das hoffte ich auch. Ich hätte ihn gerne nach Raphael gefragt aber wenn es schlechte Nachrichten geben sollte, wären sie längst bis zu Gabriel gedrungen – dafür war die Verbindung der beiden zu eng. Es war sowieso erstaunlich, daß Gabriel so gar nichts mitbekommen hatte. Also hielt ich mich zurück und folgte den beiden still Richtung Kaffee und frischem Brot. Einige Zeit später wurden wir dann alle in den großen Besprechungssaal zurück gerufen und dieses Mal waren wir wieder vollzählig. Ich warf Raphael einen Blick zu, er wirkte unverändert, zumindest nicht krank. Er warf mir ein leises Lächeln zu und nickte, während er sich wie die anderen am Tisch nieder ließ. Charon erhob sich, wartete, bis alle Augen auf ihn gerichtet waren und begann dann: „Wir haben, wie in einem Schachspiel, unsere Figuren in Stellung gebracht. Alles ist vorbereitet, Nachrichten wurden verschickt und die Lawine rollt, kann nicht mehr aufgehalten werden. Um keine Zeit zu verlieren, haben wir vor zwei Tagen, als wir uns zum ersten Mal zusammengesetzt haben, einige Nachrichten weitergegeben.“ Er warf Kolya einen Blick zu, der nickte und übernahm das Reden: „Nun, zuerst ging eine Nachricht an das Congregat. Nicht direkt an Gideon, um sicher zu stellen, daß eine größere Anzahl von Leuten ebenfalls den Inhalt erfahren kann. Die Botschaft lautete in etwa: ‚Es gibt Neuigkeiten über den, der wie Nathaniel ist. Es handelt sich um eine Frau, die Lumina genannt wird. Vor zwei Tagen ist sie – auf uns unbekanntem Wege – aus unserer Verwahrung verschwunden. Sobald wir Neuigkeiten haben, werden wir uns wieder melden.‘ – Um diese Behauptung zu unterstützen, haben wir an einige Personen eine dezente Frage gerichtet. Nicht nach einer Frau mit Nathaniels Fähigkeiten, sondern nach LaVerne, der Gefährtin von Gabriel. Sie sei unerklärlicher Weise verschwunden und vielleicht hätte sie sich entschlossen, den Empfänger der Nachricht aufzusuchen. So sind wir bei Sokrates verfahren, bei Don Vedu und noch einigen anderen Leuten, die LaVerne entweder flüchtig kennen gelernt hat oder von deren Existenz sie wissen konnte. Dabei wurde speziell darauf Wert gelegt, daß einige Namen darunter waren, die in der Liste von Gideon auftauchen, mit dem Verdacht, eventuell dem Weißen Drachen Informationen zu liefern.“ Kolya nickte erneut Charon zu, der wieder das Reden übernahm: „Somit gehen wir davon aus, daß Dezmont mittlerweile weiß, daß sein Kaj mit der Entführung wohl Erfolg hatte. Dann haben wir uns Gedanken darüber gemacht, daß Magnus nicht mit LaVerne eine größere Reise machen kann, er kann nicht einfach mit ihr in ein Flugzeug steigen und zum Stammsitz des Drachen fliegen. Also mußte es in akzeptabler Entfernung eine Zuflucht geben. So haben John und ich uns den Zettel mit den Koordinaten von Magnus vorgenommen, sowie sein GPS-Gerät. Und es stellte sich heraus, daß diese Koordinaten sich auf einen Ort beziehen, der sich rund 80 Kilometer fast südlich von hier befindet. Sofort haben wir uns alte Unterlagen über dieses Gebiet besorgt, aber ich denke, Thorben sollte diesen Teil erzählen.“ Der so angesprochene erhob sich und griff nach einem Stapel Blätter auf dem Tisch: „Dies ist ein sehr altes Dokument, das uns eine verlassene Festung an den errechneten Punkten zeigt. Die Zeichnungen hier wurden noch von Mönchen angefertigt, die damals dort einige Zeit lebten, sie gaben dem Ort auch seinen Namen: Tschorni-Kro.“ Er reichte die Papiere weiter und jeder nahm sich eine Kopie und gab den Rest weiter. Dünne Linien waren zu erkennen, Höhenmarkierungen und Erläuterungen in eckigem Latein an den Seiten. Thorben ließ uns einen Moment Zeit, die Zeichnung zu studieren, dann erläuterte er: „Dies ist ein sehr ungewöhnlicher Ort. Der Name bedeutet in etwa ‚Schwarzes Blut‘. Das sollte uns aber hier nicht weiter belasten. Es handelt sich um eine Festung und obwohl ich schon sehr lange hier lebe, bin ich leider nie dort gewesen, obgleich ich davon gehört hatte. Es gibt hier einige Besonderheiten, die es ermöglichen, Eindringlinge sehr lange fern zu halten, es ist eine wunderbare Verteidigungsanlage. Dies gilt besonders für Mitglieder der Oscuro. Ich sagte ja schon, Mönche haben dort eine Zeit lang gewohnt, was bedeutet, die Kapelle ist geweiht. Der Zugang über den ebenen Vorhof ist stark eingeschränkt, wie ihr seht, links die Kirche, rechts der zugehörige Friedhof. Für uns also nur der Weg über den schmalen Mittelgang. Unsere Freunde der Nadiesda Thurus sind nicht so stark eingeschränkt; dennoch, es gibt hohe Schutzmauern, an zwei Seiten steht die Burg an einem steilen Abgrund, man müßte die Felsen hochklettern und dann noch die Befestigungsmauer, um hinein zu gelangen. Es ist eine echte Festung, die ebenfalls den Friedhof mit einschließt. Alles in allem, ein sehr sicheres Bauwerk für jemanden, der sich darin verschanzen will und nur wenige Leute zur Verteidigung hat. Das waren die schlechten Nachrichten.“ Wir alle hatten seine Worte mit den Strichen auf der Zeichnung verglichen. Einige der anwesenden Kader schüttelten den Kopf. Jetzt erhob sich Arpad. Er warf Thorben und Kolya einen kurzen Blick zu und fuhr dann fort: „Andererseits ist es aber auch so, wenn erst mal jemand in der Festung ist, hat er sozusagen das gleiche Problem. Die Ausgänge sind auch für eine kleinere Gruppe relativ leicht zu verteidigen. Und wir haben noch etwas erfahren: Zwischen den steilen Felsen, auf die die Burg gebaut ist, gibt es einen kleinen Zugang, eine natürliche Höhle, die künstlich verlängert wurde und in einem Geheimgang in der Burg endet. Dieser Zugang ist neben dem Weg über den Burghof der einzige Zugang. Alles, was wir euch bisher berichtet haben, ist auch Dezmont bekannt, er hat diesen Ort als Treffpunkt für Magnus ausgewählt.“ Ich war doch sicher nicht die einzige, die sich fragte, woher unser Komitee diese Information hatte. Aber da niemand fragte, wollte ich mich auch nicht unwissend zeigen. Und vielleicht war das auch eigentlich nicht so schwer zu erraten. Wollten Scuro Tejat und Mikail nicht mit Magnus gesprochen haben. Nun, vielleicht hatten sie ja Erfolg gehabt. Ich richtete mein Augenmerk wieder auf den Redner. „Wir haben uns einen relativ einfachen Plan überlegt. Genauer gesagt, wir haben zwei Möglichkeiten ausgearbeitet, den weißen Drachen und seine Leute in der Festung gefangen zu setzen. Die Auswahl hängt davon ab, ob er sich bereits dort befindet oder erst ‚anreisen’ muß. Das konnten wir bisher nicht in Erfahrung bringen, denn wir wollten vermeiden, dort eventuell zu früh gesehen zu werden. Sollte er sich bereits dort befinden – was wir allerdings nicht glauben – dann wäre die einfachste Möglichkeit, den geheimen Zugang einzunehmen und ihn dann von der ebenen Seite anzugreifen. Dabei benötigen wir relativ wenige Leute, wir können ihn einfach dort festhalten und dann seine Aufgabe fordern. Dazu gehört sicher noch mehr, aber ich gebe nur erst mal die groben Grundzüge unseres Planes bekannt.“ Jetzt schaute er Thorben an, der nickte und fort fuhr: „Eine kleinere Gruppe von Männern würde in dem Fall den Felsenzugang möglichst unbemerkt einnehmen. Sofern Bedarf besteht, könnte ein Scheinangriff dann von dort erfolgen, allerdings ist dort unsere Bewegungsfreiheit eingeschränkt, so daß hier eher ein Halten der Stellung sinnvoll wäre, eventuelle Fluchtversuche dort zu unterbinden. Der Geheimgang ist nicht allgemein bekannt, von der Burg selber aus sehr schwer zu finden und Dezmont kann nicht damit rechnen, daß wir darüber Bescheid wissen.“ Jetzt übernahm Charon das Wort. „Dies war das erste Szenario. Wir vermuten jedoch – und es gibt Gründe für diese Annahme – daß auf der Burg nur ein oder zwei Männer sind, die Dezmont informieren sollen, wenn Magnus mit seiner ‚Beute’ auftaucht. Und hier gehen wir zu dem anderen Teil unseres Planes über. John, bitte!“ Diese kleine Gruppe hatte einiges auf die Beine gestellt. Ich hatte richtig vermutet, das waren die Experten, es gab richtige Pläne und nicht nur nutzloses Gerede. Gespannt wartete ich, was John zu sagen hatte. „Nun, die Tatsache, daß die Leute in der Festung auf Magnus warten, ist an sich noch nicht schlimm. Aber wir müssen sie davon überzeugen, daß Dezmont hergerufen werden soll. Und da stellt sich uns ein kleines Problem. Wir können uns der Festung natürlich nur im Dunkel nähern, wir wissen aber nicht, wo sich die Wachen aufhalten werden. Und natürlich kann Magnus nicht mit LaVerne dort auftauchen. Wir müssen eine Täuschung aufführen, die die Leute dort überzeugt, daß Magnus mit LaVerne eingetroffen ist, sich aber von Gabriel und seinen Leuten verfolgt sieht. Auf der Burg wurden angeblich Vorbereitungen auf eine längere Verteidigung getroffen. Somit eröffnet sich uns folgendes Szenario. Zwei Leute, vorgeblich Magnus und LaVerne, werden sich offen der Burg nähern. In gebührendem Abstand wird eine Verfolgergruppe nachrücken. Sobald Dezmont über diese Vorgänge informiert wurde, werden unsere beiden Köder sich auf sicheres Terrain zurück ziehen. Abhängig von der Art, wie der Weiße Drache gerufen wird, müssen die beiden Wachen dort möglicherweise ausgeschaltet werden. Und dann heißt es erst mal warten. Dezmont wird nicht wissen, daß uns der zweite Zugang bekannt ist, denn es sieht für ihn ja so aus, als wären wir nur der Spur des Entführers spontan hierher gefolgt. Somit werden wir ihn dort einfach durchlassen und dann die Passage blockieren. Wenn er ein guter Taktiker ist, wird er einen Teil seiner Leute über den Burghof schicken, so daß sie im Prinzip die Verfolger von LaVerne in die Zange nehmen. Wir rechnen mit einer gemischten Gruppe von Gegnern, sowohl Nadiesda Thurus als auch Oscuro. Unsere Gruppe im Burghof wird nur aus Männern der Nadiesda Thurus bestehen, so daß diese sich in die angrenzende Kirche zurück ziehen können. Um aber die Illusion einer Belagerung zu erhalten, können wir nicht alle Leute abziehen, das würde auffallen. Auch wenn LaVerne vorzeitig verschwinden würde, könnte ein eventuell entfernter Beobachter diese Aktion bemerken. Allerdings werden Dezmonts Männer davon ausgehen, daß Magnus und LaVerne sich irgendwo in der Burg verschanzen und die Stellung halten werden, bis Hilfe eintrifft. Sie werden also versuchen, die Gruppe im Burghof zu überrennen, um möglichst schnell Magnus zu helfen. Und der Rest unserer Leute wird erst um die Burg verteilt auftauchen, wenn alle Angreifer durch sind und es keine Gefahr mehr gibt, daß unsere Leute in eine Zwickmühle geraten.“ Das war eine lange Rede. Mir schwirrte förmlich der Kopf. Belagerung, Rückzug, verstecken, Hinterhalt … wie war das…? Verwirrt schaute ich zu Gabriel, der konzentriert zugehört hatte. Sein Gesichtsausdruck schien anzudeuten, daß er zumindest die Grundzüge verstanden hatte – ich war mir da noch nicht so ganz sicher – aber irgend etwas störte ihn. Nachdenklich legte er den Kopf zur Seite aber bevor er noch etwas sagen konnte, ergänzte Arpad die letzten Sätze noch: „Für den Aufbau der Falle haben wir schon bei verschiedenen Zirkeln um Freiwillige der Nadiesda Thurus erbeten, die jederzeit jetzt eintreffen sollten. Wenn alle Spielfiguren wie von uns gewünscht auf dem Brett plaziert sind, erst dann werden die Kader zum Schauplatz gebeten. Eine Verhandlung mit Dezmont wird nicht einfach und unsere gemeinsame Aktion soll eine Botschaft für ihn sein.“ Diese letzten Worte führten zu einem leichten Raunen, das durch den Raum schwappte. Einige Zeit gab es lebhafte Unterhaltungen zwischen den Teilnehmern der Versammlung. Kolya und Gabriel wechselten einen Blick, der mir sehr deutlich auffiel. Gabriel sah ihn an, Kolya hielt den Blick einen Moment und schaute dann auf die Papiere vor sich, sein typisches Grinsen momentan verschwunden, die Stirn in Falten gelegt. Und als Gabriel dann mich ansah, wußte ich, was dieser Austausch gewesen war, ich fühlte mich ganz ähnlich. Gabriel lächelte mich nicht an, die dunklen Augen forschend zusammengezogen. Unwillkürlich schaute auch ich auf die Zettel vor mir. Gabriel lehnte sich etwas zurück, sagte aber kein Wort. Ich hatte auf einmal ein ganz schlechtes Gefühl, wieso hatte ich diese Heimlichkeiten mitgemacht. Entschlossen hob ich den Kopf, sah ihn an, aber er schüttelte leicht den Kopf, hob abwehrend ein wenig die Hand und legte sie dann auf meine. Was immer das auch bedeuten sollte, ich hielt mich daran, sagte nichts und hörte mit weniger Elan als vorher den lebhaften Unterhaltungen zu. Wieder übernahm John das Reden: „Wir haben jetzt nicht mehr viel Zeit. Die Strecke zu dem Gelände ist – wie gesagt – rund 80 Kilometer Luftlinie. Ein Teil davon ist Gebirge, und wir müssen davon ausgehen, daß Magnus den Weg zu Fuß zurück legen wollte. Überall sind auf der Strecke verlassene Bauernhäuser, also sichere Unterschlüpfe gegen das Tageslicht. Wenn wir die langsamste Reisegeschwindigkeit zu Grunde legen, müßte Magnus ungefähr sechs Tage nach Verlassen von Sonho Noite dort eintreffen. Und die Zeit ist so gut wie verstrichen. Wenn wir so schnell wie möglich aufbrechen, die angeforderten Leute der Nadiesda Thurus als Unterstützung hinter uns, können wir noch rechtzeitig dort auftauchen, daß es mit Magnus vorgefaßtem Plan zusammenpaßt. Aber wir müssen sehr schnell handeln.“ Und dann sprach Carré das aus, was schon eine ganze Weile durch meinen Kopf geisterte. „Wenn ich das alles richtig verstanden habe, werdet ihr die Flucht von Magnus mit LaVerne imitieren. Solange wie möglich wollt ihr eine Illusion aufrecht halten und eventuell sogar zwei von Dezmont’s Männern täuschen.“ Die Herren des Planungskomitees nickten mehr oder weniger. Sie fuhr fort: „Dabei ist schon klar, daß Magnus nicht an der Täuschung teil nimmt. Und außerdem spielt der eventuelle Rückzug in eine Kirche eine wichtige Rolle in eurem Plan.“ Wieder nickten alle, Gabriel setzte sich auf, hielt aber weiter meine Hand. „Der einzige, der mit LaVerne diese Täuschung ausführen könnte, ist Nathaniel. Denn eine falsche, oder fehlende Aura würde euren Plan zunichte machen.“ Die Herren sahen sich an, erneut bestätigten sie Carrés Worte, dezente Blicke wechselten. „Aber ist euch aufgefallen, daß Nathaniel viel zu groß und auch zu kräftig ist, so daß er sofort als ‚Fälschung’ auffallen würde, wenn jemand dort ist, der ihn zumindest vom Sehen kennt.“ Sie hatte keine Frage gestellt aber ich spürte deutlich, daß Gabriel meine Hand etwas fester hielt und Kolya erneut sorgfältig beobachtete. Der spürte das ebenfalls, beschäftigte sich mit den Zetteln vor ihm und antwortete nicht. Es war John, der etwas beschämt in die Runde blickte, zum Schluß endete seine Musterung bei Raphael. Ich hatte es geahnt. Als noch immer niemand antwortete, wurden die anderen Teilnehmer am Tisch aufmerksam. John begann zögerlich „äh… hm… also“ dann schien er sich zusammen zu reißen „… du hast natürlich Recht, Carré. Allerdings haben wir einen …äh, Weg … gefunden, dieses Problem zu lösen. Also… wir haben sozusagen eine Entdeckung in unseren Plan eingearbeitet.“ Carré schaute ihn nur weiter an, wenn sie etwas ahnte, setzte sie soeben ihr bestes Pokergesicht auf. Auch Gabriel lauschte mit unbeweglicher Mine. Doch endlich erlöste Raphael den armen John. Er stand auf, sah kurz auf seinen Bruder neben sich, dann wand er sich an die wartende Runde, die mit wachsendem Erstaunen gelauscht hatte. „Nun, deine Einwände sind uns natürlich auch bewußt. Auf Grund dieser Tatsache und einigen neuen Entwicklungen wurde ich zu den Beratungen hinzugezogen. Wir haben Mikail gebeten, sein Wissen bis zu diesem Moment für sich zu behalten, aber ich werde euch jetzt erklären, was wir planen. Unsere Untersuchungen haben bestätigt, was viele von uns schon wußten. LaVerne – Lumina – hat ihre Fähigkeiten an Liobá weitergegeben.“ Jetzt mußte Raphael innehalten, laute Zwischenrufe und Überraschungslaute hatten sich erhoben. Einige der Anwesenden nickten, als ob sie etwas Derartiges erwartet hätten, andere starrten mich und auch Liobá an. Phale hob die Arme und nach und nach verstummten die Stimmen, alle sahen ihn erneut an. „Beruhigt euch, so lange wissen wir es auch noch nicht, und alle Rätsel sind bei weitem nicht gelöst. Die Details können wir später besprechen, John hat ja schon darauf hingewiesen, daß wir in Zeitdruck sind. Lange Rede, kurzer Sinn. LaVerne braucht neben sich einen Schutz, dem sie vertrauen kann, aber wir brauchen für die Täuschung auch jemanden, den wir als Magnus ausgeben können. Weiterhin jemanden, der alle Vorgänge genauestens kennt und es besteht die Notwendigkeit, geweihtes Land zu betreten. Also habe ich mein Recht als Erstgeborener geltend gemacht und LaVerne gebeten, mir diese Voraussetzungen zu ermöglichen. Obgleich sie nicht überzeugt war, hat sie meinem Ansinnen Folge geleistet. Zum ersten Mal nach fast fünfhundert Jahren habe ich heute die Sonne untergehen sehen.“ Ich spürte zwei Dinge auf einmal: mein Rabe neben mir hatte bei den letzten Worten meine Hand fast zerdrückt, obwohl sich seine Mine nicht verändert hatte. Und Raphael strahlte etwas aus, was ich nach einiger Mühe nur als ‚Bewunderung’ klassifizieren konnte. Eine eigenartige Begeisterung, vielleicht eher Ehrfurcht, schien von ihm auszustrahlen, während sein Bruder neben mir mehrmals tief durchatmete, mit versteinertem Gesichtsausdruck. Die Reaktionen der anderen am Tisch gingen von Verwunderung über Schreck bis hin zu Unverständnis und erneut dauerte es eine ganze Weile, bis es Raphael möglich war, sich wieder Gehör zu verschaffen. Kolya schaute noch immer überall hin, nur nicht in unsere Richtung. „Bitte! Freunde! Brüder! Es war meine eigene Entscheidung, niemand außer mir trägt dafür die Verantwortung. Aber wenn wir uns nicht beeilen, war vielleicht die ganze Planung umsonst. Als bitte, laßt uns später streiten, jetzt sollten die einzelnen Gruppen zusammen mit den Helfern der Nadiesda Thurus so bald wie möglich aufbrechen. Die drei Gruppen werden jeweils von einem Mann begleitet, der bei der Planung dabei war, so daß während der Fahrt weitere Details besprochen werden können. Die erste Gruppe, die sich an dem verborgenen Felszugang verstecken wird, besteht aus Thorben und Kolya. Ersterer hat zumindest eine ungefähre Ahnung von der geographischen Lage und die alten Beschreibungen am sorgfältigsten studiert. Die Gruppe, die Lumina und mir bis in den Burghof folgen wird, wird von John und Serebro angeführt, Nathaniel wird sich ebenfalls in unserer Nähe aufhalten. Diese Gruppe muß möglichst klein gehalten werden und in der Lage sein, sich bei Bedarf schnell und möglichst unauffällig zu bewegen. Am liebsten wären uns nur Leute aus der Nadiesda Thurus aber das konnten wir nicht so schnell organisieren, darum kümmern wir uns, wenn wir vor Ort sind. Die dritte Gruppe, die uns eventuell den Rücken frei halten soll, wird von Charon und Arpad begleitet. Wir reisen so schnell und so weit wie möglich zusammen, aber das letzte Stück müssen wir alle getrennt und zu Fuß zurück legen. Während wir hier geredet haben, wurden Gruppen innerhalb der Nadiesda Thurus gebildet, Kleidung und Zubehör vorbereitet. Also laßt uns aufbrechen.“ Und mit diesen einfachen Worten setzte er sich hin und wartete, daß das Chaos einsetzte. Ich wartete eher auf einen irgendwie gearteten Ausbruch, meine Hand unter Gabriels wurde vermutlich schon blau aber er sagte weiterhin nichts. Noch einmal stand Kolya auf und rief über die aufgeregte Unterhaltung hinweg: „Wir können unterwegs reden. Mikail hat bereits die Fahrzeuge vorbereiten lassen, alles wartet nur noch auf das Ende dieser Versammlung. Aus Sicherheitsgründen werden wir keine Kader in der Gruppe um John, Serebro und Nathaniel zulassen, wie gesagt, wir arbeiten vorwiegend mit Freiwilligen der Nadiesda Thurus. Erst, wenn Dezmont in der Burg wirklich sicher festgesetzt und die Situation unter Kontrolle ist, ist es den Kadern gestattet, sich zu nähern.“ Wieder wurde das Murmeln am Tisch etwas lauter aber immerhin ließ Gabriel jetzt meiner Hand etwas Spielraum, obgleich er sich noch immer nicht bewegt zu haben schien. Aber die ersten Leute standen auf und als die Türen geöffnet wurden, war die Halle angefüllt mit Fremden. Eine weiße Aura herrschte hier vor, kaum ein Mitglied der Oscuro war zu entdecken. Und so standen nach und nach alle auf und folgten mehr oder weniger ergeben dem Strom der Leute, die das Konferenzzimmer verließen. Phale warf seinem Bruder einen kurzen Blick zu, schien aber keine Antwort zu bekommen und folgte den anderen durch die Doppeltür. Auch Kolya erhob sich, verließ aber den Raum ohne noch einmal nach uns geschaut zu haben. Dann stand Gabriel auf, ließ meine Hand los, strich im Vorbeigehen einmal durch meine Haare und folgte dann wortlos den anderen. Was immer er im Moment dachte, ich fand keine Möglichkeit, es herauszufinden, seine Blockade war sehr stark. Und dann saß ich auf einmal alleine im Zimmer, durch die offene Tür sah ich Leute vorbeieilen aber hier herrschte einen Moment einsame Stille. Und anstatt über die kommenden Aktionen nachzudenken, dachte ich über Gabriel und seinen Bruder nach. Nicht etwa, daß ich logisch überlegte, nein, mir fielen diverse Sätze ein, ohne Zusammenhang und ohne Schlußfolgerungen daraus zu ziehen. Jetzt stand zwischen den beiden eine Schranke aus Blut. Phale hatte sich auf das Recht des Erstgeborenen berufen. Kolya und Raphael hatten sich gegen Gabriel verschworen. Phale begab sich für Gabriels Gefährtin in Gefahr. Und so ging es weiter, ein Gedanke jagte den nächsten. Ich suchte keine Schuld bei mir, diesmal nicht. Aber … aber… ich ließ den Kopf auf meine Arme sinken und schloß die Augen, um nicht weiter diese Überlegungen sehen zu müssen. Zur Burg – Tschorni-KroOn you go, follow some dark path through despair Born to the night, to duty and passion you’re heir Your quest will be true to the voice of your heart And so, my soul and my love go with you when we part Und dann war auf einmal Gabriel wieder im Raum. Ich schaute nicht auf, als er seine Hand nach meinem Kopf ausstreckte. Er war so präsent, ich brauchte gar nicht zu sehen, wie er da stand, sein Geruch und seine Ausstrahlung füllten den Raum sofort wieder mit Wärme. Noch immer wortlos zog er mich dann an den Armen hoch, bis ich aufstand und dann legte ich meinen Kopf an seine Schulter und hielt mich mit aller Kraft an ihm fest. Er schlang erst seine Arme, dann seine dunklen Flügel um mich und so standen wir einen Moment. Dann schob er mich zurück, hob mit einer Hand meinen Kopf, bis ich ihm in die Augen sah. Liebevoll küßte er mich und meinte dann leise: „Komm, alles ist vorbereitet, sie warten nur auf uns. Was gesagt werden muß, kann noch ein wenig warten und das muß ich mit meinem Bruder ausmachen. Du wurdest einfach überrollt, denke ich. Komm, meine schwarze Rose.“ Und nach einem weiteren Kuß zog er mich mit sich in die Halle. Die sich merklich geleert hatte. Wir gingen durch den Haupteingang und dort standen mehrere Busse mit verdunkelten Fenstern. Wir stiegen in das zweite Fahrzeug und sofort setzte sich der Konvoi in Bewegung. Vorsichtig sah ich mich in dem Halbdunkel um: Neben Gabriel waren in unserem Wagen noch Raphael, John, Nathaniel, Aaron und Serebro. Der Rest der Mitreisenden schien nur aus Mitgliedern der Nadiesda Thurus zu bestehen. Gabriel suchte sich einen Platz ziemlich weit vorne, erschreckend weit weg von unseren anderen Freunden. Eher zögerlich ging ich die Reihen entlang, Gabriel hatte mich nicht eingeladen, mich zu ihm zu setzen. John winkte mir zu und ich ließ mich seufzend auf dem Platz neben ihm nieder. John schüttelte den Kopf und meinte dann leise: „Das ist nicht gut. Zusammen sind sie eine unschlagbare Einheit aber im Moment… wie können die beiden sich so etwas antun, wie können sie überhaupt etwas voreinander verheimlichen?“ Ich schüttelte nur den Kopf. „Ich weiß nicht John. Ich hätte nicht gedacht, daß so etwas möglich ist aber ich verstehe auch nicht wirklich den Sinn. Wenn Phale so sehr dahinter steht, müßte er doch auch Gabriel davon überzeugen können. Und was ist mit Kolya? Er muß mitgespielt haben, hat er sich damit gegen seinen Kader gestellt, oder so?“ John schwieg eine Weile, dann meinte er: „Wenn ich das richtig mitbekommen habe, sind im Prinzip beide Söhne der Kader, nur hat Phale lange nicht auf dieses Recht gepocht. Vielleicht ist Kolya auch nur ein Opfer. Sozusagen.“ Wieder schwiegen wir eine Weile. Um uns herum waren leise Unterhaltungen im Gange, die Zeichnung der Festung machte die Runde und die Pläne wurden weiter diskutiert. Da ich ‚nur’ den Lockvogel spielen sollte, konnte ich diese Studien gut noch ein wenig aufschieben. „John, sag mal, habt ihr die Informationen über die Festung und die dort wartenden Leute von Magnus?“ Wenn ich an ihn dachte, lief mir fast sofort wieder eine Gänsehaut über den Rücken. „Nun, zum Teil ja, sozusagen die Eckpunkte, die Zeichnungen der Mönche stammen aus anderer Quelle. Übrigens scheint aus genau dieser Quelle auch Dezmont seine Informationen über die Geheimgänge in Sonho Noite bezogen zu haben. Du glaubst ja nicht, was in manchen alten Klöstern für Schätze lagern. Und es ist unglaublich hilfreich, daß Nathaniel diese Nachforschungen auch bei Tageslicht durchführen konnte.“ Schön, wenn endlich mal ein Rätsel gelöst wurde, statt daß immer nur neue dazu kamen. Doch ich war noch nicht durch mit Magnus. „Wieso hat er euch diese Informationen überhaupt gegeben? Ich glaube kaum, daß er auf einmal ein guter Mensch geworden ist.“ „Nein, ganz bestimmt nicht. Scuro Tejat und Charon haben ihn gemeinsam befragt, hin und wieder war auch Mikail dabei. Ich war auch mal eine Weile dabei, aber es wurden kaum Worte gewechselt, ich denke, dabei war ein großer Teil auf dieser ‚magischen’ Ebene, daß sie Bilder ausgetauscht haben. Aber natürlich hat Magnus nicht einfach so diese Informationen rausgegeben. Ich weiß nicht, ob ich dir das überhaupt erzählen sollte…“ er schwieg kurz. Dann „… ach Quatsch, natürlich, du kannst vermutlich besser damit zurecht kommen, als manch anderer. Sie haben einen Deal geschlossen. Magnus gibt ihnen alle Informationen, die sie von ihm wollen, dafür hat er von ihnen das Wasser der Wandlung verlangt.“ Da uns die Informationen zur Verfügung standen, mußten die zwei, nein drei, einverstanden gewesen sein. Ich prüfte kurz mein Herz, stellte dann fest, daß es mir nichts ausmachte, daß Magnus entweder schon tot war oder es sehr bald sein würde. Also nickte ich nur. „Seid ihr sicher, daß er die Wahrheit gesagt hat?“ Dieses Mal antwortete John fast sofort: „Erstaunlicherweise ‚ja’. Bedenke, daß die meisten Informationen nicht per Wort gewechselt wurden, die Kommunikation erfolgte über Bilder, die wohl irgendwo schwerer zu fälschen sind. Außerdem konnten einige der Angaben ja auch später noch bestätigt werden, zum Beispiel durch die Zeichnungen.“ Ich ließ mir das durch den Kopf gehen. Er hatte Recht, wie sollte ich eine Erinnerung oder ein spezielles Bild fälschen. Und Scuro Tejat war der ultimative Experte auf dem Gebiet. Schweigend saßen wir einige Zeit nebeneinander. Hinter uns sprach Raphael leise mit Serebro, vorne saß Gabriel alleine. Der Anblick tat mir weh, aber bevor ich noch aufstehen konnte, setzte John noch einmal an: „Sobald wir dort sind, mußt du dich unbedingt an Raphael halten. Er ist vorbereitet, kennt die örtlichen Gegebenheiten und ist kampferprobt. Dadurch, daß wir rechtzeitig haben durchsickern lassen, daß du aus unserem Haus verschwunden bist, sollte Dezmont schon auf dem Weg hierher sein. Allerdings kann auch er keine Wunder vollbringen, sprich, fliegen, daher ist es extrem unwahrscheinlich, daß er schon vor euch da ist. Ehrlich gesagt, ich kann es kaum erwarten, daß etwas passiert. Entschuldige, ich weiß, ist wahrscheinlich nicht so toll für dich, aber ich war Polizist, ich brauche endlich mal wieder was zu tun. So ein Adrenalinschub ist wie ein Jungbrunnen.“ Etwas verschämt grinste er mich an. Ich dachte an Liobá’s Idee, und lächelte zurück. „Hey, ich versteh dich doch. Ich bin auch aufgeregt. Und ich bin sicher, daß ihr das schon hinkriegt, ihr habt mein vollstes Vertrauen.“ Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter, dann drückte ich mich hoch und ging – nein, hangelte mich – durch den Gang nach vorne zu Gabriel. Ohne Worte setzte ich mich auf den freien Platz neben ihm und schaute ihn an. Nach einiger Zeit drehte er den Kopf zu mir. Durch die Dunkelheit im Bus waren seine Augen nur ein Schatten in der Schwärze. Er wirkte entspannt, lächelte aber nicht. Ich schaute ihn weiter an. Endlich hob er einen Arm, legte ihn über meine Schulter und zog mich an sich, bis mein Kopf an seiner Schulter ruhte. Etwas zufriedener schloß ich die Augen, ließ mich ein wenig von ihm einhüllen. Endlich sagte er leise: „Was ich vorhin schon sagte. Das ist etwas, das ich mit meinem Bruder irgendwann klären muß – aber nicht gerade jetzt. Ich gebe weder dir, noch Kolya in irgend einer Form Schuld an der jetzigen Situation. Ich kenne Phale gut genug um zu wissen, daß ihr beide keine Chance gegen ihn hattet. Wie gesagt, darum kümmere ich mich später, aber jetzt müssen wir uns auf die kommenden Ereignisse konzentrieren. Bei dem Plan gibt es einige Unsicherheiten und außerdem brauchen wir so etwas wie Glück. Und sollte alles funktionieren, wie diese Experten es sich gedacht haben, werde ich Dezmont mit Sicherheit nicht auf Abstand durch irgend jemandem von einer Silberkugel töten lassen. Ich will ihm Auge in Auge gegenüberstehen, ich will Antworten und ihn dann in einem Kampf Mann gegen Mann besiegen. Das habe ich mir bei deiner Unterhaltung mit Charon in Nathaniels Haus vorgenommen und dann an Kolyas sterbendem Körper geschworen. Und ich habe die feste Absicht, diesen Schwur zu halten. Also muß ich sowohl meinen Geist als auch meinen Körper auf diese Herausforderung vorbereiten. Deshalb bin ich so still.“ Noch immer lehnte mein Kopf an seiner Schulter. Er hatte weder lauter gesprochen, noch besonders viel Nachdruck in seine Worte gelegt, nur eine Tatsache festgestellt. Und anstatt entsetzt zu sein, konnte ich ihn verstehen. Auch ich wollte, daß es irgendwann wirklich zu Ende war. Und wenn das zu seinem Seelenfrieden notwendig war, oder er dem Weißen Drachen so eine gerechte Chance einräumte, dann war es mir auch recht. Solange er nicht unterlag. Aber das brauchte ich wohl kaum zu erwähnen. Ich drehte mich etwas, bis ich seine Lippen erreichen konnte. Sanft küßte ich ihn und meinte dann: „Ich werde nach hinten gehen und mir noch etwas über die Details erzählen lassen.“ Einen Moment erwiderte er den Kuß und als wir uns trennten, lächelte er endlich wieder – ein ganz klein wenig. Ich ließ ihn alleine und kehrte zu dem freien Platz neben John zurück. Eine Zeit fuhren wir schweigend. Die Fahrt ging über unbefestigte Straßen, teilweise war selbst diese Bezeichnung noch zu hochtrabend. Wir mußten einiges an Steigungen überwinden und die Fahrer waren nicht zimperlich, sie gaben eindeutig mehr Gas, als ich mich je getraut hätte, fast, als wären nicht nur ein paar der Fahrgäste durch einen Unfall nicht gefährdet. Manchmal wurden wir so durchgeschüttelt, es schien mir ein Wunder, daß wir noch keinen Achsbruch erlitten hatten. In Ermangelung eines Griffes krallte ich mich mehrfach an Johns Arm fest. Trotz der wachsenden Anspannung grinste er tröstend zu mir rüber. Nathaniel war aufgestanden und schwankte mehr oder weniger sicher zu uns, hielt sich krampfhaft an den verschiedenen Stangen des Busses, bis er fast über meine Beine stürzte. „Sollten wir wider Erwarten lebendig an unserem Ziel ankommen, werde ich bestimmt Stunden brauchen, um meine Knochen wieder an ihre angestammten Plätze zu bekommen. Entschuldigung…“ damit hockte er sich vor unseren Platz, nicht ohne vorher einmal kräftig auf meinen Fuß zu treten. Er fragte: „Alles klar bei euch?“ John nickte. „Für uns gibt’s ja nicht mehr viel zu besprechen oder vorzubereiten. Wir sehen zu, daß wir in Position kommen, hinter LaVerne und Raphael, ruhig auffällig und sobald wir wissen, ob Dezmont da ist, bleiben wir entweder vor dem Friedhof oder ziehen vor, bis er eingetroffen ist. Fertig.“ Nathaniel grinste und schüttelte leicht den Kopf: „Ach John, da kommt der Polizist in dir durch. Einfach mal hinfahren, gucken und dann handeln. Du hast ja recht, aber ich glaube, viele sehen das nicht ganz so lässig. Und du, Lumina, wie schaut’s bei dir aus?“ Ich wartete, bis ich den nächsten Stoß überstanden hatte und mein Gehirn wieder aufhörte zu vibrieren: „Ich weiß nicht. Es ging alles auf einmal so irre schnell, ich hatte überhaupt gar keine Gelegenheit, darüber nachzudenken. Und hier kann ich das auch nicht. Aber ich hab ja schon gesagt, wenn du, Charon, Kolya und John das vorbereitet habt, dann fühle ich mich sicher, ich würde jedem von euch blind vertrauen. Ich werde also einfach tun, was man mir sagt und ansonsten mit Johns Worten antworten: Einfach abwarten, wie es sich entwickelt und entsprechend handeln. Fertig.“ In Ermangelung eines Griffes hielt Nathaniel sich bei dem nächsten Schlagloch an meinem Bein fest. „Fertig? Na, wenn du das so siehst. Aber andererseits ist die Planung einfach doch effektiv, wenn wir ein ganz klein wenig Glück haben. Und minimal gefährlich für dich. Aber du weißt ja selber, das Leben ist nie völlig gefahrlos. Wird Gabriel ok sein?“ Ich schaute zu meinem Raben, der sich vorne nicht weiter bewegt hatte. „Ja, wird er. Er scheint sich zu sammeln oder zu konzentrieren. Er ist sicher verärgert über Raphaels Eigenmächtigkeit, aber er schiebt es erst mal von sich weg. Und er hat gesagt, daß er den Weißen Drachen zu einem Kampf herausfordern wird.“ Einen Moment schwiegen wir alle. Dann meinte John: „Das haben wir bei unseren Planungen auch schon angesprochen. Niemand von uns hat das Recht, ihm dieses Ansinnen zu verweigern, wir verstehen ihn, obwohl allgemein die Meinung herrschte, daß Dezmont so viel äh ‚Ehre’ nicht verdient hat und Gabriel sich nicht in Gefahr bringen sollte. Also wird Gabriel sich wohl durchsetzen, steht zu befürchten, ich wüßte nicht, wer ihm das ausreden könnte.“ Darauf sagte ich nichts, was gab es schon für eine Antwort darauf. Nach einigen weiteren Schlaglöchern zog ich mich mit einer Hand an einer Stange hoch, stützte mich mühselig auf Nathaniel. „Ich gehe jetzt mal zu Raphael. Vielleicht hat der ja doch ein paar Anweisungen für mich. Setzt dich, Nathaniel, bevor du dir noch ein Loch im Kopf oder nen gebrochenen Arm zulegst.“ Wir kletterten übereinander und ich hangelte mich zu Raphael, der mit Serebro weiter hinten saß. Letzterer griff nach mir, als ich fast beim nächsten Hopser des Busses auf seinem Schoß landete. „Entschuldigung! Ich wollte kurz mal mit Phale reden, wenn ich euch nicht störe.“ Serebro nickte freundlich. Er war auch einer von der großen, muskulösen Sorte, braune, sehr dünne Haare und ‚nur’ bis knapp über die Schultern. Und sehr freundliche braune Augen, die intelligent aus einem Gesicht mit leicht slawischen Zügen schauten. „Kein Problem, Lumina. Ich hol mal die Sachen von hinten und verteile sie im Bus. Ich schätze mal, wir sind in gut einer Stunde da, die letzten Kilometer geht’s dann weniger gemütlich vorwärts.“ Sein Grinsen ließ ahnen, daß er das Wort ‚gemütlich’ nicht unbedingt wörtlich meinte. Wir kletterten aneinander vorbei und ich ließ mich neben Phale nieder. Dieses Mal begann er die Unterhaltung: „Wir werden miteinander reden, bevor wir uns unten am Berg trennen.“ Ich sah ihn an und nickte: „Das klingt vernünftig. Willst du mir sagen, warum du nicht vorher mit ihm gesprochen hast?“ Er schaute mich einen Moment mit einem ganz leichten Lächeln an, ein Spiegelbild meines dunklen Gefährten. „Das könnte ich tun,“ meinte er dann „aber einerseits sollte doch jeder ein paar Geheimnisse haben und andererseits würdest du vielleicht nicht alle Gründe verstehen. Was kann ich also anbieten? Nun, ich ersticke Widerspruch im Keim, ich zeige allen, wie ich zu dir stehe, ich handle wie ein Kader zu handeln hat, ich würde alles für dich und meinen Bruder tun, ich mag Überraschungen. Das sollte erst mal als Begründung reichen. Gabriel und ich werden jederzeit bei Bedarf eine Einheit sein, mach dir also keine Sorgen.“ Mein Gehirn arbeitete noch immer an seinen diversen Begründungen. Und so oft, wie man mir jetzt sagte, ich solle mir keine Sorgen machen, mußte ich vermuten, daß das jeder außer mir tat. Aber deshalb war ich jetzt gar nicht hier. Was ich wollte: „Wie geht es weiter, wenn der Bus – oder die Busse – anhalten? Wir gehen den Rest zu Fuß, richtig?“ Hinter mir gab es Bewegung: Serebro hatte eine große Tasche von der Rückbank geholt und begonnen, einen Stapel Einwegspritzen auszupacken…? „Ja, genau. Rund drei Stunden vor Sonnenaufgang sind wir am Fuß unseres Zielberges. Ich werde, wie Magnus, komplett in Schwarz und mit Maske reisen, du wirst deine normale Kleidung tragen. Wir haben Magnus Rucksack dabei, natürlich soweit wie möglich mit dem Originalinhalt. Und ich fürchte, bevor wir in Sichtweite geraten, werden wir dich auch mit dem Seil ein wenig amateurhaft festbinden müssen. Man weiß nie, wer so zuschaut. Äh, hallo?“ Ich hatte wirklich nur mit einem Ohr zugehört. Fasziniert beobachtete ich Serebro. Aus der Tasche förderte er nun einige kleine Flakons zutage, zwei davon sahen bekannt aus… woher kannte ich die nur… und dann fiel es mir ein: Bei der großen Versteigerung hatte Gabriel diese Phiolen erworben. Sehr teuer und laut seinen Worten sehr wertvoll. Allerdings hatte er nie gesagt, was sie enthielten. Nur hatte Serebro wesentlich mehr von diesen – oder sehr ähnlichen – Behältnissen bei sich. Sehr vorsichtig handhabte er sie, immer die schlimmsten Schlaglöcher abwartend. „Entschuldige Phale. Ich habe zugehört, klar, wenn das mit dem Seil sein muß. Aber sag mal, was macht er da? Ich hab zwei von diesen Fläschchen schon mal gesehen, sie waren sehr teuer. Und die Spritzen? Was ist hier los?“ Irgendwie waren diese Vorbereitungen wesentlich besorgniserregender, als die ganzen Planungen, die ich gehört hatte. Phale drehte sich, bis er Serebro bei seinen geheimnisvollen Aktivitäten richtig sehen konnte. „Ach, das, ja. Da es dich nicht wirklich betrifft, hat vermutlich keiner davon erzählt. ‚Tenebrae’! Kennst du das Wort? Lateinisch!“ Ich überlegte angestrengt. Verflixt lange her. „Nicht mehr wirklich. Hab ich sicher mal gewußt. Was ist das und was hat er damit vor?“ Phale hob beschwichtigend die Hände. „Langsam, keine Aufregung. Tenebrae heißt ‚Dunkelheit’. Und genau das macht es auch. Es ist ein sehr teurer, sehr seltener Wirkstoff, ähnlich wie das Mittel, das uns das Wandeln im Licht für kurze Zeit ermöglicht. Aber eigentlich noch wesentlich seltener benötigt. Ich erklär dir das Problem. Unsere Verfolger – sprich John und Serebro – sollen uns relativ offen folgen, sie sollten durchaus von den Beobachtern auf der Burg gesehen werden. Jetzt ist es aber so, die Aura ist von weitem zu sehen, mit einem guten Fernglas und speziell im Dunkeln wird sofort deutlich werden, daß nur drei bis vier Leute eine dunkle Aura haben. Die restlichen Verfolger, ja alles Leute der Nadiesda Thurus, haben die weiße Aura, die noch deutlicher zu sehen sein wird. Das geht aber nicht. Die Verfolger sollen möglichst alle aus der Oscuro stammen, damit die Geschichte stimmig ist. Immerhin spielen wir ja eine spontane Suche und Verfolgung. Also wird Tenebrae an viele der Helfer verteilt, es kann für ungefähr zwei Tage die Aura verändern. Bei jedem Menschen ist die Dauer unterschiedlich, daher warten wir so lange wie möglich, bis wir das Mittel spritzen. Es hat keinerlei andere Wirkung, nur die weiße Aura wird zu einer schwarzen. Und, wie gesagt, es ist teuer und selten, wir haben alle Hebel in Bewegung gesetzt, um genug für alle aufzutreiben.” Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht. Wie auch. Es gab so viel, was ich noch nicht wußte, was aber vielleicht auch nicht unbedingt immer wichtig war. Wieder was gelernt, ein neues Stück im Puzzle meines Lebens. Ich lächelte und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf Phale. “Ich finde es interessant, daß es scheinbar für jede Eventualität eine Lösung oder zumindest einen vorherbestimmten Weg gibt. Ein Dolch, der gerade rechtzeitig auftaucht, ein Ring, der bestimmte Eigenschaften verstärkt, eine Chemikalie, für einen bestimmten Zweck, ein Entführer, der zu gierig ist, um nur ein paar zu nennen.“ Phale sah mich an, schwieg und sein Blick schien irgendwo in mir ein klein wenig Eis zu erzeugen, als er sehr leise meinte: „Und eine Prophezeiung, die sich Wort für Wort erfüllt und der wir gehorsam folgen. Eine Entscheidung des Imprecatio Curor, die am Ende gar keine Wahl hatten, ein Deliberatio Aetas, der auf geheimnisvolle Weise auseinander fällt, eine Frau, mit der Aura des Lichts, dem Blut der Oscuro, die in der Sonne wandelt, um auch nur ein paar zu nennen.“ Jetzt hatte ich wirklich eine Gänsehaut. Meine Ruhe und die neugierige Gelassenheit der letzten Stunden verdampfte in einem Feuer, tief in meinem Herzen, diesem Höllenfeuer, von dem ich am Anfang gedacht hatte, es würde Gabriel und mich verschlingen. Es war nicht vereinbart gewesen, daß es vielleicht lodernd außer Kontrolle geriet. Phale’s Hand zog mich von diesem Abgrund zurück. Sanft strich er mir über die Wange, hob dann mein Kinn, bis ich ihn ansah: „Laß das, Lumina. Such bei dir keine Schuld, die du nicht auf dich geladen hast, damit sind wir doch durch. Die Dinge um uns entziehen sich – von jeher und zum Glück – unserer Beeinflussung. Wir können die Zeichen sehen, vielleicht deuten, wenn wir gut sind, dem Weg folgen aber wir können nichts, gar nichts tun, wenn das Schicksal etwas anderes im Sinn hat. Das gilt genauso für uns, wie auch für dich oder auch den weißen Drachen. Also vergiß es, es gibt wichtigere Dinge, um die wir uns kümmern müssen, Dinge, die wir beeinflussen können.“ Doch ich war noch nicht ganz fertig mit dem Thema. „Aber wenn ich das so nehme, wie du das sagst, ist es völlig egal, was wir tun, wie wir es tun, oder gar warum. Es läuft darauf hinaus, daß jetzt schon fest steht, wie die Geschichte ausgeht. Wir können das Schicksal nicht beeinflussen, also ist es egal, was wir tun. Warum machen wir uns dann noch solche Mühen mit einem Plan, Vorbereitungen, Täuschungen.“ „Nun, zum Einen: Weißt du denn, was das Schicksal für diese Unternehmung beschlossen hat? Sollen wir siegen oder untergehen? Und was noch wichtiger ist: wo genau ist der Wendepunkt zwischen unserem Ziel und dem, des Weißen Drachen? Weißt du, was ich meine? Schicksal sagt nur, daß passiert, was passieren soll, nicht, daß es vorher fest steht. Haben wir gewonnen, in dem Moment, wo wir in die Kirche eintreten? Wird das Schicksal uns erst begünstigen, wenn Dezmont die Burg betritt? Oder wenn Kolya den Gang verschließt? Oder reicht es, wenn wir am Fuß des Berges warten? Oder hat Dezmont eine Überraschung, die dem Schicksal gefällt und uns schadet? Ich kenne die Antworten nicht, bin aber bereit alles zu tun, um die Waage in unsere Richtung zu beeinflussen.“ Das war genug. Ich grinste, nickte und griff nach seiner Hand: „Schon recht. Ist ja gut. Ich gebe Ruhe, folge dem Weg, den ich als richtig empfinde und verlasse mich ansonsten auf meine Freunde. Also, muß ich noch etwas wissen?“ Der Bus war merklich langsamer geworden, die Schlaglöcher waren nicht mehr so schlimm zu spüren und die ersten schienen sich bereit zu machen. „Nein, nicht wirklich. Du bist der Lockvogel. Wir sondieren, lassen die anderen wissen, wie es in der Burg aussieht. Wenn wir Glück haben, können wir unten in der Kapelle auf die anderen warten. Ansonsten geht’s in die Burg, klären, ob der Drache auf dem Weg ist. Und wenn wir erkannt werden, müssen wir eventuell die Wachen ausschalten, genauer gesagt, ist das meine Aufgabe. Das ist aber nur der schlimmste anzunehmende Fall. Du hältst dich einfach zurück und spielst hilflos.“ Sein Blick war entspannt und er grinste mich an. Und damit stoppt der Bus. Also blieb eigentlich nur, brav zu folgen und zu hoffen, daß das Schicksal auf unserer Seite war. Einer nach dem anderen verließen die Leute den Bus, es herrschte eine gespannte Ruhe. Wir fanden uns auf einer Lichtung, ein zunehmender Mond war die ganze Beleuchtung und wirklich strahlte die helle Aura der Männer deutlich durch die Nacht. Serebro hatte die Tasche vor sich auf den Boden gestellt und verteilte jetzt die befüllten Einwegspritzen unter den Freiwilligen. Vorsichtig machten wir alle einige Schritte, um die Knochen wieder neu zu sortieren. Aus dem vorderen Bus trafen weitere Männer der Nadiesda Thurus ein, und auch Charon und Arpad tauchten in der Menge auf. Der Erstere trat auf mich zu und zog mich zur Seite. „Wir müssen in der Lage sein, miteinander zu reden. Ich werde Raphael gar nicht erst mit dem Mikrofon belasten, das ist deine Aufgabe. Ich habe ebenfalls ein Gerät, ebenso John und Thorben.“ Er reichte mir einen kleinen Ohrstöpsel, ähnlich wie ein Kopfhörer, den man ins Ohr steckt, nur ohne Kabel. „Damit kannst du hören, was wir sagen. Es funktioniert in alle Richtungen, also kannst du sowohl John als auch Thorben und mich gleichzeitig hören, könnte eventuell etwas irritierend sein, aber wir hatten kaum Zeit, die vorhandenen Sachen an unsere Bedürfnisse anzupassen. Es ist relativ leise eingestellt, damit niemand sonst es hören kann und es dich nicht stört. Und jetzt zum Mikrofon. Da habe ich mir für dich was Nettes ausgedacht.“ Er griff in seine Tasche und zog eine kurze goldene Kette heraus. Nur der Anhänger war sehr ungewöhnlich. Eine einfache grüne Platine mit vielen goldenen hauchdünnen Fäden, die darauf befestigt waren, sich um die Platte schwangen und sich kreuzten. Sie endeten teilweise auf der Platine, teilweise dahinter. Als er mir die Kette umlegte und in meinem Nacken schloß, lag seine Wange kurz an meiner. „Ein Schmuckstück und doch genau das, wonach es aussieht, ein elegantes Stück Technik. Es wird automatisch senden, wenn du sprichst.“ Liebevoll hauchte er mir einen Kuß auf, trat dann zurück und betrachtete sein Werk zufrieden. „Wir machen gleich einen Test. Und jetzt wünsche ich dir viel Glück, Lumina.“ Er reichte mir wortlos ein kleines Klappmesser und ich steckte es ebenso wortlos in die Hosentasche. Noch einmal zog er mich kurz an sich, ich spürte förmlich, wie seine Kraft wieder zu meiner wurde. Ein letzter Kuß und dann war er in der Menge der Männer verschwunden, die nach und nach eine dunkle Aura annahmen. Faszinierend. Kurzzeitig völlig allein gelassen sah ich mich suchend nach Gabriel oder Raphael um. Und ich sah sie beide, sie standen sich gegenüber, hielten jeweils den anderen an den Handgelenken und standen mit gesenkten Köpfen voreinander, Stirn an Stirn. Sie schienen keine Worte zu wechseln aber es war nichts Bedrohliches oder Distanziertes an dieser Haltung. Während ich noch da stand und ihnen zusah, hörte ich Charon – wirklich leise – in meinem Ohr: „Charon an John: ‚Kannst du mich hören?’“ Und nach kurzer Zeit kam die Antwort ebenfalls direkt in mein Ohr: „John an den Rest der Zuhörer: ‚Ich höre gut. Verständigung perfekt’.“ Dann folgte eine weitere Stimme: „Hier Thorben, Verständigung gut, ich höre auch alle.“ Also sprach ich, aus meinem Standpunkt mit mir selber: „Hier LaVerne: Ich höre euch alle gut.“ Und prompt kam die Antwort: „Charon an Lumina: ‚Sprich etwas leiser, das Mikrofon liegt direkt auf deinen Stimmbändern, du kommst sehr laut hier an. Ansonsten Verständigung gut.’“ Das war mir nur recht, es kam mir albern vor, mit der Luft vor mir zu sprechen. Die Vorbereitungen waren abgeschlossen, Raphael und Gabriel kamen gemeinsam zu mir, der Erstere komplett in Schwarz gekleidet, die Maske in der einen Hand, den Rucksack unseres Entführers in der anderen Hand. Gabriel trat auf mich zu, nahm mich wortlos in den Arm und flüsterte direkt in mein Ohr: „Viel Glück, meine schwarze Rose. Das nächste Mal, wenn wir uns sehen, wird der Drache in unserer Gewalt sein. Ich habe keinerlei Zweifel daran. Phale wird dich beschützen und ich bin überzeugt, daß noch andere Mächte mit dir, aber auch mit uns sein werden. Komm gesund zu mir zurück, ich liebe dich.“ Ich mußte einen kleinen Kloß runter schlucken. Es fiel ihm bestimmt nicht leicht, mich jetzt mit seinem Bruder weg zu schicken. Ich verdrängte jegliche Gedanken an einen Mißerfolg, flüsterte „Ich will dich so wiederhaben, wie du jetzt bist, das ist ein Befehl. Bis bald, mein Rabe, und ich liebe dich auch.“ Mehr war nicht zu sagen. Ein kurzer Kuß, dann drehte er sich um und ging zu den in einiger Entfernung wartenden Männer. John winkte mir leicht zu, lächelte und zeigte den erhobenen Daumen. Ich schickte die Geste zurück und dann zog Raphael mich weg, in den Wald auf einen Weg, den ich nicht erkennen konnte. Einige Zeit gingen wir schweigend hintereinander her. Hin und wieder drangen kurze Sätze oder Anweisungen aus meinem kleinen Kopfhörer, der einzige Beweis, daß wir nicht völlig allein in diesem dunklen, fremden Wald waren. Es ging stetig bergauf, manchmal lagen größere Felsen im Weg, die wir umrunden mußten, manchmal ging es quer rüber, zum Glück war der Wald am Boden nicht zu stark von Unterholz blockiert, so kamen wir recht gut voran. Mir war schleierhaft, wie Phale die Richtung einhalten konnte, der Blick nach oben war viel zu oft blockiert, bis ich sah, daß er das GPS von Magnus in der Hand hielt. Ich hoffte nur, daß auch unsere ‚Verfolger’ einen Weg durch diesen Irrgarten fanden. Der Weg wurde beschwerlicher, je weiter wir nach oben gelangten, das Zeitgefühl schwand mit dem Fehlen von optischen Anhaltspunkten. An einem steilen Stück hielt Raphael an, reichte mir die Hand und zog mich hoch. Leise meinte er: „Es ist nicht mehr allzu weit. Ich kann in der Ferne ein Licht sehen, vermutlich von einem der Türme der Burg. Wir werden jetzt das Seil verwenden. Ich binde es dir um die Handgelenke, aber so, daß du es jederzeit lösen kannst. So können wir uns gleichzeitig etwas auf dem letzten Stück sichern.“ Damit setze er den Rucksack ab, angelte nach einem hellen Hanfseil – ähnlich dem, das Magnus bei sich gehabt hatte – und schlang es mir locker um ein Handgelenk und dann in einigem Abstand auch um das andere. So konnte ich noch mit beiden Händen klettern aber mich bei Bedarf auch jederzeit festhalten. Dann ging es weiter, die Bäume wurden weniger, die Felsen mehr, ebenso meine Nervosität und eine gespannte Erwartung. Und endlich konnte ich es auch sehen, ein schwaches Flackern und nachdem ich es entdeckt hatte, auch die Umrisse einer alten Burganlage gegen den dunklen Himmel. Wir waren bestimmt schon mehr als eine Stunde unterwegs und die mangelnde Übung machte sich langsam bei mir bemerkbar. Dann hörte ich eine Stimme in meinem Ohr: „Thorben an alle: wir haben den Eingang zu der Höhle gefunden, die in die Burg führt. Wir haben uns jetzt unterhalb des Aufganges postiert, hier ist niemand und wir sind sicher auch nicht gesehen worden.“ Leise gab ich die Information an Raphael weiter. Er hielt kurz an, lehnte sich gegen einen der Felsen und meinte leise: „Gib weiter, daß vermutlich drei Leute in der Burg sind, genauer, eine Person ist außerhalb der Mauern und zwei sind drinnen, vielleicht noch mehr.“ Ich hatte keine Ahnung, wie er das wissen konnte, übermittelte die Botschaft aber gehorsam und sehr leise. Von Charon kam eine kurze Bestätigung. Bevor ich aber noch nachfragen konnte, wie Phale sich dieses Wissen wohl angeeignet haben könnte, zog er mich weiter mit dem überraschend laut geflüsterten Kommentar: „Nun komm schon, LaVerne, bald sind wir da, dann kannst du lange ausruhen.“ Ich stockte einen Moment, dann kam mir der Gedanke, daß wir vielleicht gehört werden konnten, wenn schon jemand außerhalb der Burg war. Also stöhnte ich einmal gehorsam und ließ mich von ihm weiter ziehen. Ein Aufpasser außerhalb der Anlage war in der Planung nicht erwähnt worden. Also improvisierte er vermutlich. Die Show ging wohl los. Seine Bewegungen wirkten auf einmal nachdrücklicher, er zog mich öfter, als daß er mir über Steigungen half, er machte leise Kommentare wie ‚Los’ oder ‚nun komm’. Also war wohl wirklich jemand in unserer Nähe. Und dann stand er plötzlich vor uns. Phale hatte ihn wohl schon länger bemerkt aber ich war so erschrocken, daß ich wie erstarrt stehen blieb und die Luft anhielt. Gezwungenermaßen mußte auch Raphael anhalten. Unwillig knurrte er: „Was soll das.“ „Bist du Magnus?“ Hatten wir vorhin von Glück gesprochen? Der Typ vor uns war nicht nur dumm, er zeigte es auch noch. Wie konnte man jemanden, den man nicht kannte, mit einem Namen anreden, von jemandem, den man erwartete. Glück, daß er Magnus nicht kannte, dumm, daß er es im ersten Satz kund tat. Dumm für ihn. Gut für uns und Phale sprang drauf an: „Wer wohl sonst, du Idiot. Laufen hier viele mit einer gefesselten Frau rum, mit einer hellen Aura. Und du bist unauffällig wie ein Elefant. Ich hab dich kilometerweit gesehen.“ Das war wohl die übliche Art der Kommunikation in diesem Zirkel. Der Mann vor uns sackte förmlich in sich zusammen. „Oh, ich hatte nicht den Befehl, mich zu verstecken. Ich sollte nur Ausschau halten. Der Kader wird heute abend ankommen, solange kannst du in der Burg warten, zwei Leute halten da die Stellung, es gibt Essen und Wein. Oh, und du hast es bestimmt noch nicht gehört, der weiße Drache bringt noch ne Überraschung mit.“ Damit warf er mir einen eindeutig unangenehmen Blick zu, der mich etwas zurückzucken ließ. Aber Phale ließ sich nicht irritieren: „Nein, hab ich natürlich nicht, wie denn, du Idiot. Entweder du erzählst es mir, oder ich find es gleich selbst raus, aber ich hab jetzt genug, ich will sie nur noch abliefern und einen ordentlichen Wein.“ Der Typ nickte und trat etwas näher an meinen vermummten ‚Entführer’ und flüsterte mit einer plumpen Vertraulichkeit: „Nun, er bringt Seraphina mit. Sie ist ihm sozusagen vor ein paar Tagen in die Arme gelaufen. Ist das nicht nett?“ Wenn Raphael erschrocken war, zeigte er es in keinster Form: „Das ist doch mal eine hübsche Überraschung. Trotzdem, ich will weiter, mir reicht’s.“ Der Fremde zog sich enttäuscht über die geringe Reaktion etwas zurück. „Klar, geht nur, ich bleib noch etwas hier. Wenn ich was sehe, geb ich Bescheid.“ Damit zog mich Phale weiter in Richtung Burg. Die Steigung lag hinter uns und der Weg zu dem Friedhof und der Kapelle war relativ eben. Unauffällig zog er mich etwas näher und als wir sicher außer Hörweite waren meinte er leise: „Sag sofort Bescheid. Der Drache ist noch nicht hier, eine Wache außen, zwei drinnen, und Seraphina als seine Geisel kommt mit ihm. Frag nach Anweisungen oder Änderungen.“ Ich tat wie befohlen. Wir reduzierten das Tempo, genauer, ich tat, als ob ich stolperte und erschöpft auf die Knie sank. Doch die Antwort ließ auf sich warten und es war nicht mehr weit, ich konnte den Durchgang zwischen Kapelle und Friedhof schon sehen. Thorben gab als erster seinen Kommentar ab: „Keine Änderungen, finde ich. Laßt ihn in die Burg, wir können danach noch immer verhandeln, falls nötig. Aber ich denke, Seraphina wäre nicht einverstanden, wenn wir ihr Wohl über das der anderen Zirkel stellen würden, das ist nicht die Idee des Deliberatio Aetas.“ Die nächste Stimme erkannte ich, John meinte: „Ich weiß nicht, sie ist für ihn in der kommenden Situation ein prima Druckmittel. Und im Gegensatz zu uns, braucht Dezmont sich nicht mit moralischen Überlegungen oder Rücksichtnahmen zu beschäftigen. Wäre es nicht vielleicht besser, sie möglichst bei seiner Ankunft versuchen zu befreien?“ Langsam zog mich Raphael vom Boden hoch, während ich ihm leise die Unterhaltungen weitergab. Charon hatte sich noch nicht gemeldet. Phale meinte: „Ich plädiere für weiter machen wie bisher, in die Burg gehen, eventuell die Wächter ausschalten. Wir können die Pläne nicht mehr groß ändern, wenn Kolya zugreifen kann, soll er, aber wir dürfen die Falle nicht gefährden.“ Ich gab gehorsam seine Meinung weiter und wartete auf Charons Meldung, während wir die ersten Schritte auf den Steinweg machten. Links von uns ragte die Kirche, eigentlich eher eine große Kapelle, auf, rechts waren schwach die alten Grabsteine zu erkennen, durch einen schmiedeeisernen Zaun vom Weg abgeteilt. „Charon?“ Ich sprach es leise, aber ungeduldig. „Moment…“ Ich hörte kurz nur ein leises Murmeln in meinem Ohr, dann: „Ok, ja. Entschuldigung. Lumina? Macht weiter, geht in die Burg, improvisiert mit den Männern dort. Zieht euch rechtzeitig bevor Dezmont kommt zurück. Unternehmt nichts zu Seraphinas Befreiung. Klar?“ Ich übermittelte die Anweisungen und bestätigte. Phale nickte nur, zog mich hoch und damit traten wir von dem Weg in den Burghof. SabotageSometimes you feel lonely, though you‘re not alone Sometimes you feel immobile, though you really roam Sometimes you feel cold, though fire heats your place Sometimes you show honour, though you feel disgrace Wenn man uns gesehen hatte oder informiert worden war, so gab es keine Reaktion. Wir gingen auf die große Treppe zu, die vor einer geschlossenen Doppeltür endete. Vorsichtig schob Phale sie auf und wir gelangten in eine dunkle Empfangshalle, mit steinernen Säulen, einer großen Freitreppe voraus und Gängen links und rechts. Noch immer war niemand aufgetaucht. Verwundert schüttelte mein Führer den Kopf, durch die Maske war er nicht zu erkennen und einen ganz kurzen Moment stellte ich mir vor, wie ich mich wohl gefühlt hätte, wenn Magnus mich hierher gebracht hätte… Ich schauderte, schob den Gedanken fort und folgte Phale, der nach kurzer Überlegung die Treppe in den ersten Stock hinauf stieg und sich links hielt. Er hatte richtig getippt, unter einer der Türen schimmerte ein schwacher Lichtschein. Hier war es kalt, zugig und das ganze Bauwerk wirkte abweisend und unbewohnt. Leise gingen wir auf die Tür zu, Phale griff in die Tasche seines dunklen Mantels, mit der anderen Hand zog er mich etwas näher. Er hauchte leise: „Bleib hinter mir, jetzt wird es spannend, wenn sie Magnus kennen, muß ich schnell handeln. Ok?“ Ich nickte nur, griff kurz nach seiner Hand mit dem Seil und dann zog ich mich hinter ihn zurück. Er atmete durch und dann stieß er die Tür mit einem einzigen Schwung weit auf. Es war nicht hell, aber nach der Dunkelheit der letzten Zeit mußte ich die Augen etwas zusammenkneifen. Ein großer Raum fand sich vor uns, gerade gegenüber eine geöffnete Tür mit Zugang auf einen Balkon, vermutlich hatten wir von hier das Licht gesehen. Rechts stand ein großer Steintisch, daran mehrere Stühle, zwei davon belegt. Daran zwei Männer, einer mit dunkler, einer mit heller Aura, zwischen ihnen auf dem Tisch mehrere Flaschen von denen die meisten leer waren. Aber das waren keine Weinflaschen, offensichtlich ein härteres Getränk, der jüngere Mann, mit der hellen Aura, schaute nur langsam auf, versuchte mühsam, seinen Blick auf uns zu halten. Auch der ältere Mann stand nur sehr gemächlich auf, eine Waffe war bei ihm nicht zu erkennen und er stellte in aller Ruhe das Glas zurück, aus dem er gerade getrunken hatte. Beide schienen nicht unbedingt von unserem Auftauchen überrascht. Der Raum war von verschiedenen Kerzen erleuchtet und einem großen Kamin an der linken Wand, der fast die ganze Breitseite des Raumes einnahm. Den Rest der Wand füllte ein schäbiges Bettgestell aus. Endlich kam der Mann mit der schwarzen Aura auf uns zu, schaute interessiert an Phale vorbei auf mich und begann fies zu grinsen. „Aha, du wirst dann wohl Magnus sein, wir wurden informiert, daß du dem Drachen sein Geschenk mitbringst. Das ist sie?“ Phale nahm langsam die Hand aus der Tasche. Er sah den Mann vor sich an und meinte dann in einem Ton, der mich an unterdrückte Wut erinnerte: „Allerdings. Und wenn unsere Verfolger näher wären, wären wir jetzt vielleicht alle tot. Ein Trampel, der draußen schon von weitem auffällt, ein Betrunkener und niemand, der Ausschau hält oder mir den Rücken frei hält.“ Auch dieser Mann zuckte von den Worten etwas zurück, reagierte aber für die Situation angemessen: „Komm wieder runter, Mann. Wir hatten jederzeit jetzt mit euch gerechnet, morgen ist eh Dezmont da und so schnell finden die euch nicht. Trink was, entspann dich, wir sind hier sicher. Du kannst die Frau in einen der unteren Räume sperren, die sind vergittert.“ „Ich weiß nicht, wie nah die Verfolger sind, wenn wir Pech haben, kommen sie noch vor Einbruch der Dämmerung. Zeig mir, wo ich die Frau unterbringen kann, und dann will ich sehen, was für die Verteidigung vorbereitet ist.“ Der Mann wurde merklich ruhiger, drehte sich zu dem jungen Mann um, der noch immer mit unsicherem Blick zu uns rüber sah. „Otis kann sie runterbringen, wir gehen auf die vordere Balustrade, du wirst staunen, was wir schon an Sachen hier hochgebracht haben, ich freu mich schon drauf, die mal an ein paar von den Weicheiern auszuprobieren.“ Phale nahm den Rucksack ab und schaute den Otis genannten an. „Ich bin nicht bis hierher gekommen, um sie dann einem Betrunkenen zu übergeben, der seine eigene Nase nicht mehr erkennen kann. Wir gehen zusammen, dein Bürschchen kann meinetwegen Ausschau halten, ob meine Verfolger schon auftauchen. Erst wenn ich mich selber überzeugt habe, daß sie sicher untergebracht ist, gehen wir die Verteidigung durch. Geh vor.“ Und damit schob er den Mann ohne weitere Diskussion in Richtung Tür. Otis machte keinerlei Anstalten, die Anweisung des Ausschau haltens auszuführen, griff statt dessen erneut nach einer der Flaschen. Der Ältere schien sich nichts dabei zu denken, grummelte leise und ging dann voraus, die Treppe wieder runter und dann nach rechts, auf eine weitere Tür zu. Unser Führer schloß sie auf und wir gelangten in ein kleineres Zimmer, ohne Fenster und mit einer ähnlichen Balkontür wie im Obergeschoß. Auch hier standen ein Tisch, mehrere Stühle und neben dem unbenutzten Kamin ein uraltes hölzernes Himmelbett. Dunkel, kalt und recht ungemütlich war es hier. Phale ging mit mir im Schlepptau zu der gegenüberliegenden Tür. Er rüttelte, aber sie bewegte sich nicht. Der Typ hinter uns meinte nur: „Ist abgeschlossen und ich sag ja, vergittert.“ Phale nickte, schob mich dann etwas unsanfter als nötig zu dem Bett. „Ich hab’s dir ja versprochen, jetzt kannst du Pause machen. Nachher bringt dir jemand was zu essen. Sei schön brav, bald ist das Warten vorbei, Süße.“ Damit machte er das Seil ab und nickte mir zu. Dann drehte er sich zu unserem Begleiter und meinte: „Gib mir den Schlüssel, das mach ich selber, ich hab mir nicht all die Mühe gemacht, damit noch was schief geht. So, und jetzt zu unserer Verteidigung. Nachher kann Otis ihr was zu Essen bringen.“ Ohne Widerrede gab der Mann den Schlüssel raus und beide verließen den Raum. Ich war alleine, in kalter Dunkelheit. Dann hörte ich den Schlüssel: Einmal – zweimal. Dann entfernten sich Schritte. „Charon? Kannst du mich hören?“ Ich kam mir irgendwie etwas verlassen vor. Obwohl alles eigentlich super lief. Dann war die vertraute Stimme in meinem Ohr: „Klar. Wie ist’s? Kannst du reden?“ Ich bestätigte und übermittelte in Kurzform die Geschehnisse, seit wir die Burg betreten hatten. Dann mischte sich Johns Stimme ein: „Das läuft viel besser, als wir erwartet hatten. Jetzt hat Phale die Chance, noch was über die Gegenwehr zu erfahren. Und du bist scheinbar auch erst mal sicher. Meine Güte, so viel Glück hätte ich nie erwartet, daß da keiner ist, der Magnus kennt…“ Genau das Gleiche hatte ich auch schon gedacht. Aber vielleicht hing das auch damit zusammen, daß von unseren Leuten noch niemand etwas von ihm gehört hatte. Möglicherweise ein weiterer Fehler auf Dezmont Liste. Dann war wieder Charons Stimme zu hören: „Warte noch ein bißchen, dann teste mal die Tür, ob sie wirklich abgeschlossen ist. Aber unauffällig. Ansonsten versuch dich etwas zu entspannen, wenn was ist, melden wir uns.“ Und John fügte noch hinzu: „Übrigens sind wir jetzt fast da, es kann nicht mehr lange dauern, dann sollten wir euren auffälligen Türsteher entdecken. Wir werden auch vorerst nicht versuchen, euch auf das Gelände zu folgen, wir wollen erst sehen, wie die Lage bei euch sich entwickelt.“ Und damit war wieder Schweigen in meinem Ohr. Unruhig lief ich zwischen Bett und Tür hin und her und nach einiger Zeit, in der ich wirklich überhaupt nichts hören konnte, drückte ich ganz langsam die Türklinke runter. Der Tip war gut gewesen, die Tür öffnete sich auf leichten Druck nach außen. Vorsichtig schloß ich sie wieder. Also würde ich erst mal warten, wenn es auch schwer fiel. So alleine, im Dunkel, in einem kalten Zimmer, da waren die wandernden Gedanken nicht gerade von Wärme und Optimismus geprägt. Obwohl alles gut lief, es würde garantiert schlimmer werden. Daß die nette Scura Seraphina bei Dezmont war, war nur eines der Teilstücke, die mir Sorge bereiteten. Die Veränderungen, die im Blut der Oscuro statt fanden gehörten ebenso in die Liste wie die Sorge, was passieren könnte, wenn Gabriel ein ‚Duell’ mit Dezmont austragen würde. Ich hatte nicht mal eine Vorstellung, wie so ein Zusammentreffen wohl aussehen könnte und hier im Dunkel war ich nicht mal mehr sicher, ob Gabriel unbeschadet daraus hervor kam. Wenn ich so weiter machte, war ich ein Wrack, wenn dieser Tag vorüber war. Ich sprang wieder auf, nahm meine Löwenwanderung durch den Raum wieder auf, versuchte, an etwas Positives zu denken. Doch mir wollte einfach nichts einfallen. Leise sagte ich: „John, ich werd hier verrückt. Es ist kalt und dunkel und ich krieg meinen Kopf nicht unter Kontrolle.“ Fast ohne Verzögerung kam eine Antwort aus dem kleinen Knopf in meinem Ohr. „Keine Panik, Süße! Jeder Polizist kennt das, es fallen einem tausend Dinge ein, die schief gehen könnten. Du mußt dir entweder was überlegen, auf das du dich so richtig freust, oder an was richtig Angenehmes denken. Nicht grübeln! Du mußt dein Gehirn von den Problemen weg zwingen. Äh, erinnere dich, wie du mir von der Fahrt mit dem Schnellboot erzählt hast. Denk daran, wie du dich gefühlt hast.“ Zumindest war das eine angenehme Erinnerung. Aber noch mehr half eigentlich seine Stimme, wenn auch noch so leise, ich war nicht alleine in der Dunkelheit. Überhaupt, sollte nicht mittlerweile die Sonne aufgegangen sein? „John, ist es schon hell draußen?“ Einen Moment dauerte es, dann kam: „Ja, allerdings, und damit haben wir euren Posten wohl verpaßt, wo er sein sollte ist er jedenfalls nicht mehr. Vermutlich ist er zur Festung zurück gegangen. Sei besser vorsichtig, immerhin sind jetzt drei Gegner in der Burg und wir sitzen hier in einer alten Hütte fest.“ Ich kehrte zum Himmelbett zurück und hockte mich mit angezogenen Beinen darauf. Dann überlegte ich. Der Mann der Nadiesda Thurus war sicher nicht unbedingt in der Lage, viel zu unternehmen, vermutlich hatte er einen mächtigen Rausch, der bis heute Abend ausgeschlafen werden mußte. Die beiden anderen Männer mußten sich im Dunkel halten, und wenn Phale als einer von ihnen durchgehen wollte, mußte er sich anpassen. Es wäre hilfreich, wenn ich wüßte, was er vorhatte. Schluß! Ich starrte den toten Kamin an. Schnellboot… Ob ich mich raus schleichen sollte? Ein See, glitzernde Wassertropfen, die vor mir hoch spritzen… es war so kalt hier…der Wind direkt im Gesicht… Jemand schüttelte mich leicht. Kaum zu glauben, ich war eingeschlafen. Phale war da, hockte vor dem Bett, ohne Maske und ohne den Rucksack. Die Tür stand auf, aber von seinem Begleiter war nichts zu sehen. Etwas desorientiert setzte ich mich auf: „Was ist passiert? Wo ist der Typ, oh, ich muß geschlafen haben, wie spät ist es?“ Phale zog mich mit sich hoch und wir gingen zur Tür. „Nun, es ist einiges los gewesen, aber du hast nicht unbedingt was verpaßt. Komm erst mal mit nach oben, wir sollten was essen.“ Wortlos stiegen wir die Freitreppe erneut herauf und betraten wieder das Zimmer von ‚irgendwann vorhin’. Noch immer standen die diversen Flaschen auf dem Tisch, daneben jetzt noch einige Packungen mit Keksen und Trockenobst. Ein seltsames Menü. Von den Aufpassern war nichts zu sehen, auch jener Otis war nicht anwesend. Die Tür auf den Balkon war noch immer geöffnet und warmes Sonnenlicht flutete herein. Trotz der ganzen Umgebung starrte ich Raphael an. Zum ersten Mal sah ich - sozusagen – meinen Raben im Tageslicht. Gut, nicht wirklich Gabriel, aber doch irgendwie. Die dunkle Aura rahmte ihn ein, gab ihm ein fast surreales Aussehen, die dunklen Haare schienen von kleinen Farbreflexen durchzogen. Noch immer bewegte ich mich nicht, sah ihn nur an, wie ein fremdes Wesen, obwohl ich Nathaniel – und seine Aura – auch schon bei Licht gesehen hatte, doch Raphael wirkte so völlig anders, faszinierend. Endlich bemerkte er meinen Blick, lächelte und meinte: „Dein Geschenk!“ Dann zog er mich zum Tisch, schob einige Flaschen beiseite und öffnete für uns eine der Kekspackungen. Dazu gab es eine Flasche Wein, stillos ohne Gläser, denn hier fanden sich nur Reste schmutzigen Geschirrs. Während wir das trockene Zeug kauten, berichtete Raphael mit ruhiger Stimme: „Also, was war los. Mein Führer, er hat sich als Vince vorgestellt, ist mit mir wieder hoch in den ersten Stock. Wenn man den Gang vor der Tür weiter geht, kommt man an eine Reihe von Zimmern, die alle nach vorne raus mit einem großen Balkon versehen sind. Darauf sind verflixt große Waffen montiert, spezielle Schnellfeuergewehre, mehrere Katapulte und sogar einige Armbrüste. Alle Waffen zeigten in die Richtung Kapelle, Friedhof und natürlich Durchgang. Sogar wenige Leute könnten von dort oben fast eine kleine Armee fernhalten, besonders, wenn nur der Durchgang genutzt werden kann. Weiter den Gang entlang gibt es einen interessanten aber speziell gesicherten Raum, der Charon gefallen würde, Computer, Faxgeräte, Telefone, Videoüberwachung, etwas, was ich hier nie erwartet hätte. Ansonsten gibt es nicht einmal Anzeichen von Elektrizität in der Burg. Die Rückseite der Festung steht direkt über dem Felsabhang, der wohl nicht erklettert werden kann, somit gibt es dort keine Verteidigung. Den Zugang, über den Dezmont herein kommen wird, konnte ich nicht lokalisieren. Das ist aber nicht so dramatisch. Hätten wir mehr Zeit gehabt, wäre es optimal gewesen, die Überwachungsanlage für unsere Zwecke umzuwandeln. Das wird aber wohl nichts. Also werden wir sowohl diese Anlagen sabotieren, als auch – und viel wichtiger – die Waffen auf dem Balkon. Wir haben genug Zeit, bestimmt mehr als acht Stunden, bevor es so dunkel ist, daß Dezmont die Burg betreten kann.“ Ich überlegte einen Moment. „Es dürfte ja nicht schwer sein, Sachen kaputt zu machen, möglichst so, daß eine Reparatur ausfällt. Was mich aber interessiert, wo sind die ganzen Leute, Otis, dieser Typ aus dem Wald und auch der äh, Vince?“ Phale griff nach dem Wein, trank etwas und schaute versonnen Richtung Balkontür. Dieses Zögern sagte schon einiges. Er hatte doch vorhin von ein paar Problemen gesprochen. „Ach Phale, es war doch von vornherein klar, daß nicht alles glatt läuft. Nun los, ich bin nicht aus Zucker.“ Er grinste, nickte und meinte dann: „Ich weiß, darum geht’s auch nicht. Ich hatte mich auf wesentlich größere Probleme eingestellt. Nun, der junge Mann, der so reichlich dem Wein zugesprochen hatte, ist unten, in einem der anderen Räume eingeschlossen. Den beiden anderen geht es nicht so gut. Als Vince und ich in dem Technikraum waren, hat er erzählt, daß sie schon fast zwei Wochen hier sind. Sie wurden angerufen, daß Magnus Sonho Noite auskundschaften wollte und eventuell hierher kommen wollte. Dann, vor einigen Tagen, gab es Nachricht, daß der Kaj auf dem Weg hierher sei und Dezmont etwas mitbringen werde. Seit der Zeit warten sie auf uns, es war eben nur noch nicht klar, ob Dez oder Magnus zuerst hier eintreffen würden. Wir haben es tatsächlich mit nur einer Nacht Vorsprung geschafft, Dezmonts Fahrzeuge kamen nicht rechtzeitig vor der Dämmerung in die Nähe des unteren Durchganges – von wo er kommen wird. Übrigens wird es keine zweite Gruppe über den Hauptzugang geben. Aber Vince hatte zum einen die Absicht, vor Dez Ankunft von deinem Blut zu kosten und zum anderen ausdrücklich den Auftrag, sofort Dez zu informieren, wenn Magnus eintrifft. Und dazu sollte ein Bildtelefon verwendet werden. Nun, das konnte ich nicht zulassen. Also mußte ich ihn stoppen, bevor er seine Pläne ausführte. Und dazu hatte ich nicht viel Zeit, nur einen Versuch und keine große Wahl bei der Methode. Also, um es so zu sagen, Vince wird an der kommenden Konfrontation nicht mehr teilnehmen. Und der ungeschickte Typ, der uns im Wald begegnet ist, Barn, oder so ähnlich, wird ebenfalls ausfallen. Er stellte zur falschen Zeit am falschen Ort die falschen Fragen. Irgendwelche Kommentare, Lumina?“ Ich glaubte nicht, daß er mit einer Kritik meinerseits rechnete. Auch mir war ja klar gewesen, was da auf uns zu kam und noch kommen würde. Also meinte ich nur: „Sollten wir nicht langsam damit anfange, an der Sabotage zu arbeiten? Und ich muß John, Charon und Thorben informieren.“ Er nickte. Als wir aufstanden und dem Gang zu dem von ihm beschriebenen Balkon folgten, meinte er: „Ich weiß nicht, vielleicht sollten wir irgendwie umdisponieren. Ist es überhaupt klug, den Drachen hier herein zu lassen? Vielleicht sollte man ihn vorher abfangen, oder … ach ich weiß nicht.“ Es war sehr tröstlich, daß auch er sich mit Zweifeln herumplagte. Aber mir hatten Johns Worte geholfen und nicht umsonst hatten mehrere die Pläne mühselig zusammen gebastelt. „Es wird alles gut gehen, Phale. Das hast du selber gesagt. Und hier sind alle gut verwahrt, kein Handgemenge in der Dunkelheit, Ruhe um nachzudenken, vor dem Handeln. Nein, euer Plan ist gut. Na komm, wir schauen uns die Waffen an, ich bin gespannt.“ Und das war ich auch nicht zu Unrecht. Die Kollektion war sehr beeindruckend. Wie in einem schlechten Actionfilm waren auf Gerüsten moderne Gewehre befestigt, aus meiner unbedarften Perspektive mit einem ziemlich großen Kaliber. Zwei altmodische Katapulte, daneben Schalen, die nach Benzin rochen und scheinbar stoffumwickelte Steine enthielten. Und ebenfalls auf drehbaren Stativen drei recht modern aussehende Armbrüste. Dummerweise war die Munition für die Waffen nicht handlich daneben aufgeschichtet. Wie macht man ein Maschinengewehr kaputt? Fragend sah ich Phale an. Der schaute sich das Arsenal genauer an. Dann meinte er: „Sprich mal mit Charon und John, ob die Vorschläge haben. Also beschrieb ich unser Problem, während wir zurück in die Burg gingen, um den Technikraum zu besichtigen. Auf der Tür fand sich das Oscuro-Emblem, wohl die Sicherung gegen unbefugtes Betreten. Ein Generator war nicht zu sehen, trotzdem hatten die diversen Maschinen alle Strom, Leitungen waren auf den ersten Blick auch nicht zu entdecken, die Geräte schienen fast mit den Mauern verbunden zu sein. Aber das würden wir wohl hinbekommen. Dann meldete John sich: „Nun, kein Problem. Die Gewehre kann man demontieren, die Armbrüste auch, aber die Katapulte, dafür braucht ihr vielleicht irgendwelche Werkzeuge. Kannst du Mikrofon und Empfänger an Phale geben, dann leite ich ihn von hier aus an, was er wie machen soll?“ Ich nickte, merkte dann, daß er das wohl kaum sehen konnte und reicht statt dessen den Ohrhörer an Phale. Etwas mißtrauisch steckte er ihn ins Ohr und ich reichte ihm die schöne Kette. Sie war zu kurz also hielt er sie sich dicht vor den Mund und flüsterte: „Kann mich jemand hören.“ Dann machte er ein erstauntes Gesicht, drehte sich um und verließ ohne Kommentar wortlos das Zimmer. Ich hörte nur noch: „Klar, ja, mach ich….“ Also sah ich mich um. Die Monitore zu zerstören, dürfte die einfachste Aufgabe sein. Ich griff mir eine der Tastaturen, das wollte ich schon immer mal versucht haben. Mit einem heftigen Ruck zog ich sie weg, und natürlich riß das Kabel nicht. Ach ja, was hatte ich denn erwartet. Ich holte das kleine Taschenmesser aus der Tasche, das Charon mir gegeben hatte, und begann, alle Kabel durchzuschneiden, die ich finden konnte. Und lernte, daß man tatsächlich mit einer Tastatur einen Monitor einschlagen kann. Aber das war kein Vergnügen, das war harte Arbeit. Ein lautes Piepen bremste mich bei meinen Racheaktionen für viele erlittene Niederlagen gegen die moderne Technik. Fragend sah ich mich um: Ein ungewöhnlich großes, recht unhandliches Handtelefon mit Aufsatz gab vorwurfsvolle Laute von sich, ein Rufzeichen. Ich nahm es vorsichtig auf, ohne eine Taste zu drücken. Eine Linse an dem Aufsatz ließ mich vermuten, daß es sich hier um das besagte Bildtelefon handeln könnte. Und damit bestand die Gefahr, daß Dezmont versuchte, seine Leute zu erreichen. Was würde er denken, wenn niemand an den Apparat ging? Wir waren möglicherweise in Schwierigkeit. Mit dem Gerät in der Hand eilte ich zurück auf den Balkon, wo Phale über eines der montierten Gewehre gebeugt stand und irgendwelche Hebel zog. Ich unterbrach ihn ohne Einleitung: „Ich denke, wir haben ein Problem.“ Ich ließ ihn meine Überlegungen wissen und er schaute vorwurfsvoll das Gerät in meiner Hand an. Ich ahnte förmlich, was er dachte. „Nein, wir dürfen es nicht kaputt machen. Wir müssen uns schnellstens was einfallen lassen, sonst war vielleicht alles umsonst und Dezmont ahnt, was hier vorgehen könnte. Laß dir was einfallen.“ Phale griff nach dem kleinen Mikrofon, das er neben sich gelegt hatte und übermittelte in knappen Sätzen unser Dilemma an die anderen Mithörer. Das Telefon in meiner Hand hörte auf zu klingeln. Auf dem Display erschien dafür die Nachricht: „Für Rückruf, Taste 1 drücken.“ Ich überlegte, während Phale scheinbar auf Kommentare aus seinem Kopfhörer lauschte. Dann sprach er erneut ins Mikrofon: „Nein, es ging nicht anders, sie waren Dummköpfe aber gute Kämpfer. Außerdem hilft uns das jetzt auch nichts mehr…“ Ich winkte und meinte leise: „Der Mann, Otis, der könnte vielleicht helfen. Wir müßten ihn überzeugen, daß er mit uns zusammen arbeitet…“ Phale kniff die Augen zusammen, überlegte, wechselte wieder einige Worte mit dem Mikrofon. Dann schien er sich entschlossen zu haben. Er nickte, bemerkte dann ebenfalls, daß das nicht die optimale Art der Antwort war und sagte leise: „Ich melde mich wieder.“ Damit übergab er mir Kopfhörer und Mikrofon und nahm mir dafür das Telefon ab. „Ich werde mit ihm reden. Mach du weiter, es ist noch genug Zeit aber sorge dafür, daß keines der Geräte funktioniert. Ich komme gleich zurück.“ Damit verschwand er in Richtung Erdgeschoß. Kommentarlos nahm ich die Geräte und kehrte zurück in meinen Technikraum, der mittlerweile gar nicht mehr so beeindruckend aussah. Eine ganze Weile noch machte ich weiter, zerschnitt an Kabeln, was ich finden konnte, entfernte Akkus, wenn ich sie fand, zerbrach, was meine Kräfte bewältigen konnten, stach Löcher in andere Gerätschaften bis ich wohl irgendwann ein wichtiges Kabel traf denn nach einem kurzen Blitzen, einem lauten Knall und einem üblen Summen stand ich in völliger Dunkelheit in dem Raum. Das sollte es wohl gewesen sein. Vorsichtig kehrte ich dem verwüsteten Zimmer den Rücken und folgte dem Licht durch den Gang, bis ich wieder in dem Raum stand, wo in der vorherigen Nacht das Trinkgelage stattgefunden hatte. Dann wartete ich darauf, was Phale erreichen konnte. Wenn das nicht klappte, waren wir vermutlich in argen Schwierigkeiten. Schmerz alt und neuLong times ago, in a dark night You felt body and soul unite spirits cursed though your veins The sparks in you turned into flames (Spirit Soldier) Es dauerte für meinen Geschmack sehr lange, bis Phale zurück kehrte. Noch immer hielt er das Telefon in der Hand, hatte einen merkwürdigen Gesichtsausdruck und als er mich sah, winkte er mir, ihm zu folgen. Wir gingen die Treppe runter, zurück in den Raum, in dem ich eingesperrt gewesen war. Jetzt saß ein recht blasser junger Mann – Otis – auf dem Stuhl und sah uns mit großen, unsicheren Augen entgegen. Seine Finger kneteten nervös den Stoff seines zerrupften Hemdes. Als ich neben Phale eintrat, sprang er auf. Auf dem Tisch stand das Telefon, daneben lag das Seil, mit dem ich vorher gefesselt war. Phale griff nach letzterem und winkte dem jungen Mann zu, der zögerte und es dann vorsichtig aus seiner Hand nahm, als wäre es eine giftige Schlange. Phale wand sich an mich: „Wie ich dem jungen Mann hier schon erklärt habe, erfordert die moentane Situation eine gewisse äh, Korrektur der Pläne. Dezmont soll doch keinen falschen Eindruck von der Situation hier bekommen. Otis wird dich fesseln und dann eine Bildverbindung herstellen.“ Noch immer recht unsicher trat der junge Mann auf mich zu und ich hielt ihm ergeben die Hände hin. Wenn Phale meinte, daß das nötig war, nun gut, an mir sollte es nicht scheitern. Otis machte seine Arbeit durchaus gut, er zog die Seile fest und knotete sie dann an einen der Wandleuchter neben dem Bett. Dann sah er mich das erste mal bewußt an, lächelte schüchtern und zog dann den kleinen Hörer aus meinem Ohr. Aber da ich die Kette mit dem Sender nicht wieder umgelegt, sondern in die Hosentasche gesteckt hatte, nachdem Phale sie zurückgegeben hatte, sah er sie nicht und kehrte nur an den Tisch zurück, an dem Phale noch immer reglos lehnte. Er warf diesem erneut einen fragenden Blick zu und als der nickte, griff er nach dem Bildtelefon und tippte einige Nummern ein. Dann stellte er das Gerät auf den Tisch zurück, mit dem kleinen Monitor in meine Richtung. Wir alle hörten erst das Freizeichen und nach kurzer Zeit ein deutlich vernehmbares ‚Ja?’. Noch immer zögerlich trat Otis etwas nach vorne, bis er wohl von der kleinen Kamera erfaßt wurde. Mit etwas zittriger Stimme sagte er: „Hier ist Otis aus dem Quartier der Gefangenen. Ich muß mit dem weißen Drachen sprechen.“ Auf dem Bildschirm gab es Bewegung, aber es war zu weit entfernt, um jemanden erkennen zu können. Dafür folgte eine Antwort: „Moment.“ Phale stand noch immer unbeweglich. Sein Blick verriet gar nichts und er machte auch keinerlei Anstalten, die Unterhaltung zu beeinflussen. Er zeigte erstaunlich viel Vertrauen zu dem jungen Mann. Den jedenfalls konnte man nicht als ruhig bezeichnen. Er knetete seine Hände, während er auf Antwort aus dem Apparat wartete. Dann endlich kam eine kühle und durch die Technik leicht mechanisch klingende Stimme: „Ja, was ist. Wir versuchen schon länger, euch zu erreichen.“ Otis atmete durch und nickte vehement. „Ja, ja, ich weiß. Es war einiges los, aber jetzt ist alles wieder in Ordnung. Ich äh….“ Und damit stockte er und sah Phale fragend an. Der schob sich vom Tisch ab, sah kurz zu mir rüber und schritt dann zu meinem Entsetzen in den Bildbereich des Telefons. Durch den niedrigen Standort auf dem Tisch mußte er ein ganzes Stück zurück gehen, er war noch höchstens zwei Meter von mir entfernt. Ruhig sprach er: „Confinum Oblivio, Anguis!“ Einen Augenblick war es still, dann tönte ihm entgegen: „Confinum Oblivio, Saroka. Ich grüße dich, Raphael. Was für eine Überraschung, dich dort zu finden. Wenn auch eine angenehme. Jetzt bin ich auf die Geschichte dahinter gespannt.“ Und das war ich auch! Mir war eiskalt geworden, aus mehreren Gründen. Ich wußte gar nicht, wo ich anfangen sollte, mich zu erschrecken. Daß Dezmont Phale kannte? Oder daß sie sich mit einer scheinbar vorbestimmten Formel grüßten? Daß Phale den Weißen Drachen wissen ließ, daß er hier war? Und das ganze Drumherum, die relativ geringe – dafür scheinbar angenehme - Überraschung von Dezmont, wie konnte der übrigens sicher sein, daß er mit Phale sprach, ach, und so ging es weiter. Aber zumindest ein Teil der Antworten sollte ich schnell bekommen. „Nun, meine Reise hierher ist wohl eine etwas längere Geschichte, Dezmont. Aber kurz zusammengefaßt, Magnus hat versagt. Und da dein Plan nicht von Erfolg gekrönt zu sein schien, dachte ich, ich sollte dir etwas unter die Arme greifen. Obwohl Magnus fast sein Ziel erreicht hätte, ist er doch Opfer seiner eigenen Gier geworden, oder genauer gesagt, er hat sich nicht an die Worte der Prophezeiung gehalten. Und so wurde er von seinem Hunger nach Macht getötet. Und damit solltest du auch gleich wissen, daß deine Interpretation richtig war.“ Ich hatte in sprachlosem Staunen zugehört, mit jedem Wort war mein Entsetzen gewachsen. Was tat er da? Das konnte doch nicht wahr sein. Doch es kam noch schlimmer. Ich hörte trotz der Verzerrungen daß Dezmont zum Einen nicht sonderlich traurig über den Verlust zu sein schien, und zum Anderen, daß ihm die Informationen wohl gefielen. Er fragte sofort nach: „Und was ist mit dir, mein Freund? Ist dein Weg besser gewählt, als der, meines Kaj?“ Phale hob die Hände, während er sich einmal wie vor einem Spiegel vor der Linse drehte. „Genau, wie es in der Prophezeiung gesagt wird, so ist es eingetreten. In Zorn oder mit Gewalt genommen, wird die Dreizehn dich töten. Doch in Liebe geschenkt –“ er unterbrach sich und sah für einen sehr kurzen Moment zu mir rüber „also freiwillig – ohne zu fordern – tritt die zweite Wandlung ein. Magnus hatte nie eine Chance, es verlangte ihn nach Macht und Herrschaft. Doch ich habe gebeten und sie hat mir das Blut freiwillig in Liebe gegeben, denn ich verlangte nur nach ihr. So steht es geschrieben und auch nur so kann die Macht der Dreizehn weiter gegeben werden.“ Ich war kaum in der Lage, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Stimmte das so, oder hatte er unsere Erkenntnisse nur variiert, damit Dezmont sich sicher fühlte. Irgendwie war mir mulmig, wenn er nun Recht hatte, dann waren unsere Chancen gegen den weißen Drachen gerade gesunken und schlimmer noch: vielleicht wußte Dez jetzt mehr als ‚unsere’ Gruppe und würde das bedeuten, daß Phale ihm half? Und eine Sache war eindeutig klar: Phale wußte wesentlich mehr von dem Anguis-Zirkel, als jeder andere von uns. Wieso? Ruhig bleiben… „Ich wußte es!“ Aus Dezmonts Stimme klang Triumph. „Ich hatte Magnus gewarnt aber er war eben ein Narr. Na ja, in ein paar Stunden sind wir bei euch. Wie ist die Lage? Kommt ihr solange zurecht? Ich freue mich darauf, LaVerne endlich von Nahem kennen zu lernen.“ Das tat ich ganz und gar nicht. Sollte ich jetzt etwa doch noch in diesen zweifelhaften Genuß kommen. Ich konnte es einfach nicht glauben. Aber Phales nächste Worte waren kein Trost: „Nun, LaVerne hat mich freiwillig begleitet, die Verfolger sind – genau wie ihr – momentan noch in Deckung. Wenn aber alle deine Leute erst im Licht wandeln können, wird das wohl kaum ein Problem für euch sein. Und so schnell kommen sie hier nicht rein. Die Waffen sind alle einsatzbereit und Barn und Vince warten unten in den Verliesen, bis es dunkel wird. Otis kümmert sich mit mir noch um einige Kleinigkeiten und wie du sehen kannst, ist unser Gast hier gut verwahrt. Nein, wir kommen zurecht, bis ihr da seid. Aber eine Sache noch. Ich möchte nicht, daß Seraphina mich hier sieht. Ich habe gehört, sie wäre momentan dein Gast. Ich weiß nicht, ob sie mit Tejat kommunizieren kann und daher wäre es für meine Tarnung besser, wenn sie mich gar nicht sieht.“ Ich hörte nur noch schweigend zu, mein Gehirn hatte vorerst aufgehört, die Daten zu interpretieren, die da von den Ohren gesendet wurden. Irgendwo mußte ich was völlig falsch verstanden haben oder was verpaßt haben. Dann kam die Antwort aus dem Telefon: „Richtig, sie ist unser Gast. Und du hast sicher Recht, es ist eine gute Idee, sie von dir vorerst fern zu halten. Ich werde das veranlassen. Ich freue mich darauf, dich bald in die Arme zu schließen. Du hast ausgezeichnete Arbeit geleistet, Raphael. Confinum Oblivio.“ Phale nickte und meinte: „Ich freue mich auf unser Wiedersehen. Bis bald, Dezmont. Confinum Oblivio.“ Er winkte Otis zu, der den Apparat an sich nahm und ausschaltete. Phale drehte sich zu mir um und lächelte. Aber er sagte nicht die Worte, die ich hören wollte, sondern: „Bist du erstaunt, Lumina? Solltest du nicht sein. Die ganze Geschichte ist doch logisch, du hattest so viele Details, du hättest schon lange dahinter kommen können. So viele Kleinigkeiten, die doch nur einen Schluß zuließen. Dezmont wußte immer innerhalb kürzester Zeit, wo du dich aufhieltest. Woher wohl? Er kannte Sonho Noite. Wieso? Er wußte, daß der Fluch des Blutes sich für dich entschieden hat. Warum wohl, bin ich euch voraus nach Rumänien gereist, statt auf dem Stammsitz zu bleiben. Durch meinen Bruder wußte ich fast immer, wo du dich gerade aufhältst. Es war alles fast zu einfach. Und dann noch als dein Beweis der Liebe das Geschenk der zweiten Wandlung an mich. Du bist so leicht zu überzeugen, Lumina. Warum sollte man dich mit Gewalt zu Dez bringen, wenn du doch freiwillig gehen würdest?“ Ich starrte ihn an. Ja, bei einigen der aufgezählten Dinge hatten wir alle uns gewundert, doch ich hätte niemals gedacht, daß Phale etwas damit zu tun hatte. Er war Gabriels Bruder. Ein Kader. Leise, denn meine Stimme wollte nicht so recht den Dienst tun, stellte ich die einzige Frage, die mir wichtig schien, die alles zurecht rücken sollte: „Warum?“ Er schüttelte den Kopf. Er wirkte kühl und ging langsam zur Tür während er antwortete: „Warum? Das fragst du noch? Confinum Oblivio. Ich vergesse die Grenzen. Denn einmal hat mich die Grenze unseres Kodex getötet. Ich habe dir den Grund selber genannt. Nehenia. An dem Tag, als sie starb, bin auch ich gestorben. Mein Körper existiert noch in dieser Welt, aber mein Geist ging mit ihr. Und warum? Warum, frag ich dich! Warum darf John leben, warum mein Bruder, der ihn gewandelt hat, aber meine Geliebte nicht? Schuld und Unschuld? Nein, ich akzeptiere diesen Kodex nicht mehr, der mir mein Leben genommen hat. Ich will diese Grenzen einreißen, vergessen. An dem Tag, als ich starb, habe ich Rache geschworen, Rache an denen, die behauptet haben, sie hätte etwas Falsches getan. Rache an all denen, die schweigend zugestimmt haben, daß ein guter Mensch für etwas Gutes, das er getan hat, stirbt. Wie könnte ich die Oscuro noch achten, nach diesem … diesem…- Nein, ich suchte nach einem Weg, diese falschen, lächerlichen Werte zu überwinden und in dir – und in Dezmont – habe ich ihn gefunden. Darum, meine liebe Schwägerin, darum übergebe ich dich Dez. Und darum wird dein Gefährte sterben, sehr bald schon, denn auch er hat mit ihrem Tod sein Leben verwirkt. Und alle, die für diese falschen Grundsätze einstehen. Mein Schmerz sei jetzt euer Schmerz. So, jetzt entschuldige mich, ich habe noch zu tun.“ Es war alles logisch, was er gesagt hatte. Und ich konnte ihn sogar ein wenig verstehen. Aber „Phale, er ist dein Bruder. Wenn du in einen Spiegel schaust, wirst du immer sein Gesicht darin sehen. Wie kannst du das?“ Er lachte – ohne Humor: „das kann ich nicht. Aber ich kann auch mein Gesicht darin nicht ertragen. Hast du in meinen Räumen denn jemals einen Spiegel gesehen? Nein! Mein Bruder hat zugelassen, daß meine Geliebte stirbt. Ich weiß nicht, was Dez mit dir vor hat, Lumina, aber vielleicht spürt Gabriel dann auch einmal diesen Schmerz, der mich über Jahrzehnte begleitet hat. Dabei ist Dez das Werkzeug meiner Rache. Ich habe kein Interesse an Macht oder Führerschaft. Das sei ihm vorbehalten. Ich will, daß die Grenzen fallen und dann werde ich den Tod suchen – und finden, und meine geliebte Nehenia endlich wieder sehen.“ Und in einer Art von Nachgedanken meinte er: „Schade, eigentlich mochte ich dich. Aber im Krieg gibt es immer Opfer. Wir sehen uns, wenn Dezmont mit seinen Leuten eingetroffen ist. Und du brauchst gar nicht versuchen, deine Fesseln zu lösen, solange du nicht gelernt hast, Dinge in etwas anderes zu verwandeln, hast du keine Chance. Otis versteht sein Handwerk. Wie dem auch sei, ich muß noch einiges erledigen, also mach es dir für die nächsten zwei bis drei Stunden hier gemütlich. Ich hole dich rechtzeitig zum großen Treffen wieder hier ab.“ Und damit verließ er den Raum. Ich starrte ihm schweigend hinterher. Otis stand noch immer am Tisch, mit dem Telefon in der Hand. Er warf mir erneut einen entschuldigenden Blick zu und in einem großen Bogen an mir vorbei ging er ebenfalls auf die Tür zu. Ich sah ihn noch einige Tasten auf dem Bildtelefon drücken, dann war er weg und ich saß erneut alleine in der kalten Dunkelheit. Was war passiert? Es dauerte eine ganze Zeit, bis mein Gehirn wieder willens war, die Worte der letzten Minuten zu überdenken. Trotz dessen, was ich gehört hatte, ich konnte nicht wirklich glauben, daß Phale seinen eigenen Bruder dem Drachen auslieferte. Aber alle seine Worte machten einen schrecklichen Sinn. Wir hatten ja geahnt, daß Dezmont sich nach den Worten der Prophezeiung richtete. Und darin stand ja wirklich ausdrücklich, daß die Dreizehn die Macht für die Liebe opferte. Ich zog testweise an den Fesseln, nein, Otis hatte wirklich erstaunlich ordentliche Arbeit abgeliefert, da war kein Spielraum. Was hatte Phale noch gesagt? Wie konnten John und Gabriel leben, wenn Nehenia sterben mußte, wo war da die Gerechtigkeit, bei diesem geringen Unterschied in der Vorgeschichte, den ich bei seiner Erzählung noch nicht einmal bemerkt hatte. Waren wir denn alle blind gewesen? Aber konnte er seinen eigenen Bruder überhaupt so nachdrücklich täuschen, sich so vor ihm verbergen? Aber Gabriel schien auch zuerst über die Wandlung seines Bruders nichts gewußt zu haben, also gab es eine Möglichkeit für Einen, vor dem Anderen etwas geheim zu halten. Nathaniel hatte gesagt, daß die Pläne von Sonho Noite bei einigen Mönchen zu finden waren, aber vielleicht wußte Dezmont nicht durch logische Überlegung sondern durch Verrat, wo er überhaupt suchen mußte. Verrat? Hatte ich das Wort jetzt wirklich gedacht? Ich wollte es nicht glauben, aber die Beweise sprachen für sich. Und es gab noch andere Dinge, die jetzt in meinem Kopf Fragezeichen hervorlockten. Ich hatte Phales Wort genommen, daß er Vince und Barn ausgeschaltet hatte. Es gab bisher keinen Grund, an seiner Behauptung zu zweifeln. Bisher. Und ich hatte auch nicht gesehen, daß er die Waffen demontiert hatte, ich war im Technikraum gewesen und Phale hatte mit John gesprochen. Hatte er wirklich das getan, was ihm über das Funkgerät aufgetragen wurde? Wie konnte ich nach seinen letzten Worten noch sicher sein. Ich mußte irgendwie an mein kleines Funkgerät, aber dafür brauchte ich die Hände. Erneut zog ich ergebnislos an den Fesseln. Ruhe vor dem SturmA beast lives behind your eyes in your head To take hold of you, when the guard is down It reminds you of what you lost, what you had Compels you to scorn, to hate and to drown Eine ganze Weile saß ich auf dem Sofa. Nach und nach wurde ich ruhiger, die Gedanken kreisten nicht mehr ziellos. Ich versuchte, mir John vorzustellen, was er mir jetzt sagen würde. Nachdenken, keine Panik, du hast noch Zeit. Phale hatte von gut zwei bis drei Stunden gesprochen. Überhaupt hatte er recht viel gesagt. Zuerst zum Weißen Drachen und später dann auch zu mir. Also, es war ein Codewort vereinbart worden. Und das war nur für Phale, denn Dezmont wußte sofort, wen er da am anderen Ende der Leitung hatte. Grenzen vergessen. Ich konnte also getrost annehmen, daß es eine geheime Kommunikation zwischen den beiden Männern gegeben hatte, wohl gemerkt, persönlich. Und wie wir alle ja schon vermutet hatten, war die vielzitierte Prophezeiung der Ratgeber des Drachen bei seinen Aktionen. Er wollte mein Blut, da war nicht schwer zu erraten, für welche Zwecke. Und wenn Raphael recht hatte, dann würde es sich für Dezmont nicht lohnen, mich zur Kooperation zu zwingen. Immerhin hatte er ja schon jemanden, der ihm freiwillig die zweite Wandlung schenken würde. Was für ein Schlamassel. Aber weiter mit den Überlegungen. Da war irgendwas… Phale hatte mich überzeugt mit seinen Aussagen. Es war logisch und schlüssig. Warum hatte ich noch immer Zweifel? Nun, nachdem die erste Panik abgeklungen war, fanden sich ein paar Dinge, die einer zweiten Betrachtung bedurften. Am deutlichsten war mir ein Kommentar von Phale im Gedächtnis geblieben, daß ich die Fesseln solange nicht würde lösen können, bis ich gelernt hatte, Dinge in etwas anderes zu verwandeln. Er wußte definitiv, daß ich genau diese Fertigkeit bei Tejat mit einigem Erfolg erlernt hatte. Warum also so ein ‚triumphaler’ Tiefschlag beim Verlassen des Raumes? Warum überhaupt sein langer Monolog, nachdem die Verbindung doch schon beendet war? Und dann die Sache mit Seraphina. Phale hatte mit seinen Worten dafür gesorgt, daß sie vermutlich nicht mit in die Burg gebracht wurde. Das war gut für unseren Plan, damit fehlte Dez ein wichtiges Druckmittel. Vorausgesetzt, daß er mich nicht als Ersatz hatte. Je mehr ich über diese Kleinigkeiten nachdachte, desto wichtiger erschienen sie mir. War ich am Ende einer Täuschung aufgesessen, einer Inszenierung von Phale? Und wenn er einen alternativen Plan vorbereitet hatte, nur für den Fall, daß irgendwas schief lief? Sozusagen eine Art Rettungsleine für Notfälle, nur zu aktivieren, wenn wir auf solche Schwierigkeiten stießen, wie wir sie hier angetroffen hatten. Wenn dem so war, hatte er ein sehr gewagtes Spiel gespielt, denn ohne richtige und wichtige Tips von Phale hätte der weiße Drache ihm niemals vertraut. Wenn ich mit dieser Vermutung richtig lag, mußte der Plan schon sehr lange vorbereitet worden sein. Mein Kopf fing schon wieder an zu schwirren. Andererseits hatten sich die Ereignisse über mehr als ein halbes Jahr hingezogen. Und die Differenzen zwischen Gabriel und Dezmont waren ja schon viele Jahre alt. Meine Güte… Wieso hatte ich Phale geglaubt? Weil er einerseits sehr überzeugend geklungen hatte, ohne nachzudenken gesprochen hatte aber vorwiegend darum, weil es logisch und sehr nachvollziehbar war, was er vorbrachte. Das würde auch Dezmont so sehen. Also würde ich bei meinen weiteren Überlegungen jetzt davon ausgehen, daß Phale einen Plan in unserem Plan hatte. Er hatte mit keinem Wort von dem kleinen Sender in meiner Tasche gesprochen, normalerweise hätte Otis mir den doch wohl auch abnehmen sollen. Der kleine Ohrhörer war weg, ich hatte nicht mal drauf geachtet, wo er abgeblieben war. Schlechte Polizeiarbeit! Das erste mal seit einiger Zeit, daß ich so was wie ein leichtes Grinsen zustande brachte. Und wenn er mir einen Tip hatte zukommen lassen wollten, so war das sogar geschehen, ich war nur zu Anfang blockiert gewesen. Die Fesseln, der Hinweis, wie viel Zeit ich noch hatte, es war alles da, was ich brauchte. Also machte ich mich ans Werk. Es war eindeutig schwer, seinen Kopf frei zu bekommen. Aber das war die Grundvoraussetzung, um dem Seil um meine Hände einzureden, es wäre aus Gummi. Denn so hatte ich mir das gedacht. An Zielstrebigkeit, dem zweiten wichtigen Punkt, mangelte es nicht aber ich erwischte mich immer wieder beim Konzentrieren dabei, daß meine Gedanken abschweiften. Hätte Phale nicht mit Dezmont gesprochen, wäre der vielleicht gar nicht erst zur Burg heraufgestiegen. Er mußte schon mißtrauisch geworden sein, daß so lange niemand antwortete und Otis machte noch immer nicht den Eindruck auf mich, daß er effektiv lügen konnte oder viel zu den Geschehnissen beitragen konnte. Es war eine Führungsperson notwendig gewesen, und Phale hatte diese Rolle vorbereitet und jetzt eingenommen. Konzentration bitte. Es dauerte sicherlich eine gute Stunde, bis ich mich aus den – zumindest mittlerweile elastischen – Fesseln gewunden hatte. Es war sicher keine Meisterleistung, aber ich hatte mein Ziel erreicht. Die Frage war, was jetzt. Hatte Otis den Kopfhörer, konnte ich nicht mit meinen Freunden kommunizieren, es bestand die Gefahr, daß er mithörte. Und er hatte das Telefon, die einzige noch funktionierende Verbindung nach draußen. Und da ich nicht wußte, was Phale noch plante – immer in der Hoffnung, daß ich mich nicht irrte - sollte ich auch eine Begegnung vermeiden. Mit Otis. Oder auch mit Phale? Nein, ich brauchte Gewißheit. Wenn ich mich irrte, und Phale das war, was er behauptet hatte – niemals, schrie mein Herz – dann mußten unsere Freunde das wissen, und wenn es die letzte Nachricht war, die ich übermittelte. Das war jetzt etwas arg pathetisch, aber ich konnte meinen Raben nicht in eine mögliche Falle laufen lassen. Unfug! Vorsichtig schlich ich aus dem unverschlossenen Raum. Ha! Von oben kam Licht aus dem Aufenthaltsraum, schwach, aber eindeutig noch Tageslicht. Ich zog den kleinen Sender aus der Tasche und schlich möglichst geräuschlos in den ersten Stock. Neben der offenen Tür zögerte ich. Es gab noch eine Möglichkeit. Hinunter ins Verlies und nachsehen, in welchem Zustand ich die beiden Männer der Oscuro dort antreffen würde. Ich zögerte kurz, dann entschloß ich mich dagegen. Ich kannte die Räumlichkeiten dort nicht, es könnte zu lange dauern, dort zu suchen. Vorsichtig schaute ich um die Ecke. Der Raum war leer. Mit einer Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung ging ich weiter, um die Ecke, bis ich zu dem Ausgang auf den Balkon traf. Wieder steckte ich langsam den Kopf um die Ecke. Phale hockte vor einem der Gewehre und war mit einem Messer daran am arbeiten. Ob er sie reparierte oder demontierte, war nicht zu erkennen. Von Otis war nichts zu sehen. Jetzt oder nie. Möglichst leise trat ich auf den Balkon. Aber wohl nicht geräuschlos. Phale drehte sich nicht um, doch er legte langsam das Messer auf den Boden, erhob sich, mit dem Rücken zu mir und drehte sich erst dann um. Er hielt die Hände gut sichtbar ein wenig ab von seinem Körper und sah mich nur an. Selbst wenn ich irgend eine Art von Waffe gehabt hätte, wäre ich nicht in der Lage, sie gegen Phale einzusetzen. Obwohl mein Gehirn es wußte, sah ich doch immer ein wenig meinen Raben vor mir. Aber ich hatte doch eine Waffe, ich hielt das Mikrofon locker in der linken Hand. „Nun?“ Ich wartete. „Die Tatsache, daß du hier vor mir stehst, läßt mich vermuten, daß du meinen Hinweis verstanden hast und damit dann auch wohl die List durchschaut hast. Ich wäre eh gleich zu dir gekommen, ich wollte nur erst mit den Waffen fertig werden, das schien mir einfach wichtiger. Und ich hatte nur bei meinem ersten Versuch Johns Unterstützung.“ „Nun, es hat einige Zeit gebraucht, bis mein Entsetzen so weit abgeklungen war, daß ich vernünftig denken konnte. Trotzdem hast du wohl so einiges zu erklären.“ Meine Stimme klang nicht unbedingt freundlich. Nach der Erleichterung kam jetzt die Wut, mich so in die Irre gleitet zu haben, mir solche Angst gemacht zu haben. Freuen konnte ich mich später, jetzt wollte ich erst mal den Zorn loswerden. Aber er gab mir dafür nicht die Gelegenheit. „Mit Erklärungen mußt du dich noch ein klein wenig gedulden. Durch die Planänderung ist der Zeitplan arg ins Wanken geraten. Ich bin in fünf Minuten fertig mit den Waffen, John nannte es ‚einige Bolzen entfernen’. Ich habe die ganze Tasche voller Ersatzteile, die ich hier nicht rumliegen lassen will. Die Stoffstreifen mit Benzin waren gut geeignet, die Armbrüste ein wenig abzufackeln und ich habe die vorbereiteten Steine vom Balkon geworfen. Otis sitzt im Technikraum im Dunkeln in einem schlimmen Chaos fest – der arme war völlig am Boden zerstört, als er das Dilemma sah. Geh los und hol das Bildtelefon, vielleicht können wir es noch brauchen, es ist drüben im ‚Frühstücksraum’ – du weißt schon, der mit den vielen Flaschen. Wir treffen uns in fünf Minuten unten in der Halle und dann werden wir diese ungastlichen Räume verlassen, es gibt keinen Grund mehr, hier auf die Ankunft von Dez zu warten. Und während wir verschwinden, werd ich dir alles erklären.“ Ich war zumindest von seinem Vorschlag begeistert, diesen Ort umgehend zu verlassen. Ich nickte also nur und kehrte in den Gang zurück. Die Tür zum Technikraum, mit dem Oscuro-Emblem darauf war geschlossen und ich fühlte keinerlei Bedarf zu testen, ob Otis sich wirklich darin befand. Hauptsache raus hier. Ich holte das Bildtelefon und ging langsam die Freitreppe wieder runter in die Halle. Jetzt konnte es nicht mehr lange bis zur Dämmerung dauern. Ich war noch nicht ganz an der Eingangstür als ich schnelle Schritte hinter mir hörte und Phale die Stufen herunter lief. Draußen, in dem Vorhof der Burg, lagen die Steine, die Phale also wirklich über die Brüstung geworfen hatte. Nicht unbedingt eine dauerhafte Sabotage aber zumindest ärgerlich für diejenigen, die sie wieder rauf schleppen mußten. Wir gingen quer über den Hof und dann schob mich Phale auf die kleine Kirche zu, die sich rechts die Außenmauer mit der Burg teilte. Gegenüber war der Friedhof zu sehen, dazwischen die vielleicht drei Meter breite Schneise, die für die Leute der Oscuro den einzigen Zugang zur Burg darstellte. „Wir werden in der Kirche Rast machen, es dauert vielleicht noch eine halbe Stunde, bis es dunkel genug ist und unsere Leute werden erst dann ihr Versteck verlassen. So haben wir etwas Zeit zum Reden und gleichzeitig die Burg im Auge. Wenn es erst los geht, bleibt vielleicht nicht viel Gelegenheit und Nathaniel wird uns hier wohl finden, wenn er uns bei sich haben will.“ Gehorsam folgte ich ihm in das kühle Dämmerlicht der kleinen Kapelle. Er blieb einen Moment am Eingang stehen, sah sich mit einem bewundernden Blick um und folgte mir dann zu einer der schmalen Bänke an einer Seite. Mit einem leisen Seufzer ließ er sich neben mir nieder und starrten dann erst mal schweigend auf den Altar mit dem hölzernen Kruzifix darüber. Ich wartete schweigend. „Weißt du,“ begann er nach einiger Zeit von ganz alleine, „eine Lüge verpackt man am einfachsten und glaubwürdigsten in der Wahrheit. Nur so kann man Leute wirklich effektiv täuschen. Sieh dich selber an, Lumina. Du hast meine Worte geglaubt, weil sie ehrlich klangen, du meinen Hintergrund kennst und ich teilweise die Wahrheit mit nur ein wenig Lüge vermischt habe. Und du kennst mich, dennoch hast du mir zuerst geglaubt, du siehst, der Trick funktioniert.“ Ich nickte nur schweigend. Oh ja, es hatte verflixt gut funktioniert. Er fuhr fort: „Nur so kann man jemanden manipulieren. Auch etwas, was wir von Tejat gelernt haben, übrigens. Es stimmt, als Nehenia starb, starb ich mit ihr. Ich haßte den Kodex, ich haßte mein Leben, ich haßte alles Schöne um mich herum. Aber wenn man lange genug lebt, wird auch so ein mächtiges Gefühl schwächer mit der Zeit. Ich wurde bestimmt nicht weise, aber ich fand mich mit den Regeln ab, die unsere Gesellschaft definieren. Doch ein gewisser Schmerz, eine stille Verzweiflung ist immer geblieben. Und als dann vor Jahren die ersten Probleme mit Dez auftauchten, der aus anderen Gründen ähnliche Gefühle hegte, erinnerte ich mich wieder daran. Je schlimmer die Anfeindungen des Anguis-Zirkel wurden, desto mehr kam ich zu der Erkenntnis, daß die Regeln – trotz all ihrer Fehler – gebraucht werden, damit wir uns nicht gegenseitig zerstören, und die Welt der Sterblichen gleich mit. Damals schon kam ich auf den Gedanken, mein Schicksal als Waffe zu verwenden. Natürlich nicht so, wie es heute geschehen ist, ich konnte nicht mal erahnen, was die Zukunft brachte.“ Er atmete durch, sah mich an und lächelte. Und es wurde vielleicht ein klein wenig heller in der dunklen Kirche. Dann erzählte er weiter. „Es fing ganz klein an, hier eine Nachricht, da ein paar Zeilen, eine kleine Aufmerksamkeit für einen Bekannten des ‚gegnerischen’ Zirkels und so weiter. Irgendwann wollte mich der Drache kennen lernen. Bis zu dem Zeitpunkt wußte er noch nicht, daß Gabriel und ich uns zum Verwechseln ähnlich sehen. Ich zögerte lange, ob ich diesen Trumpf schon ausspielen sollte, entschied mich dann aber dafür, weil es für Dezmont einen enormen Vertrauensbeweis meinerseits darstellte. Übrigens war es ein gewaltiger Akt der Anstrengung, dies alles vor meinem Bruder und meinen Freunden geheim zu halten. Zum Glück lebte ich schon immer recht abgeschieden, das war jetzt hilfreich. Irgendwann vereinbarten wir dann diese Formel, Confinum Oblivio und den entsprechenden Namen, natürlich mußte er ja wissen, daß er nicht mit meinem Bruder sprach. Nun, über die Zeit habe ich ihn ein paar Dinge erfahren lassen, die nicht weltbewegend waren, sein Vertrauen in mich aber enorm stärkten. Und dann kamst du und ich war in ernsten Schwierigkeiten. Wie du dir denken kannst, war ich sozusagen Dezmont geheime Waffe und wollte ich nicht gerade jetzt sein Vertrauen verlieren, mußte ich mitspielen. Es wurde immer deutlicher, daß wir direkt auf die endgültige Konfrontation zusteuerten, daher mußte ich unbedingt meinen Einfluß behalten. Und dabei möglichst jegliche Gefährdung für dich und meinen Bruder ausschließen. Also gab ich ihm unvollständige oder verspätete Nachrichten, oder ich erfuhr erst zu spät von seinen Fragen, und so weiter. Meistens hat es geklappt, nur leider hat Dez sich nicht ausschließlich auf mich verlassen, wie ich es gerne gehabt hätte. Sonst wäre Kolya nie etwas passiert. Ich bin fast verrückt geworden, als ich von den Geschehnissen gehört habe, obwohl ich dazu nichts beigetragen hatte, Dez hatte den Imprecatio Curor überwachen lassen – obwohl ich es hätte ahnen sollen. Eigentlich ist danach bis zu Magnus Auftauchen alles ganz gut verlaufen. Dezmont war begrenzt vorhersehbar, weil er sich nach der Prophezeiung richtete, wenn auch seine Interpretation von unserer abweicht. Dazu ein anderes mal mehr. Aber mit Magnus hatte mich der Drache wieder überrascht mit einer Aktion, die ich hätte ahnen sollen. Doch es ging zum Glück gut und eigentlich hätte ich mich bei Dez nicht mehr melden wollen. Ich wollte warten, bis wir ihn hier sicher verwahrt haben. Er sollte nie erfahren, daß ‚Saroka’ ihn betrogen hat. Denn obwohl ich seine Methoden verabscheue und seine Art mit Menschen umzugehen zutiefst mißbillige, so ist doch seine Ablehnung des Kodex noch immer so eine Art Funken in mir, der ihn fast versteht. Das ist im großen und ganzen die Geschichte hinter meinen Worten mit dem weißen Drachen. Hätte ich dich eingeweiht, wärest du nicht so verwundert, nein entsetzt, gewesen. Und genau das war notwendig. Otis mag unsicher und ängstlich gewirkt haben, aber er war schon mit dem Drachen am telefonieren, als er noch nicht ganz aus dem Raum war. Und hat ihm haarklein alles erzählt, was ich dir als Erklärung angeboten habe. Er war ein Spion, ohne es zu wissen, erst dadurch, daß ich euch beide überzeugt habe, ist die Geschichte bei Dezmont glaubwürdig geworden. Und nur so konnten wir verhindern, daß er kurzfristig seinen Besuch in äh, Tschorni-Kro absagt. Außerdem fand ich die Idee mit Seraphina ausgezeichnet, obwohl sie spontan entstand. Ich hoffe, er läßt sie vor dem Aufstieg mit einigen Leuten im Tal, dann haben Kolya und Thorben eine echte Chance sie zu befreien, bevor sie als Geisel präsentiert wird.“ Eine Weile schwiegen wir beide. Dann räusperte ich mich leise – es klang ungebührlich laut in dieser Kapelle – und meinte dann: „Du hattest mich vollständig und gänzlich überzeugt. Ich war so verzweifelt eine zeitlang, das kannst du dir nicht vorstellen. Aber irgendwann hat dann mein Gehirn wieder angefangen, vernünftig zu arbeiten und dann sind mir deine dezenten Hinweise auch aufgefallen. Aber es hat gedauert, du warst eindeutig brillant. Und wenn du mich noch mal so erschreckst, kannst du was ganz schreckliches erleben, das verspreche ich.“ Er mußte grinsen, ich schaffte es aber, wirklich ernst zu bleiben. Er stellte das Grinsen ein und nickte. Doch etwas wollte ich noch. „Ein Satz von dir, ist mir aufgefallen. Du sagtest zu Dez, daß es ausdrücklich in der Prophezeiung steht, daß die Wandlung – nein, die zweite Wandlung – nicht erzwungen werden kann. Das klang mir sehr logisch, würde auch einiges erklären. War das jetzt eine Vermutung von dir, oder hast du Gründe für diese Aussage?“ Er legte den Kopf zurück, schaute die Decke an, die sich in gotischen Bögen langsam in der zunehmenden Dunkelheit verlor. Er sah mich nicht an, als er antwortete: „Nun, es ist einerseits eine Idee von mir. Ich weiß, daß Dez den Worten der Prophezeiung minutiös folgt. Darin steht etwas in dieser Art. Du weißt, ‚gibt ihre Macht der Liebe hin’ und so weiter. Das könnte aber auch bedeuten, daß nur die Dreizehn – also du, Lumina – aus Liebe das veränderte Blut weiter gibt. Von ‚zweiter Hand’ steht nichts dort. Aber es ist auch eine effektive Methode, dich vor Dezmont zu schützen. Er glaubt dieser Interpretation mittlerweile, obwohl seine Erklärung dieser Zeilen abweicht, aber er weiß – wieso wohl – daß du ihm niemals freiwillig diese Gunst erweisen würdest. Also bringt ihm deine Gefangennahme im Prinzip nichts mehr. Und so geht sein Verlangen jetzt von dir auf mich – seinen vermeintlichen Verbündeten – über. Das ist ein netter Effekt, denn damit sind seine Chancen noch weiter gesunken. Aber am Ende weiß ich nicht wirklich genau, wie die zweite Wandlung vollzogen wird. Dafür ist alles viel zu neu aber sei gewiß, es wird nicht lange dauern, bis alle Zirkel davon erfahren haben und bis das neue Blut auch in allen Zirkeln vorhanden sein wird. Und ich meine wirklich alle Zirkel, denn es gibt nicht unter allen von uns ‚böses Blut’, wie die Sterblichen doch so treffend formulieren.“ Eine Zeitlang saßen wir schweigend und jeder von uns hing seinen Gedanken nach. Dann meinte ich: „Viel Spaß, wenn du das Gabriel erklärst. Ich könnte mir vorstellen, daß er bei einigen, deiner langfristigen Vorbereitungen etwas ungehalten reagiert.“ Auf einmal schaute er gar nicht mehr so entspannt an die Decke sondern schon fast ein wenig besorgt zu mir rüber. Sein Gesicht verschwand langsam, es war fast soweit aufzubrechen. „Ich fürchte, du hast recht, das wird eher unangenehm. Aber am Ende haben sich meine kleinen Vorbereitungen ja ausgezahlt, sonst wären wir vorhin echt aufgeschmissen gewesen. Doch ich denke, wir sollten uns langsam bereit machen. Unsere Freunde sollten mittlerweile unterwegs zur Burg sein und Dezmont könnte auch jederzeit eintreffen. Sollen wir gehen?“ Ich nickte nur, griff nach meinem kleinen Mikrofon und flüsterte leise: „Wir sind in der Kirche und kommen jetzt raus.“ Da der kleine Ohrstöpsel nicht wieder aufgetaucht war, konnte ich eine eventuelle Antwort nicht hören, bis Phale sich vor den Kopf schlug. „Ich Esel, entschuldige.“ Damit händigte er mir das vermißte Stück aus. Ich steckte ihn ins Ohr und hörte mehrere Leute gleichzeitig in meinem Kopf sprechen. Es dauerte eine Weile, bis ich Charon identifizieren konnte. „Seid still, ich höre nur Chaos“ meinte ich leise. Dann „es ist alles ok, wir sind auf dem Weg nach draußen, Dez sollte jetzt jederzeit eintreffen und Kolya, Thorben, eventuell bleibt Seraphina unten, also schaut, ob ihr sie nicht irgendwie von den Bösen los bekommt.“ Es blieb erschreckend still im Kopfhörer, dann wieder Charon. „Verstanden. Wir waren in Sorge. Seht zu, daß ihr hier bald auftaucht. Wir kümmern uns um Seraphina aber wir wollen endlich wissen, was in der Burg los war. Seit John das Demontieren erklärt hat, war hier Funkstille. Also, los, bis gleich.“ Und damit schwieg der Ohrhörer. Ich sagte leise zu Phale. „Die sind arg schlecht gelaunt, und das wird sicher durch deine Geschichte nicht besser. Wir sollten uns auf den Weg machen.“ Der nickte, seufzte noch einmal und dann verließen wir die Kirche, gingen den Weg am Friedhof entlang und in Richtung der Bäume, die Burg im Rücken, ohne uns umzusehen. Es war dunkel, der letzte Akt konnte beginnen. Der Drache in der MausefalleSuppose – for once – that god‘s existence be a fact Then evil must exist as well, one would expect As light defines itself by dark Whereas dark is of light a part Wir hatten gerade so das Gelände der Burg verlassen, als wir auf John und Serebro stießen, die sich langsam aber offensichtlich näherten, ohne Anstalten, ihre Anwesenheit länger zu verbergen. Immerhin waren sie ja unsere ‚Verfolger’ und sie konnten nicht wissen, daß es vermutlich egal war, ob man sie sah oder nicht. Nathaniel war nicht bei den Männern der Nadiesda Thurus, die sich langsam vor dem Zugang durch das Tor verteilten. John streckte mir die Arme entgegen und einen Moment hielten wir uns in stiller Umarmung. Dann schob er mich ab, sah mich an und grinste: „Läuft scheinbar ja alles prima. Wenn Dezmont jetzt in die Burg geht, wird er nur eine kleine Belagerungsgruppe sehen, die vor den Toren wartet. Wie lange es wohl dauert, bis er begreift, daß seine Beute nicht da ist? Charon ist mit Arpad und seinen Leuten auch auf dem Weg hierher, sie hatten angemessenen Abstand gehalten. So, und eben hat Kolya das Signal gegeben, daß Dezmont mit gut zwanzig Leuten den Durchgang passiert hat. Und ohne Seraphina. Das nenn ich doppeltes Glück.“ Ich warf Phale einen kurzen Blick zu, der mit Serebro sprach. Er schien den letzten Satz aber nicht mitbekommen zu haben. Also meinte ich: „Das hat nicht unbedingt was mit Glück zu tun. Es gibt da noch ein paar Details, die du nicht kennst. Das soll aber Phale später in Ruhe und für alle erzählen. Habt ihr hier irgendwas Vernünftiges zu essen? Da gab es nur Trockenobst und Kekse.“ John sah mich einen Moment fragend an, als ich aber nicht mehr sagte, nickte er, führte mich zu einem der Rucksäcke, die neben der Außenmauer abgelegt waren und zog ein simples belegtes Brot daraus hervor. Ich starrte dieses so schrecklich normale Ding einen Augenblick fassungslos an und biß dann herzhaft hinein. Eine Wohltat. Wortlos reichte er mir dazu eine Flasche mit Wasser. Ich war noch am Kauen, als aus meinem Hörer die lang ersehnte Meldung kam: „Hier Kolya. Die Leute sind durch, wir werden jetzt den Zugang blockieren. Macht euch bereit, vielleicht kommt schneller als erwartet eine Reaktion.“ John sprach ein paar warnende Worte halblaut in die Runde und dann drehten wir uns alle zur Burg, schauten in die mittlerweile fast vollständige Dunkelheit und warteten. Es kam kein lauter Knall oder etwas derartiges. Wir hörten nur ein leises Grummeln, als ob sich einige Felsen gelöst hatten. Das war alles. Und dann war es wieder still und wir warteten weiter. Keine Reaktion von der Burg. Nach einiger Zeit suchten sich die Männer vor der Burg wieder einige Felsen als Deckung und ließen sich nieder. Jetzt mußten wir wohl warten, nur worauf? Das Einzige, was passierte war, daß die zweite Gruppe zu uns stieß, Charon und Arpad mit noch mehr Männern. Wir begrüßten uns ohne viele Worte, nur eine kurze Umarmung aber noch immer keine Zusammenfassung der letzten Ereignisse in der Burg von unserer Seite. Es war ja auch eigentlich nicht mehr wichtig. Dort war jetzt Dezmont mit rund zwanzig seiner Leute und stellte vermutlich langsam fest, daß nicht alles so wunderbar war, wie es zu Anfang geschienen hatte. Charon meinte zu John: „Wir müssen uns darauf vorbereiten, daß wir einige Zeit hier vor der Festung verbringen. Die Leute der Nadiesda Thurus können wechselweise Wache halten denn man weiß nie, ob Dezmont nicht auch über Tage irgendwelche Aktionen planen wird. Aber es wäre hilfreich, wenn wir auf Dauer nicht ständig am Tage zu der kleinen Hütte zurück weichen müßten. Können wir nicht ein provisorisches Gebäude errichten, gleich hier, das uns bei Tage Schutz bietet?“ Serebro, der mit Phale hinzugetreten war, meinte: „Das Problem ist das Material. Wir finden hier kein Holz, das wir problemlos zuschneiden könnten, und für Steine gibt es hier kein Füllmaterial, das sie zusammenhalten würde. Ein einziges gut plaziertes Geschoß könnte da eine verheerende Wirkung haben.“ Aber John grinste und schüttelte den Kopf. „Ob ihr es glaubt oder nicht, Kolya und ich haben schon vorher darüber nachgedacht. Wir haben zwei große Zelte mitgebracht, mit doppelter Wand, die wir vielleicht mit Steinen von außen noch absichern können. Es sind große Teile, die bestimmt an die fünfzehn Leute fassen. Das sollte für eine Zeit doch als Wohnraum genügen. Nur leider hat Kolya die Zelte unten bei dem Felseingang.“ Ich grinste. Ein Plan im Plan. Da waren wieder die Experten an der Arbeit. Auch Charon nickte beifällig. „Gut mitgedacht. Ich werde einige Leute runter schicken, die können überprüfen, ob Kolya und Thorben überhaupt dort ausharren müssen und wenn ja, sollen sie zumindest eines der Zelte mitbringen. Das war gut, John.“ Und so verschwand Charon mit einigen seiner Leute wieder durch den Wald den Abhang hinunter. Fragend sah ich mich um, dann wand ich mich an John: „Sag mal, wo ist eigentlich Gabriel? Er war doch bei der zweiten Gruppe, oder?“ „Nein, wir hatten eindeutige Anweisungen gegeben, kein Kader darf sich hier aufhalten bis sicher ist, daß Dezmont in der Falle sicher verwahrt ist. Und noch ist dieses Signal nicht gegeben. Er hat unten am Sammelplatz der Busse gewartet, bis die anderen Kader und Kaj dort eingetroffen waren. Dort sind sie noch immer und bevor Charon nicht Bescheid sagt, darf auch er nicht hier hinauf. Er ist nur in unseren Bussen mitgefahren, weil er bei dir und seinem Bruder sein wollte.“ Ach ja, das hatte ich ja gehört, aber soweit waren meine Gedanken dann doch nicht mitgewandert. Jetzt erst, nachdem für mich ja fast alles vorbei war, konnte ich mich auf das ‚Drumherum’ konzentrieren. Somit hatte auch Phale noch eine Gnadenfrist, bevor er einiges erklären mußte. Doch es fehlte noch jemand: „Und wo ist Nathaniel? Sollte er nicht auch mit der ersten Gruppe unterwegs sein?“ Während ich nach einem weiteren Brot angelte, setzte sich John neben mich auf den Boden. „Er war bis eben bei uns. Als wir euch aus der Kirche kommen sahen, ist er losgezogen, um sich ein bißchen auf dem Gelände umzusehen. Er will versuchen, unsere Gäste dort ein wenig zu belauschen. Er wird zurück kommen, wenn das Spektakel anfängt. Keine Ahnung wie lange das noch dauern kann, wir müssen jetzt mehr oder weniger darauf warten, wie Darian reagieren wird. Vielleicht passiert schnell was, vielleicht dauert es Stunden. Jetzt ist Geduld gefragt.“ Und leider sollte John mit dieser Einschätzung richtig zu liegen. Nach gut einer halben Stunde kehrte Nathaniel zurück. Nach der Begrüßung berichtete er nur, daß in der Burg Männer herum schwärmten. Er war nicht in der Lage gewesen, unbemerkt einzudringen, an ein Belauschen war gar nicht zu denken. Es war nur deutlich geworden, daß die Männer bisher nicht versucht hatten, die Falle durch den Hauptausgang in der Halle zu verlassen. Damit erschöpfte sich sein Bericht. Fragend sah er dann mich an: „Und wie ist es bei euch gelaufen? Warum war so lange Funkstille?“ Ich sah mich erneut suchend um, Phale war nicht in Hörweite aber ich hatte keinerlei Lust, seine Geschichte zu erzählen. Und natürlich dann auch mehrfach, weil nur John, Arpad und Nathaniel gespannt auf meine Antwort warteten. Ich zuckte mit den Schultern: „Wir haben die Waffen ausgeschaltet und den Großteil der Kommunikation. Phale hat sich um die zwei Männer der Oscuro gekümmert, der Mann aus der Nadiesda Thurus ist – oder besser war – eingesperrt. Wir hatten ein paar äh, unerwartete Entwicklungen, die wir aber gelöst haben. Den Rest soll Raphael erzählen, wenn alle dabei sind.“ John sah mich schweigend an, die blauen Augen weit unter hochgezogenen Augenbrauen. Er wußte sofort, daß da einiges zu erzählen war, aber er sagte nichts und die anderen beiden nickten nur, scheinbar zufrieden. Mittlerweile war es vollständig dunkel und wir saßen in gebührender Entfernung vom Zugang auf dem kälter werdenden Boden verteilt. Wenn in der Burg Licht gemacht worden war, drang der Schein nicht zu uns herüber. Man hörte keine Unterhaltungen und wir hüteten uns, zu dicht vorzurücken, um ein annehmbares Ziel darzustellen. Durch die Stille flüsterte John mir leise zu: „Du fällst ein wenig auf, mit deiner hellen Aura. Es wird Zeit, daß Charon und Kolya mit den Zelten kommen. Ich hab schon früher dieses Warten gehaßt. Und im Moment können wir einfach nicht viel tun, nur warten, was Dez als nächstes vorhat. Hoffentlich kommt der nicht auf den Gedanken, die ganze Situation auszusitzen. Das könnte dann ein langwieriges Unterfangen werden. Er hat sicher auch Leute der Nadiesda Thurus dabei, also können wir auch nicht bei Tage einfach dort einmarschieren. Oder besser, unsere Leute. Ich hab echt noch keine Idee, wie wir der ganzen Sache ein wenig Schwung geben können.“ Ich flüsterte genauso leise zurück: „Und als ich in der Burg warten mußte, war ich auch noch alleine. Das war fast noch schlimmer. Aber wir können Dezmont nicht so lange ungestört Pläne schmieden lassen. Er wird vermutlich innerhalb kürzester Zeit nach Verstärkung schicken und dann sitzen wir vielleicht wirklich in einer Falle.“ „Wie sollte er so schnell Hilfe auftreiben. Er muß erst einmal die Lage sondieren, dann braucht er eine schnelle Kommunikation und dann müssen seine Leute auch noch erst einmal hierher reisen. Ich denke doch, daß wir einige Zeit haben.“ „Was gibt es da zu sondieren, John?“ widersprach ich. „Wir sind nicht da, die Waffen sabotiert, die Aufpasser tot oder eingesperrt, vor der Burg eine kleine Streitmacht, der zweite Zugang blockiert. Ich könnte mir vorstellen, daß er schon bei seinen Leuten angerufen hat und selbst wenn die nicht sofort hier sein können, heutzutage gibt es so viele Möglichkeiten, da könnte die erste Unterstützung in gut zwei Tagen hier sein.“ „Wie kommst du auf die Idee, daß er so schnell nach Hilfe rufen kann oder will, wenn ihr den Technikraum zerstört habt. Aber sobald seine Leute auf dem Weg sind, bleibt uns wirklich nicht mehr allzu viel Zeit. Oder gibt’s da was, was ich noch nicht weiß?“ Er warf mir wieder diesen prüfend, mißtrauischen Blick zu, den er vorhin schon hatte. Etwas verkniffen grinste ich ihn an: „Sicher. Geh einfach davon aus, daß Dezmont jederzeit Hilfe herbeirufen kann und wenn der klug ist, hat er das schon gemacht. Wie gesagt, die Details laßt euch von Phale erzählen, nur rechnet nicht mit endlos viel Zeit für eure Belagerung.“ Bevor John noch was sagen konnte, kehrte Charon mit seinen Leuten zurück, mit Kolya im Schlepptau, sowie den versprochenen Zelten. Sofort machten sich einige der Leute daran, die beiden großen Zelte aufzubauen. Die Seiten wurden mit Steinen stabilisiert, dann legten die Leute abgeschlagene Äste von den niedrigen Tannen über das Dach und die noch offenen Flächen. Noch immer gab es keinerlei Reaktion von der Burg und so zogen wir ‚Oscuro’ uns in das hintere Quartier zurück. Auf dem Boden lagen Decken und jetzt endlich machte jemand eine einzelne Kerze an. Nun war wieder ein Großteil der Organisationstruppe beisammen: John, Kolya, Serebro, Arpad, Phale, Charon, Nathaniel und ich. Thorben hatte einige Leute zur Bewachung des gesprengten Durchganges abkommandiert, er selber war mit ein paar Männern unterwegs, um nach Seraphina und ihren Bewachern zu suchen, die Kaj und Kader warteten am unteren Sammelplatz auf die Aufforderung, zur Burg nachzurücken. Und genau diese gab Charon jetzt über Funk. Dann setzte er sich zu uns auf den Boden: „Sie sind jetzt unterwegs, da sie den direkten Weg nehmen können, sind sie in weniger als einer Stunde hier. Ich denke, ein ausführlicher Bericht von Lumina und Phale sollte bis dann warten, ebenso wie die Beratung, wie es weiter geht. Die Nacht ist noch recht jung, wir haben vermutlich noch gut fünf Stunden, bevor wir uns zurück ziehen müssen. John hat mich eben darauf aufmerksam gemacht, daß wir damit rechnen müssen, daß Dezmont Hilfe herbei ruft, also werden wir uns gar nicht erst auf einen längeren Aufenthalt einrichten. Aber das besprechen wir, wenn alle hier sind.“ Und damit saßen wir wieder in der Stille, beim schwachen Licht einer einzelnen Kerze und hingen jeder unseren eigenen Gedanken nach. Ein seltsamer Zustand. Von draußen klangen keine Geräusche ins Zelt und irgendwie schienen wir für einige Zeit außerhalb von Raum und Zeit zu stehen, um uns herum nichts außer Dunkelheit und hier warmes Licht mit tiefen Schatten. Dann kam vorübergehend Leben in unsere Gruppe, als die restlichen Leute eintrafen, die an der Versammlung in Sonho Noite teilgenommen hatten. Es fehlten nur Scuro Tejat und sowohl Berenice als auch Mikail. Obgleich wir uns erst vor gut einem Tag getrennt hatten, begrüßten wir uns wie nach einer langen gefährlichen Reise. Als ich endlich meine Arme um meinen Raben schlang, war die Welt wieder von Wärme und Hoffnung erfüllt. Ich stand schweigend und genoß nur seine Präsenz, die mich einige Zeit umhüllte. Als wir uns alle im Zelt nieder ließen, wurde es sehr eng, denn wir waren über zwanzig Leute, die da auf dem Boden saßen. Eigentlich hätten wir uns auch draußen niederlassen können, aber hier fühlten sich die meisten doch unbeobachteter. Kolya und Charon gaben eine kurze Zusammenfassung der bisherigen Ereignisse, dann wanderten die fragenden Blicke zu Raphael. Alles wartete auf einen Bericht über unsere Ereignisse in der Burg und meine Weigerung, Details herauszurücken, war auch aufgefallen. Ich saß an Gabriel gelehnt und machte einen entspannteren Eindruck, als ich wirklich war. Phale nickte ergeben und erzählte dann von seinen langjährigen Vorbereitungen und den daraus resultierenden Folgen, sprich, Dezmont Darians Überzeugung, daß ein Verräter in unseren Reihen ihm den erhofften Triumph brachte. Alle hörten seiner Erzählung erstaunlich ruhig zu, es gab weder Zwischenrufe noch andere Äußerungen, selbst mein Rabe schien keine größere Erregung auszustrahlen. Als Phale geendet hatte, war es einige Zeit still, dann meinte John: „Wir können nach dem Bericht mit Sicherheit davon ausgehen, daß Dezmont sowohl die Möglichkeit als auch wohl den Willen hat, sich jederzeit mit seinen Leuten außerhalb der Burg in Verbindung zu setzen. Außerdem ist Phale’s Tarnung jetzt geplatzt. Im Moment versucht Thorben Seraphina zu finden. Sie kann nicht weit entfernt sein. Aber wir dürfen Dezmont nicht viel Zeit lassen, sich gemütlich einzurichten. Wir müssen handeln, bevor Verstärkung kommt. Irgendwelche Ideen?“ Auf einmal redete alles durcheinander. Fragen, Vorschläge, Einwände und Ideen hagelten von allen Seiten auf jeden nieder. Eine Zeit lang konnte man sein eigenes Wort nicht verstehen, bis endlich Nathaniel aufstand und sich in die Mitte stellte. „Stop! Ruhe! Hört auf, durcheinander zu reden. Ruhig!“ Nach etlichen Versuchen schaffte er es endlich, sich Gehör zu verschaffen. Und danach wurden Ideen und Vorschläge in die Runde geworfen, diskutiert, verworfen oder weiter gesponnen. Und so verging sicherlich mehr als eine Stunde. Dann kam plötzlich durch eines der Funkgeräte die Nachricht, daß Thorben mit seinen Leuten Seraphina ausfindig gemacht und aus den Händen ihrer drei Bewacher befreit hatte. Diese Nachricht steigerte die allgemeine Stimmung enorm. Es wurde beschlossen, daß unsere Situation sich kaum verbessern, nur verschlechtern konnte. Somit war jetzt die Zeit des Handelns, sprich, es sollte ein erstes Vorrücken der Leute der Nadiesda Thurus auf die Burg erfolgen. Vorsichtig und möglichst unauffällig sollte getestet werden, wie weit sie gelangen konnten. Doch bevor noch die Leute alle instruiert waren, drang durch die Stille das aufdringliche Klingeln eines Telefons. Wir sahen uns fast alle verwundert um, nur Phale grinste und angelte nach dem schwarzen Rucksack, den er noch immer in seiner Nähe trug. Und daraus zog er das Bildtelefon, mit dem er vorher schon mit Dezmont gesprochen hatte. Mit einem leisen Achselzucken meinte er: „Wir dachte bei unserem Aufbruch, wir könnten es vielleicht noch brauchen, darum hatten wir es eingesteckt, aber nicht mehr dran gedacht. Er wohl schon.“ Nach kurzer Rücksprache nahm Tres – als unser Redner – das Gerät und in einiger Entfernung vom Rest der Leute den Anruf entgegen. Wir konnten dieses Mal nur seine Seite des Gespräches hören, Dezmonts Worte kamen nicht über einen Lautsprecher. Aber der Inhalt war nicht sehr schwer zu erraten, Tres machte es uns einfach. Ein kühles Lächeln war auf seinem Gesicht nach den ersten Worten erschienen. „Hier ist Tres Carr‘Dheas, Sprecher des Corvus-Zirkels. Wen willst du sprechen?“ Kurzes Schweigen dann antwortete er genüßlich. „Du wirst dich etwas präziser ausdrücken müssen, mein Freund. Ich könnte Simeon oder Gabriel anbieten, aber auch Isebel oder Bouvier oder Belorian. Um nur ein paar zu nennen. Die wären zumindest sofort griffbereit. Also, welchen Kader darf ich dir anbieten?“ Dieses Mal war seine Pause etwas länger. Dezmont schien einige Zeit zu sprechen. Tres legte sein frostiges Lächeln nicht ab, hörte nur schweigend zu. Dann meinte er: „Nein, wegen eines einzelnen Mannes würden wir nie solchen Aufwand betreiben. Das wäre doch etwas übertrieben. Aber eine gemeinsame Aktion gegen einen Teil eines Zirkels, der den Kodex nachhaltig verletzt und Unschuldige gefährdet, das kann uns Individualisten erstaunlich gut zusammenschweißen. Ich denke, du verstehst schon den Unterschied.“ Und damit reichte er den Hörer an Gabriel und meinte grinsend in die Runde: „Gespräch für den Kader des Corvus-Zirkel. Der Kader des Anguis-Zirkel, Dezmont Darian wünscht ihn zu sprechen.“ Irgendwie war Tres Art ansteckend, kühl aber doch fröhlich-gelassen. Einige der Anwesenden spiegelten seinen Ausdruck, Gabriel zog zumindest einen Mundwinkel hoch und nahm ihm den Hörer ab. Wieder lauschten wir anderen schweigend. Ich hörte durch Gabriels Nähe zwar die Stimme unseres Widersachers, aber er war nicht zu verstehen. Gabriel eröffnete die Unterhaltung, als wäre die Situation völlig normal. „Hallo Dezmont. Lange nichts mehr voneinander gehört.“ … „Nein, in Kanada haben wir uns wohl knapp verfehlt, du hattest ja wohl keine Lust, auf mich zu warten.“ … „War das nicht vor sechs oder sieben Jahren?“ … „Genau. Ja, manches ändert sich, manches nicht.“ … „Die ist hier bei mir, in Sicherheit, und an meiner Seite, wo sie hin gehört.“ … „Nein, das habe ich nicht, aber darum geht’s nicht. Tres hat schon richtig gesagt, es geht nicht darum, daß ich einen Groll gegen dich hege, wir haben ja schon immer gewisse Differenzen gehabt. Du und deine Leute haben die Grenze weit überschritten, nach der sogar wir uns richten müssen. Wenn eine Mehrheit der Kader zu dieser Erkenntnis gekommen ist, hilft dir auch Scuro Fenian vom Rat der Alten nicht mehr.“ Wieder hörte er zu, dieses mal länger, während wohl Dezmont seine Sicht der Dinge schilderte. „Ich habe keine derartige Absicht. Aber ich werde auch nicht zulassen, daß du dich gemütlich zurücklehnst und auf Verstärkung wartest. Ich gebe dir Gelegenheit, freiwillig herauszukommen. Es würde mich freuen, wenn wir uns von Angesicht zu Angesicht unterhalten könnten. Und ich biete dir einen fairen Zweikampf an, nur du und ich. Wenn du gewinnst, kannst du mit deinen Leuten ungehindert abziehen. Wenn ich gewinne, werden deine Leute sich widerspruchslos ergeben und sich unserem gemeinsamen Ratsschluß unterwerfen.“ Wieder folgte eine längere Pause. Wenn Dezmont etwas sagte, sprach er sehr leise, ich konnte nicht einmal mehr eine Stimme hören. Gabriel saß noch immer ruhig neben mir, die Blicke der anderen auf sich. „Weil ich es so sage. Denk darüber nach, aber nicht zu lange.“ Damit nahm er den Hörer vom Ohr. Phale griff wortlos danach und beendete die Verbindung. Der Rabe sah sich im Zelt um, alle warteten gespannt auf seinen Bericht: „Ich hatte den Eindruck, daß der Weiße Drache sich sehr schnell mit seiner ungünstigen Position abgefunden hat, daß er sie möglicherweise gar nicht als so ungünstig sieht. Er wird über meine Vorschläge nachdenken. Ach ja, und wenn er sich dem Duell stellt, habe ich ihm mein Wort gegeben, daß wir uns an die Vereinbarung halten werden.“ Wieder starteten leise Unterhaltungen in unserem Zelt. Vorerst wurde nur beschlossen, Dezmont eine Zeit der Überlegung einzuräumen. Sobald der Tag anbrach, würde ein Teil der Männer der Nadiesda Thurus zur Burg vorrücken und versuchen, Dezmonts Leute auszuschalten, die sich im Licht bewegen konnten. Ein Einnehmen der Burg wurde vorerst verschoben, weil wir noch keine Vorstellung von der Art der Gegenwehr hatten. Das sollte ebenfalls im Laufe des kommenden Tages soweit möglich ausspioniert werden. Also, alles in allem, wir würden weiter warten. Mein Rabe mit den anderen Wesen der Dunkelheit im Zelt, die anderen Männer weiträumig um die Burg verteilt. In Ermangelung einer anderen Tätigkeit trennten wir uns für einige Zeit. Noch war es dunkel und würde auch noch einige Zeit so bleiben. Gabriel und ich zogen uns ein wenig zurück und er ließ sich mit Blick auf die Festung an einem Felsbrocken nieder, ich lehnte mich gemütlich an ihn. Es herrschte irgendwie weiterhin diese seltsam entrückte Stimmung. Überall sah man dunkle Schatten, die durch die sternklare Nacht huschten, man hörte hin und wieder leise Stimmen aber dennoch schienen wir völlig allein, noch immer – wie ich es schon vor einiger Zeit empfunden hatte – von Raum und Zeit losgelöst. Erst durchbrach keiner von uns das angenehme Schweigen, dann frage ich leise etwas, was ich vorhin schon im Kopf gewälzt hatte: „Sag mal Gabriel, du schienst mir nicht so überrascht von Phales langfristigen Vorbereitungen, wie ich es war.“ Ich hatte es eigentlich als Frage formulieren wollen, aber er verstand mich auch so. „Ich war auch nicht so überrascht, wie ich es hätte sein sollen. Phale kann seine Gedanken und Gefühle sehr gut verbergen, viel besser als ich es jemals konnte oder können werde. Dennoch, wir sind Brüder, nicht nur durch das Blut der Oscuro verbunden, es ist viel mehr in diesem Band. Daher habe ich eine Art Verdacht gehegt, nichts präzises, aber ich wußte, daß er – trotz seines Rückzuges in seine persönliche Dunkelheit – nie vollständig aufgehört hat, seine Welt zu beobachten. Und dabei immer das Wohl unseres Zirkels im Auge behält. Also konnte ich ihn getrost walten lassen, er weiß fast immer, was er tut. Ich bin nicht sicher, ob seine Entscheidung, mit dir das Blut zu tauschen, klug war, aber aus anderen Gründen. Im Moment ist er mir fern, wir teilen zum ersten Mal seit unserer Geburt nicht das gleiche Blut, es trennt uns sogar vorläufig voneinander. Das tut mir weh. Aber wie könnte ich ihm das Recht der eigenen Entscheidung streitig machen. Und jetzt, wo wir fast am Ende der Reise sind, hat sich seine Weitsicht für uns alle bezahlt gemacht.“ Ich schwieg dazu. Daß das Blut sie trennte, daran hatte ich auch kurz mal gedacht, aber was hatte Phale gesagt? „Schon bald wird dieses Blut, das euch jetzt voneinander entfernt in vielen Mitgliedern der Oscuro fließen. In jedem Zirkel wird es sich finden, wenn es denn durch den Blutstausch weiter gegeben wird. So hat es jedenfalls dein Bruder formuliert.“ „Er hat es richtig erkannt. Jeder, der das Blut der zweiten Wandlung in sich trägt, kann es auch weiter geben. Und das ist wie eine Lawine. Du, Phale und Liobá werden die Auslöser sein. Dann folgen Bouvier, Kolya, John und so wird sich der Kreis ausweiten. Phales Gedanken über die Art der Weitergabe sind interessant, vielleicht hat er sogar das letzte Puzzleteil gefunden und das würde auch bedeuten, daß bei der Weitergabe an Freunde es keine weiteren Todesfälle geben wird, denn wir tauschen nur in Liebe das Blut. Vielleicht gibt es aber andere Auswahlkriterien, außerhalb unseres Verständnisses oder Einflusses. Es ist völlig egal, es gibt kein Entkommen, wir sind – ja, in den Kreis eingetreten und darin gefangen.“ Er schwieg und wieder schauten wir einige Zeit ohne wirklich zu sehen auf die Schatten um uns herum. Mir war aufgefallen, daß er seinen Namen bei der Nennung unserer Freunde ausgelassen hatte. Er war doch wohl ebenfalls ein Teil dieser Lawine. Aber ich konnte den Gedanken nicht verfolgen, denn er meinte: „Und da ich letzte Nacht viel Zeit hatte, über diese Dinge nachzugrübeln, habe ich das auch ausgiebig getan. Hast du mal über unser Symbol nachgedacht, den Kreis mit der durchbrochenen Linie im unteren Teil? Nein? Ich schon. Wie wir alle, übrigens zu manchen Zeiten. Das Symbol soll angeblich noch viel älter sein, als die Prophezeiung. Daraus würde resultieren, vorausgesetzt, es hat überhaupt eine Bedeutung, daß wir zwölf Zirkel der Kreis sind. Nur eine von vielen Überlegungen. Wir werden, oder sind, getrennt durch diese Linie, ein kleiner und ein großer Teil. Aber genauso könnte dieses Symbol zum Beispiel eine Sonne oder den Mond darstellen, die sich über den Horizont schieben. Im Grunde ist es nicht wichtig, es macht aber fast Spaß, über solche Dinge nachzudenken. Ebenso, wie über eine von vielen möglichen Interpretationen der Prophezeiung. Worauf ich hinaus will: Wir genießen Abende vor dem Kamin mit Freunden, unsern Liebsten und einer guten Flasche Wein, früher vielleicht vor einem Lagerfeuer in ein philosophisches Gespräch vertieft. Das ist ein Moment des Friedens, des Glücks, der uns ein Stück Ewigkeit schenkt. Du und ich, unsere Freunde und Vertrauten, wir sind reich an solchen Momenten. Doch Dezmont ist trotz all seiner Bemühungen nach Macht und Herrschaft ein armer Mann, da er diese Liebe und Vertrautheit niemals spüren wird. Ich empfinde neben dem Zorn, der an Kolyas verletztem Körper tief in mir gewachsen ist vorwiegend Mitleid mit ihm. Ich könnte ohne die Liebe meiner Freunde nicht leben.“ Er hatte seine erstaunlich lange Rede beendet. Ich ließ langsam seine Worte in mein Gehirn sinken. Auch ich dachte mit Begeisterung und Wärme an unsere Abende vor dem Kamin zurück. Ja, das war etwas wunderbar Vertrautes, das ich nicht so in Worte hätte fassen können. Wie hatte ich vorher ohne leben können? Es stimmte, Dezmont war ein armer Mann. Aber: „Ich verstehe, was du meinst, doch ich gebe zu, daß ich Angst um dich habe. Wie kannst du dir deines Sieges sicher sein? Ich will nicht, daß dir was passiert.“ Er zog mich etwas fester an sich. „Keine Sorge, meine schwarze Rose. Ich habe keinerlei Zweifel. Ich glaube an mich, meine Kraft, deine Liebe und ein Schicksal, das weiß, was sich gehört. Und mein Mitleid für den Weißen Drachen geht nicht so weit, ihn zu verschonen, dafür hat er meinem Kaj und meiner Gefährtin schon viel zu viel Schaden zugefügt, von dem Chaos innerhalb seines Zirkels gar nicht zu reden. Nein, habe keine Sorge, Lumina. Wenn morgen früh die Sonne aufgeht, wird alles vorbei sein. Und jetzt laß uns zu den anderen zurück gehen.“ Was konnte ich noch gegen so viel Überzeugungskraft vorbringen? Also schenkte ich ihm nur einen langen Kuß, dann kehrten wir in das Zelt zurück, wo sich schon einige der anderen Leute wieder eingefunden hatten. Es konnte nicht mehr lange bis zur Dämmerung dauern, diesen Tag mußten wir hier im Zelt noch überstehen. So ließ ich die leise Unterhaltung der anderen an mir vorbei plätschern und begann, im Arm meines Rabens leicht zu dösen. Um MitternachtPrepare for the final battle, come, gather fast Raise your sword, call for strength from your past Harden your heart to wreath or to weakening sorrow Then you‘ll be the man to prevail till tomorrow So, wie ich eingedämmert war, wachte ich an Gabriel gekuschelt auf dem Boden des Zeltes auf. Offensichtlich hatte Dezmont sich nicht mehr gemeldet und es war mittlerweile Tag geworden. Von draußen drangen leise Stimmen herein, in der Nähe schliefen Kolya, Cesira, John und Charon. Serebro war auch da, in flüsternder Unterhaltung mit Belorian und Simeon, Arpad hörte leicht gelangweilt zu. Der Rest der Kaj und Kader war nicht da, also vermutlich in dem anderen Zelt. Leise erhob ich mich, winkte den Leuten zu, die wach waren und quetschte mich durch den schmalen Spalt aus dem Zelt. Es war hell und erstaunlich warm und sicher schon später Vormittag. Die Männer der Nadiesda Thurus fielen mit ihrer dunklen Aura an diesem hellen Tag besonders auf. Sie machten sich soeben fertig, um wohl in Richtung der Burg zu ziehen. In der Menge erkannte ich Nathaniel und steuerte auf ihn zu. „Ist es soweit?“ Fragte ich ihn, als er mich mit einer leichten Umarmung begrüßte. „Ja, Lumina. Wir werden gleich vorrücken. Phale hat uns einen Grundriß von Tschorni-Kro aus seiner Sicht gezeichnet, Dezmont hat sich nicht mehr gemeldet und wir würden gerne spätestens heute abend zumindest einen Teil der Burg in unserer Hand haben, damit die Kaj und Kader nicht noch einen Tag in einem Zelt verbringen. Ein echter Sicherheits-Alptraum. Wir lassen zehn Leute zur Bewachung hier, die anderen werden vorsichtig vorrücken.“ Ich sah mich suchend um. „Wo ist Phale? Kommt er nicht mit euch?“ „Auf gar keinen Fall. Wir lassen doch jetzt niemanden mehr aus der ‚Führungsriege‘ in die Nähe der Festung. Er bleibt als Aufpasser zurück und wir haben ihn mit Funkgerät ausgestattet, damit wir jederzeit kommunizieren können. „Aber du bist doch auch einer aus dieser ‚Führung’, Nathaniel.“ Er grinste mich an und meinte mit einiger Verzögerung. „Wie man’s nimmt. Aber ich werde normalerweise keinem Zirkel fest zugeordnet und was viel wichtiger ist: Die Männer, die vorrücken brauchen einen Anführer, der leitet, koordiniert und mit Weitsicht vorangeht. Und in aller Bescheidenheit muß ich bekennen, daß ich der einzige griffbereite Typ bin, der momentan diese Voraussetzungen erfüllt.“ Da mußte man mitlachen, bei dieser Ausdrucksweise. „Ich kann mir keinen besseren Führer vorstellen, Nathaniel. Aber bitte paß gut auf dich auf, ich will dich heile wieder sehen. Versprochen?“ „Versprochen! Schon alleine, um den Zweikampf zwischen Gabriel und Dezmont zu erleben. Und weil wir einander noch Blut schulden, und vielleicht noch ein wenig mehr. Also Lumina, keine Angst. Und jetzt ab mit dir, wir müssen uns konzentrieren.“ Noch einmal umarmte ich ihn, überprüfte seine heutige Augenfarbe – grau mit einem Hauch von grünen Flecken – und dann zog ich mich hinter die Zelte zurück. Ich ließ mich alleine in der Sonne an einem der Felsen nieder. Was für eine bizarre Situation. In den Zelten die wichtigsten Führer der meisten Zirkel, dahinter eine kleine Streitmacht, und dahinter eine Festung, die frontal bei Tage eingenommen werden sollte. Und so weiter. Was für eine Welt. Ich konnte – und wollte – das Vorrücken der Männer aus meiner Position nicht verfolgen. Ich saß nur still in der Sonne, es war nichts zu hören, und genoß die kräftiger werdende Wärme. Was hatten wir? Mitte Mai. Vor gut zehn Monaten war ich zum ersten Mal Gabriel begegnet. Wie nachhaltig und unglaublich sich mein Leben seit dem verändert hatte. Ich hatte Kraft gefunden, in mir und auch in meiner Umgebung, die ich mir nie hätte träumen lassen. Oder wohl eher Stärke. Und ich hatte Fähigkeiten entdeckt, die jenseits meiner kühnsten Träume residierten, ebenfalls in mir aber vorwiegend auch bei meinen Freunden. Und deren Liebe zu mir, deren tiefstes Vertrauen in mich – völlig ohne Einschränkung oder Gegenleistung – hatten mir das gegeben, was ich bisher gesucht hatte, ohne es überhaupt zu wissen: die Einheit zwischen Herz und Verstand. Die nagenden Stimmen in mir schwiegen schon lange. Ich hatte den Pullover ausgezogen und ließ die Sonne meine Haut aufheizen. Hier oben konnte man bestimmt gut einen Sonnenbrand kriegen. Ich lehnte mich zurück, schloß die Augen und genoß die Stille. Viel später kam Phale um die Zelte und setzte sich neben mich. „Es gibt nichts zu berichten. Nathaniel hat eben Bescheid gesagt, sie sind jetzt auf dem Vorplatz unter dem Balkon und haben bisher keine Menschenseele gesehen. Offensichtlich hat Dezmont seine Leute zurück gezogen. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.“ „Vielleicht hat er an einer Falle gebastelt, vielleicht will er euch bis zur Dunkelheit hinhalten.“ Ich hatte keine Lust, meine Augen bei dieser Antwort zu öffnen. Auch viel Denken wollte ich jetzt nicht unbedingt, einfach die Wärme und Ruhe genießen. Phale machte es sich bequem neben mir. „Vielleicht. Ich habe meinen Trumpf ausgespielt, der Rest liegt nicht mehr in meiner Macht.“ Da gab es nichts drauf zu antworten. Überhaupt, momentan gab es nicht viel zu bereden. Also genossen wir die Wärme, die Sonne. Raphael vielleicht noch mehr als ich. Am frühen Nachmittag tauchte plötzlich Nathaniel bei uns auf. Mit nicht geringer Überraschung setzten wir uns auf und starrten ihn an. Er grinste und setzte sich dann zu uns. „Ein wundervoller Tag, nicht wahr. Der Sommer ist nicht fern. Und dieses Jahr können einige ihn vielleicht mehr genießen, eher würdigen, als es bisher möglich war.“ – Ich war ungeduldig. „Ja, klar, aber was machst du hier. Was ist passiert?“ „Diese Jugend, keine Geduld.“ Grinste er mich an. „Schon gut, ich red ja. Kurz gesagt, in der Halle standen alle Männer der Nadiesda Thurus von Dezmont und erwarteten uns. Nicht als Hinterhalt, sie warteten wirklich nur, und das vielleicht schon seit heute früh. Uns wurde die Nachricht übermittelt, daß Dezmont die Herausforderung von Gabriel annimmt. Heute Nacht, um Punkt Mitternacht wird der Kampf stattfinden. Und wenn Gabriel daran interessiert ist, kann vorher eine Unterhaltung stattfinden, direkt am Kampfplatz. Um einen Hinterhalt auszuschließen, aber auch, um allen ein freies Sichtfeld zu geben, wird das Duell vor der Burg auf der freien Fläche stattfinden. Abgeschlossen durch den Friedhof und die Kapelle und mit Tschorni-Kro als Rückzugsgebiet für die Männer des Anguis-Zirkel. Das behagt mir nicht unbedingt, aber wir können es kaum ändern und Dezmont hat sein Wort gegeben, daß sich keiner einmischen wird. Wir werden auf dem Balkon aber zur Sicherheit einige Leute postieren. Und nach dieser ‚Übereinkunft’ sahen wir keine Notwendigkeit mehr, alle dort bis Mitternacht zu warten. Daher bin ich zurück gekommen um die Kader und Kaj zu informieren. Und ihr liegt hier rum und laßt euch die Sonne auf den Pelz scheinen.“ Phale erhob sich langsam: „Was kann man besseres tun? Die Ruhe vor der Entscheidung gibt Kraft und da du mich nicht mitnehmen wolltest, hab ich mir halt nettere Gesellschaft gesucht. Ich komme mit, wenn du die Neuigkeiten verbreitest.“ Ich blieb alleine zurück. Da war es also. Noch ein paar Stunden und unsere Geschichte endete. Wie auch immer. Was tun Generäle oder Soldaten kurz vor einer Schlacht? Phale plädierte für Ruhe, um Kraft zu tanken. Aber es war ja nicht meine Schlacht, ich konnte nichts dazu beitragen. Im Gegenteil. So langsam wurde die Sorge stärker, die Sicherheit, die Gabriel ausgestrahlt hatte, drang nicht mehr bis in mein Herz. Und es waren noch Stunden bis Mitternacht. Bis dahin war ich ein Nervenbündel und ich würde damit auch noch meinen Raben verrückt machen. Ich stand auf und ging um die Zelte herum bis ich die Burg vor mir sah. Die meisten der Männer waren mit Nathaniel zurück gekehrt, es herrschte ein geordnetes Chaos. Darin fiel ich gar nicht weiter auf. Und bei den ersten begann sich langsam die Aura zu ändern. Noch war sie bei keinem weiß, aber das tiefe Schwarz war bei einigen einem leichten Grau gewichen. Nicht mehr lange, und sie würden alle eher aussehen wie ich, als wie unsere ‚Führer’. Und ich verschwand dann zumindest optisch unter ihnen. Keiner beachtete mich, wie ich ziellos umher schlenderte und mich langsam dem Zugang zwischen Kapelle und Friedhof näherte. Auf Tschorni-Kro selber war keine Bewegung auszumachen aber offensichtlich befanden sich einige Leute schon auf dem Balkon, man sah Schatten hin- und herhuschen, zu erkennen waren die Menschen aber nicht. Ich überlegte ernsthaft, ob ich bei dem Duell zusehen wollte. Würde ich Gabriel nur ablenken, oder eher durch meine Abwesenheit irritieren. Wie konnte ich meine Angst verbergen, was würde passieren, wenn er dort verletzt würde. Ich überlegte, ob ich mir irgendwo hier eine Pistole besorgen sollte. Aber vermutlich war ich trotz allem nicht wirklich in der Lage, in kaltem Blut – ha ha, toller Spruch – auf Dezmont zu schießen und außerdem hatte Gabriel sein Wort gegeben, wie konnte seine Gefährtin sich darüber hinweg setzen. Also verwarf ich die Idee. Das kam davon, wenn man nervös wurde und sich nicht vernünftig ablenkte. Unruhig kehrte ich zu den Zelten zurück. Die Zeit verging einfach nicht, die Sonne hatte sich überhaupt nicht bewegt. Andererseits, die Zeit wurde schrecklich kurz, bis Gabriel sich dem Drachen stellen mußte. Herrjeh! So konnte ich nicht weiter machen. Ich brauchte – ja was? Eine optimistische Sicht der Dinge, jemanden, der mich aufbaute. Ich ging auf das zweite Zelt zu, in dem der andere Teil unserer Gruppe untergebracht war. Wieder zwängte ich mich durch den Spalt. Niemand war am Schlafen, auf dem Boden saßen die Leute und teilten sich Flaschen mit Wasser, Wein und einen Stapel Käse und Fleischscheiben. In einer der Ecken erspähte ich die Gesuchte. Vorsichtig kletterte ich über die Leute, die bereitwillig rückten, bis ich mich in eine Lücke zwischen Trevor und Carré zwängen konnte. Wir hatten bisher kaum Gelegenheit gefunden, uns zu unterhalten. Nach einer kurzen Begrüßung fragte Carré: „Du hast es schon gehört? Heute um Mitternacht im Burghof?“ Ich nickte stumm. Trevor legte einen Arm um mich: „Was ist los? Geht’s dir nicht gut? Oder ist es das Duell?“ Ich nickte erneut. Plötzlich fand ich meine Stimme nicht, wenn ich jetzt reden mußte, würde ich vielleicht die Tränen nicht zurückhalten können. Ich lehnte mich an seine starke Schulter. Carré nahm meine Hand: „Es wird gut gehen, du wirst sehen. Er ist der beste Kämpfer, den ich kenne, er hatte gute Lehrer und er hat den Willen und ein Ziel. Es wird ihm nichts passieren und nach dieser Nacht können wir alle uns auf neue Herausforderungen konzentrieren. Schau nicht so, ich verstehe dich ja, daß du dir Sorgen machst aber das ist unnötig.“ Mühsam schluckte ich und erwiderte: „Das weiß ich alles, hilft mir aber nicht. Ich habe Angst. Aber ich will nicht, daß Gabriel was merkt, dann ist er nachher noch abgelenkt oder so. Was soll ich nur machen?“ „Glaube an ihn. Glaube an seinen Willen und seine Kraft. Er tut dies alles nicht für dich, bedenke das immer, er tut es für uns. Du bist nur ein Teil davon, wenn auch ein wichtiger. Aber es ist auch für Kolya oder für Phale. Aber auch solche wie Trevor und mich, Belorian, Serebro und selbst für solche wie Dyke oder diesen Otis, den ihr getroffen habt. Denn die Welt wird sicherer, heller, wenn solche wie Dezmont nicht mehr darin wandeln. Und wenn ich ganz hart sein soll: Auch wenn Gabriel verlieren sollte – was ich nicht glaube – dann geht das Leben dennoch weiter. Wir würden Dezmont mit seinen Leuten ziehen lassen und uns sammeln. Vielleicht neu formieren, vielleicht die ganze Sache erst einmal ruhen lassen bis es zu einer erneuten Konfrontation kommt.“ Diesen letzten Gedanken von ihr wollte ich nicht näher erkunden. Zum Glück mischte sich jetzt Trevor in die Unterhaltung. „Siehst du, so baut Carré mich auch immer auf, da wundert sie sich, daß es mir hinterher oft schlechter geht. Aber ich weiß was wirklich Interessantes: Gabriel muß zu dem Duell einen Begleiter mitbringen, früher wurde solch ein Mensch Sekundant genannt. Stell dir vor, wen er ausgewählt hat, und wer – in Konsequenz – ein klein wenig beleidigt ist?“ Ich überlegte kurz. „Ich würde zuerst auf Kolya tippen, ich meine als Begleiter. Phale dort hinzuschicken wäre wohl aus mehreren Gründen nicht sinnvoll.“ Trevor grinste triumphierend. „Ha! Das hätten wir auch vermutet. Aber Kolya ist der, der etwas verschnupft ist. Gabriel hat Charon gebeten, ihn zu begleiten und der hat zugestimmt. Eine sehr ungewöhnliche Wahl und obwohl ich sie ausgezeichnet finde, frage ich mich doch, wie er darauf gekommen ist. Du mußt wissen, damit gehen noch ein paar mehr Verpflichtungen einher.“ Und damit erhielt er einen derben Rippenstoß von seiner Gefährtin. „Irritiere sie nicht. Kolya ist zwar einigermaßen gesund aber noch nicht so fit, wie er sonst schon war. Gabriel kann keinen anderen Kader als Begleiter wählen und wie du schon selber sagtest, Lumina, ist Phale die denkbar schlechteste Möglichkeit. Charon war ein genialer Schachzug. Er ist enorm stark, in vielen Dingen der einzige, der es mit Gabriel aufnehmen könnte. Er wird eine große Hilfe sein.“ Wie immer interessierten mich jetzt viel mehr die Dinge, die sie nicht sagten. Warum konnte er keinen anderen Kader wählen, Bouvier wäre sicher gerne bereit, ihm zu assistieren und was waren Charons andere ‚Aufgaben’ bei diesem Duell? Doch auf eine entsprechende Frage erhielt ich nur ausweichende Antworten. Trevor murmelte etwas von ‚spirituellen Gründen’ und ‚kein Ärger mit Carré bekommen wollen’, selbige erklärte nur: „Ein Kader kann nur von jemanden aus dem eigenen Zirkel oder von jemandem ohne Zugehörigkeit vertreten werden. Nathaniel wäre theoretisch auch eine Möglichkeit gewesen, vielleicht aber etwas unfair, weil er – wie Phale ja jetzt auch – ein anderes – manche würden meinen, stärkeres – Blut in sich trägt, dadurch möglicherweise der Verdacht entstehen könnte, daß nicht alles korrekt abläuft. Das ist eigentlich der Grundgedanke.“ Wir redeten noch ein wenig über meine Erlebnisse in der Burg, dann verabschiedete ich mich, um in das andere Zelt zu wechseln. Zumindest war ich jetzt etwas ruhiger. Ich überlegte, ob ich Gabriel, Charon oder jemanden anderes nach der Bedeutung eines Sekundanten befragen sollte. Wir würden sehen. In meinem Zelt war auch allgemeines Essen angesagt, alles saß im Schneidersitz und die Stimmung schien hier bestens. Gabriel begrüßte mich mit einem entspannten Kuß und ich ließ mich zwischen ihm und John nieder. Kolya saß uns gegenüber und wenn er böse war, so konnte man es ihm nicht ansehen. Charon unterhielt sich leise mit Cesira und alles schien so locker und normal, daß man nicht vermuten konnte, daß in einigen Stunden ein Duell auf Leben und Tod folgen würde. Ich hatte mir doch eigentlich abgewöhnt, mich zu wundern… Der letzte KampfFor the Thirteen a mortal battle will find Two passionate men, and one of them blind Both forced by some destiny‘s will Both with determination to kill Irgendwie verstrich dann die Zeit und langsam wurde es draußen dunkler. Mittlerweile hatten eine Menge der Männer der Nadiesda Thurus ihre helle Aura zurück, nur noch gut die Hälfte von ihnen war noch schwarz. Für zehn Uhr wurde eine Versammlung angesetzt, vor den Zelten, in Sichtweite von Dezmont und seinen Leuten. Von der Festung kam jetzt Licht, die Räume, die in unsere Richtung gelegen waren, wurden von Feuerschein erhellt und auf dem Balkon waren – laut Berichten unserer Leute der Nadiesda Thurus – sowohl Dezmonts als auch unsere Leute verteilt. Vom Weißen Drachen war noch nichts gesehen worden. Und obwohl wir sein Wort hatten, hielt sich das Vertrauen in Dezmont so weit in Grenzen, daß ein direktes Zielen auf unsere Versammlung durch unsere Leute blockiert wurde. Wir waren eine große Gruppe. Irgend jemand kommentierte daß, wenn hier jetzt eine Bombe fiel, der Großteil der Führungsriege ausgelöscht würde. Niemand fand das sehr lustig. Meine zwischenzeitliche ‚Ruhe’ hatte sich effektiv verflüchtigt und ich näherte mich der Unruhe vom Nachmittag. Im Gegensatz zu meinem Raben, der gelassen und konzentriert wirkte, wie selten. Niemand sprach ihn jetzt an, obgleich er mitten in der Gruppe saß. Doch er schien etwas abwesend und nach einiger Zeit erhob er sich still, lächelte mir zu und zog sich hinter die Felsen zurück. Ich wollte ihm gerade nach gehen, da hielt Charon mich auf und zog mich etwas außer Hörweite. „Es ist meine Aufgabe, ihn bei dem Kampf zu unterstützen. Dazu gehört auch, ihm die Ruhe zu verschaffen, sich zu sammeln und zu konzentrieren. Das tut er jetzt. Bitte lenke ihn nicht ab, er wird zu gegebener Zeit noch einmal zu dir kommen.“ Ich nickte. „Carré sagte, daß Gabriel dich gebeten hat, sein Sekundant zu sein. Darf ich fragen, warum oder ist das unhöflich?“ „Nein, natürlich nicht. Überhaupt kennen nicht viele die volle Bedeutung des Sekundanten. Es kommt heute nur noch sehr selten vor, daß so ein großes Duell stattfindet, das letzte dieser Art ist einige Jahrzehnte her. Mal sehen, meine Aufgabe ist unter anderem, ihm Gelegenheit zu geben, sich vorzubereiten. Wir werden auch eine Art geistige Verbindung eingehen, ich werde meine Kräfte mit ihm teilen. Somit kann er niemanden wählen, der ungeübt oder schwach ist. Ich werde auch die Rechtmäßigkeit des Kampfes überwachen, wenn Dezmont betrügt, muß ich einschreiten. Das kann vielleicht das Beobachten seiner Leute sein, aber auch aktives Einschreiten gegen Dez selber. Ich werde ihn und mich auch geistig abschirmen. Phale kommt aus anderen Gründen nicht in Frage, zum Beispiel wegen seiner Fähigkeit, jetzt eine Kirche oder einen Friedhof zu betreten oder im Licht zu wandeln.“ Er schwieg. Mittlerweile war es vollständig dunkel, sein Körper wurde von hinten vom Feuerschein beleuchtet, seine dunkle Aura strahlte darüber. Wieder drang seine Stärke zu mir, schien die Sorge in mir zu umschlingen und zu beschwichtigen. Spontan trat ich auf ihn zu und legte meine Arme um seinen Rücken. Die Kraft schwappte wie eine Welle über mich, er schien von innen in schwarzem Feuer zu glühen, Wärme drang durch seine und meine Kleidung tief in die Haut. Ich zog ihn herunter und er beugte den Kopf, bis meine Lippen fast sein Ohr erreichten. Leise flüsterte ich: „Sorge dafür, daß ihr beide unbeschadet zurück kehrt. Ich will euch zwei zurück, so, wie ihr jetzt seid. Paß auf euch auf, Charon.“ Er erwiderte die Umarmung, zog mich fest an sich und antwortete ebenso leise: „Das ist meine Aufgabe, und die werde ich erfüllen. Gabriel erweist mir eine sehr große Ehre damit. Und eine enorme Verantwortung. Und daß, obwohl wir uns erst so kurz persönlich kennen. So, und jetzt zurück ans Feuer mit dir, du frierst und ich muß jetzt zu Gabriel.“ Er drückte mich noch einmal fest an sich, dann schob er mich zurück und folgte Gabriels Weg hinter den Zelten in Richtung Bäume. Die Unterhaltung war gedämpft, einige saßen nur schweigend und starrten in die Flammen. Kolya und John flüsterten leise miteinander, Carré und Trevor saßen still aneinandergelehnt, die Männer der Nadiesda Thurus standen oder saßen größtenteils tatenlos in der Landschaft, soweit sie nicht als Wachen eingeteilt waren. Die Stimmung war schon fast miserabel zu nennen. Und plötzlich schien die Uhr sich an ihre Aufgabe zu erinnern und begann, die Zeit rasend schnell nachzuholen, die sie am Nachmittag vertrödelt hatte. Eine Viertelstunde vor Mitternacht begannen unsere Begleiter, vorbereitete Fackeln anzuzünden. Nicht nur ein paar, sie brachten bestimmt fünfzig davon über den Zugang zu dem Gelände vor der Burg, steckten sie in den felsigen Boden, befestigten sie mit Steinen und selbst der Balkon über dem Kampfplatz erstrahlte von eine Vielzahl von Fackeln und Öllampen. Auch der Zugang zwischen Kapelle und Friedhof wurde so ausgeleuchtet, es sah aus, wie ein heidnisches Beschwörungsfest. Gabriel und Charon waren nicht wieder aufgetaucht und ich fühlte mich schrecklich – alleine, hilflos, besorgt und deplaziert. Einige der anwesenden Kaj hatten sich erhoben, unter ihnen Kolya – und mit ihm John – und gingen langsam den Weg an den Fackeln vorbei zum Duellplatz. Auch Raphael war nirgends zu sehen und irgendwie wußte ich nicht, was ich als nächstes tun sollte. Dann endlich ein Lichtblick. Liobá! Sie kam auf mich zu und nahm mich erst mal wortlos in die Arme. „Meine Güte, du siehst schlimm aus! Ich kann mir kaum vorstellen, wie du dich fühlst. Schrecklich, erst dieses Warten und dann noch der Zweikampf. Du weißt doch, hier hat niemand den geringsten Zweifel, daß Gabriel gewinnen wird. Bouvier hat erzählt, daß Charon mit der Aufgabe des Sekundanten eine ganze Menge Pflichten übernommen hat, die wohl weit über das einfache ‚aufpassen’ hinausgehen. Irgendwas Langfristiges. Aber er wollte mir nichts weiter dazu sagen. Er meinte, daß würde er nach dem Duell tun. Weißt du irgendwas davon?“ Ich überlegte kurz, er hatte ja einiges erklärt, aber das klang irgendwie verdächtig. Langfristig? Jetzt wurde mir noch kälter, als mir eh schon war. „Keine Ahnung, Liobá, aber ich hab kein gutes Gefühl dabei. Allgemein nicht mehr, ich sterbe fast, ich will eigentlich nur noch, daß bald alles vorbei ist und ich meinen Raben heile zurück bekomme. Ich wüßte aber momentan auch nicht, wen ich fragen könnte, die sind alle recht zugeknöpft und vielleicht will ich das auch gar nicht wissen. Oh schau, Bouvier winkt, es geht wohl los.“ Sie drehte sich kurz um, nickte ihm zu und drückte mich noch einmal. Als ich ihr folgen wollte, schüttelte sie den Kopf: „Nein, Bouvier hat gesagt, daß du mit Charon und Gabriel gehen wirst. Warte besser. Kopf hoch, wir haben schon so viel zusammen geschafft, das kriegen wir auch noch hin.“ Gut gesagt. Kurz vor Ablauf der Frist kamen Gabriel und Charon aus Richtung der Zelte. Die wartenden Kader machten sich mit den anderen Mitgliedern der Oscuro und einem Teil der Leute der Nadiesda Thurus auf den Weg an den Fackeln vorbei. Wortlos bildeten sie einen Kreis gerade außerhalb des Fackelkreises. Nur wenige blieben als Aufpasser bei unseren Zelten oder auf dem Friedhof – immer die Leute auf dem Balkon und den Haupteingang im Auge behaltend. Charon und Gabriel traten auf mich zu, im Hintergrund sah ich die dunkle Gestalt von Phale, verschleiert durch einen dunklen Umhang mit Kapuze. Er nickte nur kurz und gesellte sich dann unauffällig zu den Aufpassern zwischen den alten Grabsteinen. „Du bist blaß, meine schwarze Rose. Wenn überhaupt, sollte doch ich mir Sorgen machen. Lächle für mich.“ Ich fand kaum die Kraft, die Mundwinkel zu bewegen. Er zog mich an sich: „Keine großen Worte. Wenn du willst, bleib hier, aber du mußt nicht unbedingt zuschauen. Jeder könnte es verstehen, besonders ich, es ist nicht so toll zu sehen, wie ein Geliebter sich prügelt.“ Jetzt endlich konnte ich sprechen. „Auf gar keinen Fall, ich könnte es nicht ertragen. Außer, du willst es so.“ Er hielt mich noch fester: „Nein, ich würde mich freuen, wenn meine Gefährtin sich selbstsicher zeigt und an mich glaubt.“ – „Das tue ich doch, Gabriel, ich kann nichts dafür, daß ich Angst habe, ein einfacher Reflex. Bitte … „ Ich wollte nicht schon wieder sagen, daß er auf sich aufpassen sollte. Das wußte er doch. Oder daß er unversehrt zurückkehren sollte. Oder daß ich ihn liebte. Oder … oder… Nein, es gab keine großen Worte mehr. „Ich liebe dich, mein Rabe. Ich glaube an dich und werde es allen zeigen.“ Damit ließ er mich los und sah Charon an. „Das, mein Freund, ist dein Auftrag,. Wie du geschworen hast! Denn ich weiß, wie du zu ihr stehst. Wenn du mich nicht mehr beschützen kannst, ist ihre Sicherheit und ihr Schicksal in deiner Hand, bis du es für angemessen hältst, eine anderslautende Entscheidung zu treffen.“ Der nickte nur schweigend und als die beiden mein nunmehr doch entsetztes Gesicht sahen, mußte der Führer des Blutes dann wohl doch grinsen. „Jetzt hast du sie verschreckt. Hey, Lumina, es ist Ritual. Er muß sich um seine Gefährtin sorgen, bevor es notwendig ist. Er ist der Kader und du könntest seine Aufgaben nicht einfach so übernehmen. Aber es wird nichts passieren, dafür sorge ich persönlich. Also, selbstsicheres Gesicht aufsetzen. Wir müssen gehen.“ Das also hatte Bouvier wohl mit seinem Ausspruch an Liobá gemeint. Doch jetzt verbannte ich all das aus meinen Gedanken. Ich richtete mich zu meiner vollen Größe auf, die noch immer weit unterhalb derer der beiden Männer neben mir lag und dann gingen wir los. Alle waren mittlerweile versammelt und sahen uns entgegen. Der Durchgang mit den Fackeln war gerade breit genug, daß wir drei nebeneinander gehen konnten. Keiner der beiden schien eine Waffe zu tragen und als wir fast am Kreis aus Feuer angekommen waren, öffnete sich die Tür der Burg. Und da sah ich den Weißen Drachen das zweite Mal und wesentlich näher. Da plötzlich war die Erinnerung wieder lebendig, als ich ihn damals vor dem Wohnmobil gesehen hatte. Er war mir schlank und groß vorgekommen und so war es auch. Sogar um einiges größer als Gabriel aber schlanker gebaut, weniger Muskeln. Und er hatte auch diese helle Haut, die ich damals schon meinte gesehen zu haben, sie wirkte farblos, fast durchsichtig, wie es früher manchmal von altem Adel zur Schau gestellt wurde. Und seine Haare waren entsprechend, nicht ohne Farbe sondern von einem erschreckend leuchtendem Weiß, wie Asche und lang und ganz glatt bis fast über die Hälfte des Rückens. Er strahlte wieder Arroganz aus, eine Kälte schien ihn zu umhüllen, die sich in der schwarzen Aura widerspiegelte und sich als Schauer auf meiner Haut manifestierte. Eisig und siegesgewiß mit einem leichten Lächeln trat er hervor, gefolgt von einem Mann aus seinem Zirkel. Ein Mitglied der Oscuro, etwas kleiner als der weiße Drache aber wesentlich kompakter, ein echtes Muskelpaket mit braunen Haaren, die so kurz waren, daß sie eher wie ein Flaum wirkten. Er machte einen kräftigen aber etwas schwerfälligen Eindruck. Nun, Dezmont mußte ja nehmen, wen er bekommen konnte. Als der Kreis der Zuschauer sich für uns öffnete, ließ sich Charon etwas zurück fallen und sagte leise: „Du mußt hier warten, Lumina. Den Rest gehen wir alleine.“ Gehorsam blieb ich stehen, zwischen Serebro und Chayenne, die mir einen aufmunternden Blick zuwarf. Den gab ich entgegen meinen Gefühlen zurück. Gabriel und Dezmont standen sich endlich gegenüber. Zehn Monate hatten uns zu diesem Augenblick geführt. Dez Darian wirkte selbstbewußt, aber mein Rabe nicht weniger. Sie sahen sich einige Zeit in die Augen. Charon und der Begleiter des Weißen Drachen blieben am Rande des Kampffeldes stehen, ihre Schützlinge im Auge behaltend. Gabriels Sekundant legte eine Tasche am Rand der Fackeln ab. Langsam ließen sich die Kombattanten voreinander im Schneidersitz nieder: das war die angekündigte Unterhaltung. Doch sie taten keinem von uns den Gefallen, so laut zu sprechen, daß wir sie hören konnten. Ob ihre Worte bis zu Charon drangen, war fraglich, sie waren sich sehr nahe, ohne daß sie sich berührten, die Hände bei beiden gut sichtbar auf die Beine gelegt. Vielleicht redeten sie auch nicht nur mit Worten, innerhalb der Oscuro waren Bilder ebenso mächtig und manchmal schienen ihre Lippen sich einfach nicht zu bewegen, obgleich ich Dezmont nur von der Seite sehen konnte. Was ging wohl dort vor? Es war kein Versuch, den Kampf zu vermeiden, daß hatte ich verstanden, Gabriel wollte – wie er im Bus gesagt hatte – Antworten von dem Weißen Drachen. Vielleicht hätte ich mich mal nach den Fragen erkundigen sollen...? So saßen sie fast eine halbe Stunde. In unserem Kreis um das Licht fiel kein Wort, es war unglaublich still, kein Wind, keine Tierlaute. Dafür waren wir vielleicht etwas zu hoch in den Bergen. Oder waren wir außerhalb einer normalen Zeitrechnung, in einem Vakuum bis diese Begegnung ihre Vollendung fand? Ich spürte, daß meine Gedanken schon wieder abschweiften. Aber jetzt war die Angst schwächer geworden, ersetzt durch einen gewissen Fatalismus. Dann schien die ‚Unterhaltung‘ auf einmal beendet. Gabriel und Dezmont griffen jeweils den anderen am Handgelenk der rechten Hand. Mit dieser Geste zogen sie sich gegenseitig hoch. Einen Moment wirkte dieser Griff fast freundschaftlich. Dann ließen sie los und sahen sich erneut in die Augen, nickten sich ein weiteres Mal zu und traten zurück zu ihren Sekundanten, die ebenfalls reglos hinter ihnen gewartet hatten. Dezmont war vielleicht einen halben Kopf größer als Gabriel aber, wie schon gesagt, wesentlich schmaler. Dennoch wirkte er hochgradig gefährlich, sehr konzentriert und zielstrebig. Die beiden Helfer nahmen den Kombattanten die Jacken ab, Dezmont’s war selbstverständlich weiß, wie alles, was er trug. Dann entledigten sie sich ihrer Hemden trotz der stärker werdenden Kälte. Einen ganz kurzen Moment wurde mir warm bei dem Anblick meines Rabens, dann erinnerte sich mein Herz wieder an die Situation Charon förderte aus den Tiefen seines langen Mantels zwei rote Seidenbänder hervor und bot sowohl Dez als auch Gabriel eines an. Beide nahmen sie wortlos entgegen und banden damit die Haare zurück, Dezmonts weiße, glatte Mähne und Gabriels dunkle ungebärdige Locken. Und auf einmal waren Waffen da. Sowohl Charon als auch der Helfer von Dezmont hatten jeder ein langes Schwert in der Hand. Wo kamen die auf einmal her? Die Tasche? Beide glänzten im Licht der Fackeln. Sie schienen verziert zu sein, mit ungewöhnlich langem Griff und nur ein simpler schmaler Metallring trennte ihn von der Klinge. Gabriel nahm es mit beiden Händen und hob es, bis die Spitze nach oben deutete, seine Hände ungefähr auf Höhe seines Gesichtes. Dezmont spiegelte diese Bewegung und dann drehten sie sich zueinander. Sie standen sich so dicht gegenüber, daß ihre Hände mit den Schwertern sich fast berührten. Offensichtlich wechselten sie noch einmal einige Worte aber erneut viel zu leise, um sie hier verstehen zu können. Dann traten sie einen Schritt zurück und senkten die Schwerter, bis die Spitzen sich kreuzten. Der Kampf war eröffnet. Vieles in den nächsten Minuten ging an mir vorüber, wie in einem Traum, oder als würde ich unter Alkoholeinfluß stehen. Sie bewegten sich beide mit unglaublicher Geschwindigkeit und doch immer mit der Grazie von Tänzern. Sie wirbelten umeinander, griffen an, attackierten, blockierten, machten Finten oder wichen zurück. Das Krachen der Schwerter aufeinander dröhnte in den Ohren, manchmal konnte man förmlich hören, wie sie Kräfte mobilisierten und immer wieder dazwischen das bösartige Zischen der Schwerter, wenn sie die Luft zerschnitten. Einige Male meinte ich Funken zu sehen, wenn die Waffen mit voller Wucht aufeinanderprallten. Es war ein schreckliches Schauspiel, unsagbar beeindruckend, es zog einen in seinen Bann, ob man wollte oder nicht. Die Leute um mich herum hielten die Luft an, wenn Gabriel zurück wich, von oben ertönten ähnliche Geräusche, wenn Dezmont in Bedrängnis geriet. Aber auf keiner der beiden Seiten war ein deutlicher Vorteil zu sehen. Gabriel hielt das Schwert in der rechten Hand, oft folgte der ausgestreckte linke Arm dem Gegner bei seinen Ausweichmanövern. Einmal stolperte Dezmont, strauchelte einige Schritte zurück bis fast in eine der Fackeln und ließ das Schwert sinken. Doch Gabriel setzte nicht nach, auch er trat zurück und senkte die Waffe, bis sein Gegner sein Gleichgewicht zurück gefunden hatte. Dezmont führte das Schwert größtenteils mit beiden Händen, legte mehr Wert auf Kraft und weniger auf Präzision. Die Anstrengung war nach einiger Zeit deutlich auf ihren Gesichtern zu sehen. Beide hatten Schweißperlen auf der Stirn und dem bloßen Oberkörper, die Schläge kamen nicht mehr so häufig, öfter verharrten die Schwerter, nachdem sie gegeneinander gekracht waren, in stillem Zweikampf der Kräfte. Der Helfer von Dezmont hatte die Hände zu Fäusten geballt, starrte seinen Herren an und schien die Bewegungen fast mitzumachen. Dagegen stand Charon völlig unbeweglich – und dunkel – an der Seite, die schwarzen Augen auf das Geschehen gerichtet. Er zeigte keine Regung, die Hände locker an den Seiten ließ sein Blick doch Gabriel so gut wie niemals los. Fast meinte ich, seine Kraft bis hierher spüren zu können. Was auch immer es war, langsam wurden die Schläge von Dezmont unpräziser und schwächer, Gabriel schien es leichter zu haben, die Angriffe abzublocken. Dann holte Dezmont weit aus, Gabriel parierte erneut, hielt aber nicht den Kontakt sondern griff in einer kurzen, völlig überraschenden Bewegung das Bein von Dezmont an, als dieser noch dem eigenen Schwung des Schwertes folgen mußte. Und Gabriel traf, zuerst erschien eine rote Linie auf der weißen Hose, dann folgte schnell ein sich ausbreitender Fleck auf dem Oberschenkel. Dezmont stolperte erneut rückwärts, durch beide Vorgänge aus dem Gleichgewicht gebracht. Und wieder trat Gabriel zurück, Dezmont stützte sich auf sein Schwert und schwankte einen Augenblick. Sie sahen sich an und dann grinste der Weiße Drache: „Kleinkram. So etwas beachte ich doch gar nicht. Das gibt mir erst den richtigen Antrieb. Mach dich bereit, Kader, jetzt lehre ich dich, daß die Stärke immer triumphiert. Es ist mein Schicksal, die Oscuro durch Kraft in ein neues Zeitalter zu führen und wenn du aus dem Weg bist, kann ich endlich mein Schicksal erfüllen.“ Gelassen aber laut genug, daß alle es hören konnten, antwortete Gabriel: „Nun, dein Schicksal wird sich heute Nacht erfüllen, dessen sei gewiß. Doch hat das nichts mit der Oscuro zu tun und nicht Gier oder Verlangen werden siegen sondern Stärke im Herzen und Vertrauen.“ Dezmont hatte sich etwas gefangen und bei den letzten Worten war er erneut auf Gabriel zugestürmt. Doch dieses Mal hieb er mit roher Kraft von allen Seiten auf meinen Raben ein, daß der vollauf beschäftigt war, die Hiebe rechtzeitig zu blockieren. Die Kraft des Angreifers trieb ihn langsam zurück, bis er sich bedenklich den ersten Fackeln näherte. Von oben kamen einige ermunternde Rufe. Charon stand noch immer unbeweglich am Rande des Kreises, immer etwas entfernt von den Kombattanten ebenso wie sein Pendant. Doch der Führer des Blutes ging nicht mit den Schwertschlägen mit, er sah nur weiter zu, allerdings hatte er die Augen halb geschlossen. Wie konnte er nur so ruhig da stehen, ich brauchte alle Selbstbeherrschung, um nicht … ja was? Ich hatte meine Hände in den Taschen so verkrampft, daß es schmerzte, sie jetzt zu lösen. Mach was, Gabriel! Doch er blockte nur weiter, immer etwas Abstand vom Rand des Kreises haltend, zog er sich zurück, ließ Dezmont einen Schlag nach dem anderen ausführen. Und jetzt endlich zeigte diese Aktion eine Wirkung, wenn auch wohl nicht die, die Dezmont erhofft hatte. Weder kam er durch die Deckung, noch wurden Gabriels Bewegungen langsamer. Aber die harten Schläge zehrten an den Kräften und als Gabe sah, wie Dezmont langsamer ausholte, größere Bögen bei den Schlägen führte, weil er nicht mehr so präzise zuschlagen konnte, sah er seine Zeit gekommen. Mit einer erstaunlichen Reserve an Kraft drehte sich Gabriel nach einem erneuten erfolgreichen Abblocken einmal um die eigenen Achse und erwischte erneut Dezmont am Bein, das durch den Schwung ungeschützt war. Dieses Mal war es das andere Bein und erneut stolperte der Drache zurück. Doch jetzt senkte Gabriel das Schwert nicht, wie zuvor, sondern setzte nach, Dezmont bekam die Waffe nur hoch, weil er beide Hände um den Griff legte aber bei dem nächsten Hieb meines Rabens war er nicht schnell genug: Das Schwert bohrte sich in seine Schulter und schnitt tief in Haut und Knochen, plötzlich war überall Blut auf Dezmonts Oberkörper und der größere Mann ging in die Knie. Erneut zog Gabriel das Schwert zurück, nur um sofort nachzusetzen. Einmal blockte Dezmont den Schlag ab, noch einmal und noch einmal. Weiterhin in kniender Position mußte er das Schwert erheblich höher heben, um seinen Kopf zu schützen und bei dem nächsten Angriff von Gabriel hob er es nicht mehr hoch genug. Gabriel, auf dem Weg zum Kopf seines Gegners, konnte dem unpräzise gehaltenen Schwert des Drachen nicht ganz ausweichen. Doch als die Spitze die Haut an seinen Rippen ritzte, schlug er mit einer einzigen fließenden Bewegung sein Schwert seitlich in den Hals des Gegners. Es war so scharf und mit so viel Kraft geschwungen, daß es nicht einmal stockte und Dezmonts Kopf vom Rumpf trennte. Es war totenstill, das Geräusch, mit dem erst Kopf und dann Körper auf dem steinigen Boden aufschlugen, werde ich niemals vergessen. In einer wenig theatralischen Geste ließ Gabriel das blutverschmierte Schwert auf den Boden fallen. Im nächsten Moment war Charon bei ihm und legte seinen Arm um den leicht schwankenden Mann. Auch auf Gabriels Oberkörper war Blut und ich wollte schon losstürmen, als Serebro mich am Arm hielt. Leise meinte er: „Noch nicht, die Kader müssen das Ergebnis offiziell bekannt geben und wir wissen noch nicht, wie Darians Leute reagieren werden.“ Zumindest der Sekundant stand völlig bewegungslos und starrte seinen gefallenen Führer an. Offensichtlich hatte er ein solches Ergebnis nicht im Traum erwartet. Ich meinte, Belorians Stimme zu erkennen, als ich hörte: „Gabriel hat gesiegt, der Rabe hat über den Drachen triumphiert.“ Dann folgten andere Stimmen, die ähnliche Worte sagten. Charon stand noch immer in der Mitte, hielt Gabriel fest in seinen Armen, der nun doch erhebliche Zeichen von Erschöpfung zeigte. Dann trat Kolya mit einer Decke in den Kreis und damit war der Bann gebrochen. Ich zwängte mich durch und dann war ich zwischen Gabriel und Charon in einer festen Umarmung gefangen, dunkle Wärme und Kraft, eine Mischung aus Gabriels Liebe und Charons Stärke. RückkehrA friend so strong, a love so deep First hidden - unknown treasure But even mighty trees start with a seed Patience pays with years of pleasure Niemand war in der Stimmung, den Sieg zu feiern, es gab keinen Beifall oder Jubelrufe, nur eine leise Erleichterung war zu erkennen. Die Leute von Dez auf dem Balkon kamen ohne weitere Verzögerung nach unten in den Feuerkreis. Keiner machte eine feindselige Geste, alle sammelten sich stumm zwischen den anderen Zuschauern, um uns und den Körper des Weißen Drachen. Dezmonts Sekundant hatte den abgetrennten Kopf aufgehoben und ungefähr in seine vorgesehene Position gelegt. Es war ein surreales Bild, überall an den Schnittstellen sammelte sich das Blut, die weißen Haare lagen schmutzig und ebenfalls mit Blut vermischt wie ein abstrakter Heiligenschein um den Kopf., das Schwert daneben, wie es gefallen war. Der Anblick war abstoßend, trotzdem mußte ich immer wieder den Blick dorthin wenden, mich vergewissern, daß alles vorüber war. Kolya zog Gabriel aus unserer Umarmung: „Komm, Rabe, wir müssen uns deine Verletzung ansehen. Belorian und Bouvier werden sich um Dezmonts Leute kümmern, Serebro hat sich schon den Sekundanten gegriffen. Der wird Anweisungen bekommen haben, und sobald wir uns alle gesammelt haben, können wir die Zeremonie zu Ende bringen.“ Gabriel nickte nur, er war spürbar erschöpft und ließ sich nach einen Augenblick ohne Widerspruch wegführen. Ich stand mit Charon noch immer in der Mitte, bemüht, nicht in die Richtung des Toten zu sehen und doch ständig mit einem Auge dorthin gerichtet. Isebel drängte sich durch die vielen Leute und legte endlich eine Decke über den Körper. Ich schien langsam aus einem Traum aufzuwachen. John trat auf uns zu, gemeinsam mit Nathaniel. Ersterer meinte mit einem schiefen Lächeln: „ich hab ja schon einiges gesehen, aber das war ja echt der Kampf der Titanen. Siehst du, LaVerne, wir haben es alle gewußt, daß Gabriel es schafft. Kannst du dir vorstellen, daß jetzt alles vorbei ist? Das Weglaufen, die Angriffe, der ganze Ärger? Herrjeh, was wird das Leben jetzt langweilig, nach dieser Nacht.“ Der hatte vielleicht Nerven! Nathaniel sah Charon an, schüttelte den Kopf – er hatte wohl einen ähnlichen Gedanken gehabt, wie ich – und meinte dann: „Also, ich glaub kaum, daß wir alle jetzt vor Langeweile sterben werden. Komm Charon, du mußt auch etwas ausruhen. John wird mit Lumina bei Phale warten, wir treffen uns alle in einer halben Stunde hier für den Abschluß.“ Charon nickte mir kurz zu und ließ sich dann von Nathaniel ebenfalls zur Seite führen. Er ging langsam und nach einem leichten Stolpern legte Nathaniel seinen Arm um die Hüfte des Größeren. Ich sah ihnen nach und wand mich dann an John. Zusammen kehrten auch wir dem Kreis den Rücken und ließen uns auf den Felsen vor einem der Feuer nieder, die die Leute der Nadiesda Thurus entzündet hatten. Phale, der mit einem der Männer dort gesprochen hatte, setzte sich zu uns. „Ich war sicher, daß mein Bruder gewinnt, trotzdem fühle ich mich erleichtert und gleichzeitig so erschöpft, als hätte ich selber das Schwert gehalten. Ich bin froh, daß es vorüber ist. Trotzdem macht es mich irgendwie traurig, daß ein Mitglied der Oscuro tot ist. Ich fühle mich irgendwie jetzt leer und ausgelaugt. Das ist oft so, nachdem man unter starker Spannung stand. Wie ist es mit euch, fühlt ihr euch auch so?“ Ich nickte nur und John meinte: „Nun, meine Trauer hält sich verständlicherweise in Grenzen, aber ich fühle mich auch so … äh,… ziellos würde ich es nennen. Aber sicher nicht so erschöpft, wie du. Was passiert jetzt, alle stehen so ein bißchen unsinnig in der Gegend herum.“ Phale sah zu der Ansammlung von Leuten, die noch immer im und um den Feuerkreis standen, eine gemischte Gruppe aus Oscuro, Nadiesda Thurus, Leute von Dezmont und von uns. „Nun, vorübergehend hat der Sekundant von Dezmont die Leitung über den Anguis-Zirkel. Sobald Gabriel und Charon sich erholt haben, wird der Körper des Weißen Drachen verbrannt. Eigentlich ist es die Pflicht der anderen Kader, die dem Duell beigewohnt haben, über das Schicksal der Leute zu entscheiden, ob und wann ein neuer Kader eingesetzt wird und ob es weitere Schritte gegen Leute des Anguis-Zirkel geben wird. Aber ich denke nicht, daß sie das hier durchsprechen wollen. Vermutlich werden wir morgen Abend alle nach Sonho Noite zurück kehren und dort alles besprechen.“ John sah mich an und grinste: „Und da waren sie wieder, die endlosen Diskussionen und unentschlossenen Meinungen. Wo ich grad dachte, daß es langweilig würde… Aber sag mal Phale, ich versteh ja, daß Gabriel erschöpft ist, aber warum Charon? Der hat doch nur da gestanden und einen konzentrierten Eindruck gemacht.“ Raphael schüttelte den Kopf und grinste: „Er hat nicht nur einen konzentrierten Eindruck gemacht, er war auch konzentriert, sehr sogar und noch mehr. Er und mein Bruder haben für einige Zeit eine geistige Verbindung hergestellt, wie eine Brücke, über die Charon Gabriel seine Kraft für den Kampf zur Verfügung gestellt hat. Das hat er doch auch erzählt, oder? Ein kompliziertes Unterfangen, selten angewendet und nur sehr versierte Mitglieder der Oscuro können das durchführen. Das war ebenso Charons Aufgabe, wie der Schutz von Gabes Gefährten, wenn ihm etwas passiert.“ Ich schaute ihn mit großen Augen an, das also hatte er mir vorhin gesagt. Aber Phale schien zu denken, wir hätten ausführlich darüber gesprochen, denn er fuhr unbefangen fort: „Genauso, wie die Organisation des Zirkels, bis der neue Kader sein Amt antreten kann. Zum Glück ist uns das ja erspart geblieben, das hätte ich meinem Brüderchen auch sehr übel genommen.“ John und ich sahen uns erschrocken an. Aber bevor einer von uns diese Redseligkeit noch weiter ausnutzen konnte, kamen Rufe von dem Platz vor der Burg. Alle, die sich entfernt hatten, machten sich jetzt auf den Weg zurück, an den Fackeln vorbei und wieder bildete sich ein Kreis auf dem offenen Platz. Auch wir schlossen uns der Prozession an und näherten uns erneut dem Kreis. Man hatte Holz und Äste gebracht und zu einem flachen Haufen geschichtet. Darauf lag Dezmont, vermutlich mit seinem Kopf, von der Decke verborgen, die Isebel vorhin gebracht hatte. Die Männer des Weißen Drachen standen in der ersten Reihe, an einem Ende der Sekundant. Hinter uns gab es Bewegung und dann traten Gabriel, Charon und Nathaniel zu den wartenden Leuten. Gabriel trug eine der Fackeln in der Hand, die er jetzt mit einer leichten Verbeugung an den wartenden Stellvertreter übergab. Dann stellte er sich ans Fußende. Der Sekundant – dessen Namen wir nicht einmal kannten – hob die Fackel über seinen Kopf und sprach das erste Mal für alle: „Mir wurde die Aufgabe übertragen, die Belange des Anguis-Zirkel zu vertreten, bis ein neuer Kader eingesetzt ist. Daher ist es meine Pflicht, unseren Führer auf seine letzte Reise zu geleiten. Möge das Feuer ihm den Weg leiten, auf seiner Reise in die Dunkelheit der Ewigkeit. Salve Ignis, Dezmont Darian, Weißer Drache, Kader des Anguis-Zirkel.“ Und damit senkte er die Fackel in den Holzstoß und das plötzliche Ausbrechen der Flammen deutete darauf hin, daß er mit etwas Brennbarem getränkt worden war. Die Leiche und das Tuch waren sofort in weiß-blaues Licht gehüllt. Wir alle standen schweigend uns schauten auf die höher schlagenden Feuerzungen. Außer dem Prasseln war kein Geräusch zu hören, niemand sprach und sogar Dezmonts Leute starrten ausdruckslos auf die kleiner werdenden Reste ihres Anführers. Es war ein seltsames Gefühl, hier zu stehen. Erleichterung mischte sich mit einer gewissen Melancholie, die ich eigentlich nicht erwartet hatte. Aber immerhin war es ja wirklich so, daß ein Kader der Oscuro den Flammen übergeben wurde. Vielleicht wirkte die allgemeine Stimmung der Zuschauer auch auf mich, denn trotz der Beschlüsse, die alle gemeinsam gefaßt hatten, war von Freude oder Erleichterung in diesem Moment nichts zu spüren. Wir standen da, bis das Holz in sich zusammensackte. Dann drehte Gabriel sich in die Runde, meinte laut und vernehmlich: „Dezmont Darian, der Weiße Drache des Anguis-Zirkel ist fort. Salve ignis.“ Dann kam er zu mir, legte den Arm um mich und zusammen verließen wir als erstes die Runde, die anderen Zuschauer folgten uns an den Fackeln entlang, die langsam ihre Kraft verloren. Vor den Zelten blieben wir stehen und ich fragte Gabriel leise: „Wie geht es dir? Besser? Du wirkst noch etwas abwesend.“ Er lächelte mich an, schickte mir einen kleinen Schwall Wärme und meinte: „Ich bin nicht abwesend, ich denke nach. Und es geht mir gut, die Schwäche ist so gut wie verschwunden, ich bin nur ein wenig müde nach der ganzen Anspannung. Wir werden den kommenden Tag in der Burg verbringen. Mikail und Berenice wurden bereits informiert und morgen Nacht werden wir nach Sonho Noite zurück kehren. Dezmonts Männer werden mit uns kommen. Dann gibt es noch ein klein wenig Versammlung“ jetzt grinste er wieder richtig gabriel-mäßig „und dann kehren wir nach einer großen Feier zurück nach Hause. Stell dir das vor, meine geliebte Schwarze Rose! Es ist vorbei, wir können leben und lieben und nur noch an angenehme Dinge denken.“ Damit nahm er mich in den Arm und legte für einige Zeit seine Flügel um mich und ihn. Ohne die Bedrohung, die Dezmont immer irgendwie dargestellt hatte, war für eine Weile nur Ruhe und Wärme um uns herum, kein Geräusch, keine Bewegung, kein Licht drang in unsere Finsternis. Stilles Vergessen. Der Tag in der Burg verlief – gelinde gesagt – unspektakulär. Der Kampf und die ziellose Niedergeschlagenheit der Anguis-Männer wirkte dämpfend auf jegliche Stimmung und so suchten wir alle uns nur einen Platz, wo wir in Ruhe den Tag aussitzen konnten. Die Leute der Nadiesda Thurus versorgten uns alle mit Getränken und getrocknetem Fleisch, brachten Lampen und waren irgendwie immer da, wenn man sie brauchte. Kolya und Cesira hatten sich zusammen mit Gabriel, John, Charon, Phale, Bouvier, Liobá und mir in einen der kalten Säle zurückgezogen. Irgendwann kam Dyke auf einem Botengang bei uns vorbei und erzählte grinsend: „In einem der Zimmer stehen Nathaniel und Belorian vor dem Kamin. Der brennt aber nicht, es steht nur eine einzelne Kerze auf dem Tisch und die zwei werfen sich abwechselnd lauter Gemeinheiten zu. Nein, eigentlich nicht Gemeinheiten, sie machen sich gegenseitig Vorwürfe, ohne sich dabei anzusehen, sprechen in den kalten Kamin. Dabei bewegen sie sich kaum, obwohl die Spannung im ganzen Raum schwingt. Im Moment traut sich da keiner rein, trotzdem ist es irgendwie schon fast lustig.“ Wir schauten uns an und nach einem Moment der Stille prusteten wir los, das mußte man sich nur mal bildlich vorstellen. Phale meinte: „Wenigstens sprechen sie jetzt richtig miteinander. Vielleicht räumen sie ja mal alles aus dem Weg, jetzt wäre die passende Gelegenheit dazu, wenn nicht jetzt, wann dann?“ Er erhielt allgemeine Zustimmung. An diesem Tag sprachen wir nicht viel. Wir saßen auf mitgebrachten Decken und wenn jemand was sagte, waren es kurze, halblaute Sätze, die lange einsam und frierend in dem kalten Zimmer hingen. Irgendwann schlief Gabriel mit dem Kopf auf meinen Beinen ein und auch Charon hatte sich auf einer der Decken ausgestreckt. Und so ließen wir alle diesen Tag in Ruhe ausklingen. Ich wollte eigentlich noch gefragt haben, was Dezmont gesagt hatte, verschob das aber. Gabriel brauchte Ruhe und ich war sicher, daß spätestens auf einer dieser berüchtigten ‚Versammlungen‘ darauf die Rede kommen würde. Geduld.... Sobald es dunkel wurde, machten wir uns an den Abstieg. Leute der Nadiesda Thurus hatten bereits alles gepackt und wir ließen alles in der Burg so wie es war. Auch die Überreste des Feuers wurden nicht weggeräumt – ich vermied einen näheren Blick. Es war eine große Karawane, die sich da langsam den Berg hinunter bewegte. Die Leute von Dezmont – so würde ich sie wohl immer nennen – waren irgendwo dazwischen, nicht bewacht oder kontrolliert. Sie folgten ohne Murren, halfen beim Tragen, selbst der unbekannte Sekundant zeigte sich von seiner besten Seite. Und endlich war er auch nicht mehr unbekannt, Simeon hatte uns informiert, daß er sich Heder nannte. Wir gingen langsam und folgten einem kaum erkennbaren Weg, den einige Männer über Tag ausgekundschaftet hatten. Er führte in leichten Kurven abwärts, umging aber schwierige Stellen und wand sich zielstrebig dem Ort zu, wo unsere Busse uns vor einer Ewigkeit abgesetzt hatten. Nach ungefähr anderthalb Stunden gelangten wir an einen offenen Platz und hier standen unsere Fahrzeuge – oh nein, ich hatte diese schreckliche Fahrt völlig vergessen – und es wartete noch eine kleine Überraschung. Neben Thorben, der uns freudestrahlend begrüßte, war auch Berenice mit den Bussen gekommen. Sie meinte nur, als sie erst Phale und dann Gabriel umarmte: „Ich konnte nicht länger warten. Es kursieren so viele Gerüchte, ich will jetzt alles aus erster Hand hören.“ Auch ich wurde mit einer festen Umarmung begrüßt. Während Phale ergeben begann, seiner Mutter die ganzen Einzelheiten zu berichten, erzählte Thorben, daß er Seraphina schon in der vorherigen Nacht hatte abholen lassen. Sie sei unbeschadet aber in einem Zustand unterdrückter Wut gewesen, zum Einen, weil Dezmont sie gefunden hatte und zum Anderen, weil sie dieses ‚Jahrhundert-Ereignis’ verpaßte – wie sie es nannte – ein Duell zwischen Kadern. Aber Thorben meinte grinsend: „Ich hätte es nie für möglich gehalten, aber ich habe es tatsächlich geschafft, ihr den Aufstieg auszureden und statt dessen mit einer warmen Mahlzeit, einem bequemen Bett und der Gesellschaft von Mikail, Berenice und Tejat zu locken. Das gab am Ende den Ausschlag, aber so richtig gut gelaunt war sie nicht.“ Die Rückfahrt war bei weitem nicht so schlimm, wie der Hinweg. Wir hatten es ja nicht mehr so eilig, daher umgingen unsere Fahrer diese Mal die schlimmsten Schlaglöcher und fuhren auch innerhalb einer akzeptablen Geschwindigkeit – wie Tres kommentierte. Er hatte sich die ganze Zeit über sehr zurück gehalten, laut seinen Worten war er eher der Theoretiker als der Praktiker. Ich saß neben Gabriel, sein Arm entspannt über meine Schulter gelegt und lauschte den langsam lebhafter werdenden Unterhaltungen um uns herum. Je mehr wir uns von Tschorni-Kro entfernten, desto besser wurde die Stimmung, desto weniger wirkte der dunkle Geist von Dezmont’s Tod auf die Leute um uns herum – und auf mich. Natürlich dauerte die Rückfahrt länger, trotzdem schien die Zeit wie im Fluge vergangen, bis wir vor der großen Freitreppe ausstiegen. Mikail stand mit Tejat und Seraphina in der großen Halle und erwartete uns. Er umarmte erst Gabriel und dann noch Phale und mich. Dann meinte er: „Ihr freut euch bestimmt auf eine ordentliche Dusche und was vernünftiges zu Essen. Das biete ich in der Reihenfolge. Wir drei werden uns von Berenice schon mal einiges erzählen lassen, damit wir nicht vor Neugierde sterben. Ihr macht euch in Ruhe frisch und dann lade ich euch alle zu einem großen Essen in den Rittersaal ein. Willkommen zurück.“ Zustimmendes Gemurmel machte die Runde und wir alle strebten den uns vorher schon zugewiesenen Zimmern zu. Auch unsere neuen Besucher wurden wie Gäste behandelt und erhielten Räume und Ersatzkleidung. Es war herrlich, den Staub der letzten Tage abzuspülen. Und damit verschwand auch der letzte Rest Melancholie aus meinem Kopf. Angemessen gekleidet und mit noch leicht feuchten Haaren kehrte ich in den Speisesaal zurück, der sich langsam füllte. Berenice winkte mir zu und ich ließ mich neben ihr nieder. „Phale hat mir schon mal einiges erzählt, was seit eurer Abreise passiert ist. Und natürlich mußte er auch seine kleinen Privatvorbereitungen beichten. Manchmal frag ich mich, ob die Jungs wirklich von mir sind, ich war nie so weitsichtig. Oder so leichtsinnig. Glaube ich. Hm… „ ich mußte grinsen. Gerade so ein Ausspruch war der Beweis, daß sie eindeutig die Mutter war. Wir waren in lebhafter Unterhaltung, als Mikail das Dinner eröffnete. Alle waren mittlerweile eingetroffen und auch Scura Seraphina machte jetzt einen gut gelaunten Eindruck. Und nach dem vielen trockenen Zeug der letzten Tage war das Menü, das vor uns Revue passierte, ein Traum. Gabriel saß etwas entfernt von mir direkt neben Mikail aber es machte mir heute nichts aus, ich fühlte mich neben Berenice völlig entspannt und mußte immer wieder Details von unseren Erlebnissen nachliefern. Sie lauschte fasziniert und meinte: „Ich bin irgendwie froh, daß ich nicht dabei war. Ich mag Zweikämpfe, früher hab ich so was auch gemacht, aber ein Duell ist was anderes, ich spüre jeden Schlag gegen meinen ‚Favoriten‘ dann fast, als ob er mir gilt.“ Ich bestätigte, daß es mir nicht viel besser gegangen war. Als wir mit dem Essen fertig waren und uns mit einem guten Wein zurück lehnten meinte sie: „Weißt du, Lumina, daß so viele außergewöhnliche Dinge zusammengekommen sind, niemand hätte etwas in der Richtung nur ahnen können. Tejat hat während euerer Abwesenheit viel darüber gesprochen. Stell dir vor, der Führer des Blutes als Sekundant für einen Kader. Vor einem Jahr wäre das nicht möglich gewesen, der Imprecatio Curor hat immer zurückgezogen gelebt, wurde so gut wie nie unter den anderen Mitgliedern der Oscuro gesehen. Vielleicht sollte die ganze Struktur mal überarbeitet werden. So gefällt es mir besser, und ich bin nicht die einzige, die das meint. Wir haben jetzt zwei Leute des Deliberatio Aetas bei uns, das wäre ne Idee… ich muß mal darüber nachdenken. Ach, es gibt noch so viel zu organisieren, nachzudenken, diskutieren, es ist phantastisch.“ Ich grinste: „Es ist komisch, jetzt, wo alles vorbei ist, sollte man doch meinen, alle kehren zum Alltag zurück. John meinte schon, es würde langweilig werden. Aber wenn ich dir so zuhöre…“ Berenice sah mich verwundert an. „Wieso vorbei? Nur weil Dezmont tot ist, seine Bedrohung keinen Schatten mehr auf die Oscuro wirft? Das kannst du doch nicht glauben. Grade du. Ein Zirkel ohne Führer, der Fluch des Blutes und der Rat der Alten unter unserem Dach, eine Versammlung fast aller Kader, ein neues Blut, eine zweite Wandlung, die uns alle verändern wird. Wie könnten wir da von Normalität reden?“ So hatte ich es gar nicht betrachtet. Aber trotzdem: „Weißt du Berenice, für mich ist mit Dezmonts Tod ein Kapitel abgeschlossen. Etwas, was vor 10 Monaten begann und jetzt endet. Die Dinge, die du aufgezählt hast, sind noch nicht so lange in meinem Leben, daher erkenne ich die Bedeutung wohl noch nicht. Und nichts davon erscheint mir annähernd so bedrohlich.“ Spontan umarmte sie mich. „Du hast recht, LaVerne. Vieles wird sich von selber entwickeln oder die Zeit bringen. Für uns ist es aufregend. Sieh dich hier um, alle Anwesenden sind beschwingt, jetzt können sie den glücklichen Ausgang genießen und voller Neugierde und Vorfreude in die Zukunft sehen. Du mußt bedenken, wenn man so alt ist, wie einige hier, ist jede Veränderung ein willkommenes Geschenk. Monotonie ist tödlich, besonders in den Kreisen der Blutsgemeinschaft.“ Sie hatte die Stimmung im Raum sehr treffend beschrieben. Überall sah man leuchtende Augen, es wurde geredet, gelacht und alle schienen gelöst und entspannt. Mein Rabe fing meinen Blick auf, lächelte uns zu und sprach dann weiter mit Mikail. Den Rest der Nacht verblieben wir im Speisesaal. Das Essen war lange abgeräumt, nur eine Vielzahl von Weinflaschen wurde ständig nachgeliefert. Die Leute unterhielten sich, teilweise am Tisch, in Sitzgruppen vor dem Kamin oder in der benachbarten Bibliothek. Nachdem Berenice sich verabschiedet hatte, sprach ich einige Zeit mit Nathaniel. Er bestätigte, daß er sich mit Belorian – wie er sagte – ausgesprochen hatte. „Er hatte mich vorher schon eingeladen, den Uncia-Zirkel zu besuchen und ich fand, wenn ich schon zusage, soll er auch wissen, was ich denke. Es war nicht einfach, diese vielen Jahre des Hasses, den ich damals empfand, in Worte zu fassen. Auch für ihn war es nicht leicht zuzugeben, daß auch auf seiner Seite Fehler begangen wurden. Weißt du noch, was ich gesagt habe? Stolz ist ein einsamer Freund. Wir werden wohl niemals echte Freunde, doch wir haben unseren Stolz überwunden. Und jetzt freue ich mich darauf, nach vielen vielen Jahren meinen Geburtsort wieder zu sehen. Wenn Belorian abreist, werde ich ihn begleiten“ „Aber noch nicht, oder?“ Wir hatten so wenig Gelegenheit gefunden, miteinander zu reden. Jetzt endlich, war Zeit dazu und da wollte er gleich weiter? Nathaniel lächelte und legte seine Hand auf meine. „Nein, noch nicht, es gibt hier noch einiges zu tun. Aber bald. Und weißt du was, Gabriel hat mich auch eingeladen. Also werde ich einige Zeit bei meinem Onkel bleiben – allzu lange halten wir es noch nicht zusammen aus – und dann werde ich euch besuchen. Schön lange. Dann haben wir endlos Zeit zu reden und dann, meine Liebe, werdet ihr mich besuchen. Und Schnellboot fahren.“ Ich lachte. Das klang gleich viel besser. Wieder etwas, auf das man sich freuen konnte. Wir redeten noch einige Zeit, dann sah ich Liobá auf einem Stuhl, wie sie versonnen in den Kamin sah. Ich hockte mich vor ihren Sessel: „Was hast du? Alles ok?“ Sie schreckte hoch: „Was? Klar, ich bin nur etwas müde. Habe irgendwann Bouvier aus den Augen verloren und ich möchte nicht allein hoch gehen. Ich will einfach noch nicht alleine sein, mich den letzten Ereignissen ohne Begleitung stellen, heute Nacht. Ich will nicht schlafen, nur noch ein bißchen gemütlich reden.“ „Weißt du was, Liobá, ich komme mit, wenn du magst. Ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten, hier gibt es nichts, was wir verpassen und du kannst noch auf mein Zimmer mit kommen, wenn du magst. Dann plaudern wir dort noch ein wenig.“ Sie schien begeistert, fragte aber vorsichtig: „Es macht dir doch nichts aus, oder? Wenn du lieber mit Gabriel hoch gehen willst…“ – „Quatsch. Der ist beschäftigt und ich vermisse unsere gemütlichen Abende auf dem Bett. Weißt du noch?“ Sie lachte und nickte. „Ich auch. Also laß uns ne Flasche schnappen und verschwinden!“ Und das taten wir dann auch. Mit zwei Gläsern bewaffnet machten wir es uns auf meinem Himmelbett gemütlich. Wir redeten noch Stunden, über unwichtige Dinge, triviale Sachen ohne Bezug zu den Ereignissen. Und es tat uns beiden gut. Und natürlich war Liobá nicht bereit, noch in ihr Zimmer zu gehen. Es gab ja hier Platz genug. Kichernd und flüsternd dauerte es lange, bis wir endlich einschliefen. Sevarions ErbeA Man is defined by his honour and deeds No word is as strong than to follow believes Ancestors burdened him with guilt and sins Look to his heart, and trust and truth wins Es gab – wie John richtig befürchtet hatte – noch einige Versammlungen. Und sie waren wirklich langweilig – aus meiner Perspektive. Ganz zu Beginn des ersten Beratungsabends informierte Mikail alle Leute, die an der Versammlung teilnehmen sollten, daß ein weiterer Gast erwartet werde. Fast umgehend nach Dezmonts Ende hatte Heder ein Mitglied des Anguis-Zirkels kontaktiert, der von dem Weiße Drachen als designierter Nachfolger benannt worden war. Der Name des Mannes lautete Sevarion und er war bereits auf dem Wege nach Sonho Noite, wurde aber erst am nächsten Tag erwartet. Da niemand mit diesem Namen etwas anfangen konnte und Heder weder etwas sagen wollte, oder konnte, sahen wir seinem Auftauchen mit gemischten Gefühlen entgegen. Weil unter anderem über das Schicksal der Männer des Anguis-Zirkel entschieden werden sollte, die wir auf der Burg festgesetzt hatten, begann die Versammlung trotzdem wie geplant. Nicht alle nahmen daran teil, die bei der ersten Beratung anwesend gewesen waren. Genauer, es waren fast nur Kader und Kaj der jeweiligen Zirkel anwesend. Es gab ein paar Ausnahmen. Obwohl ich keines von beiden war, wurde ich dazu gebeten, ebenso wie John. Thorben, der Kaj des Satyrus-Zirkels, war bei den ersten Versammlungen nicht dabei gewesen. Und jetzt wurde Heder ebenfalls dazu gebeten und morgen würde auch Sevarion mit an dem großen Tisch sitzen. Es gab eine recht kontroverse Diskussion über die Männer, die Dezmont mitgebracht hatte, der Heder mit regloser Miene lauschte. Die etwas gemäßigten Stimmen plädierten dafür, sie nach einer eindringlichen Ermahnung gehen zu lassen. Dagegen waren einige der Meinung, bei den Gefangenen handele es sich um den harten Kern des Anguis-Zirkels und sie stellen daher eine Bedrohung dar. Ich sah keinerlei Möglichkeit, für mich eine Entscheidung zu fällen, das entzog sich meinem Verständnis. Wieso also, sollte ich hier sitzen, statt meine Zeit mit Liobá oder Berenice oder Carré zu verbringen. Ich saß zwischen Gabriel und John und ertappte mich ständig dabei, daß meine Gedanken abwanderten und ich minutenlang nicht bemerkte, über was gesprochen wurde. Ich wollte doch immer noch Gabriel nach seiner Unterhaltung mit Dezmont befragen. Ich machte mir einen geistigen Knoten ins Taschentuch und versuchte wieder, den Unterhaltungen zu folgen. Mehrfach warf John mir halb amüsierte, halb vorwurfsvolle Blicke zu. Irgendwann flüsterte er: „Ich hab es doch gesagt, das wird hochgradig langweilig. Und garantiert morgen nicht besser. Sechs Leute, acht Meinungen, das grenzt schon an Bürokratie.“ Ich grinste gequält: „Daß du sooo recht hattest, hatte ich nicht geahnt. Die kommen hier nie zu einer Entscheidung, du hast das richtig erkannt.“ Die Nacht wollte kaum zu Ende gehen. Als wir uns endlich erhoben, um noch etwas zu essen und dann zu ruhen, hatte ich das Gefühl, es wären Tage vergangen und ich hätte Schwerstarbeit geleistet – die nur darin bestanden hatte, nicht einzunicken… Aber zumindest war ein Fortschritt erzielt worden. Dezmont hatte nur die Männer mitgebracht, die ihm am vertrauenswürdigsten vorkamen. Da waren sich zum Glück alle einigermaßen einig. Daher bedeuteten sie potentiell eine Gefahr, weil sie den Weg des Weißen Drachen gingen, sich unter seiner Herrschaft profiliert hatten. Allerdings war niemand am Tisch bereit, ein Todesurteil über einen der Männer zu verhängen. Nach zähem Ringen und kurz vor Ende der Nacht kam die Übereinkunft, daß die Männer, die sich zur Zeit in der Burg aufhielten, zuerst ausgiebig von Isebel und Bouvier befragt werden sollten. Danach sollte eine Verbannung ausgesprochen werden, die Länge und der Umfang dieser ‚Bestrafung’ sollte sich nach den Ergebnissen richten. Wie genau das zugehen sollte, wurde nicht näher beschrieben, scheinbar wußte das jeder aus John und mir. Ich ging mit Gabriel zusammen nach oben. Trotz der bleiernen Müdigkeit, die sich über mich gesenkt hatte, weil ich die ganze Nacht versucht hatte, aufmerksam zu bleiben, machten wir es uns noch mit einer Weinflasche auf seinem Bett gemütlich. Ich fragte hoffnungsvoll, ob man nicht morgen auf mich verzichten könnte. Gabriel grinste, nicht mitleidig genug, nach meiner Ansicht und meinte dann: „Tut mir ja wirklich leid, aber die Antwort lautet: ‚Nein’. Ich kann ja verstehen, daß du das nicht schrecklich spannend findest, aber morgen wird es garantiert interessanter. Wir alle sind gespannt auf diesen Mann, Sevarion, der Dezmont’s Nachfolger werden soll. Ich wundere mich eigentlich, daß er überhaupt solche Vorbereitungen getroffen hat. Doch ich kenne diesen Mann nicht – niemand kennt ihn. Wir können nicht abschätzen, was da auf uns zukommt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er jemand nach unserem Geschmack ist. Im Prinzip ist das auch nicht notwendig, aber weil Dezmont durch ein Duell ums Leben gekommen ist, habe ich zumindest prinzipiell ein Mitspracherecht. Denn es ging ja nicht nur um die Person des Weißen Drachen, sondern um die Aktivitäten des gesamten Anguis-Zirkel. Wenn wir die Möglichkeit haben, solche Vorgänge für die Zukunft zu verhindern oder wenigstens einzuschränken, wäre es schon ein Gewinn. Daher will ich dich dabei haben, denn es betrifft dich direkt, da du das Opfer warst und indirekt, als meine Gefährtin. Außerdem vertraue ich auch auf deine Einschätzung. Ende der Diskussion.“ Schade aber auch. Andererseits, ich mußte zugeben, daß dieser Sevarion mich neugierig machte, so völlig unbekannt, Vertrauter von Dezmont. Rechtzeitig dachte ich an meine geplante Frage. Doch auch da hatte ich heute wenig Glück. Eine Art von ‚Vorhang‘ schien sich über meinen Raben zu senken. Er schwieg erst, dann meinte er: „Auch darüber kann ich noch nicht sprechen. Ich habe Antworten auf einige meiner Fragen bekommen, so wie er auch. Aber nicht auf alle und nicht alles hat mir gefallen. Bevor ich nicht länger darüber nachgedacht habe, werde ich selbst dir nichts darüber erzählen. Auch will ich erst seinen Erben kennen lernen. Bitte habe noch etwas Geduld, meine Schwarze Rose, bisher ist das nur etwas zwischen ihm und mir. Bisher. Ich verspreche, das wird sich noch ändern.“ Und ich kannte ihn gut genug um gar nicht erst zu versuchen, ihn hier und jetzt umzustimmen. Er würde zu seiner Zeit davon erzählen. Als die Flasche leer war, machten wir es uns in Gabriels großem Bett gemütlich. Es war viel passiert, seit wir das letzte Mal miteinander geschlafen hatten und mit wachsender Begeisterung riefen wir uns die Körper des Anderen wieder in Erinnerung. Noch immer waren wir vorsichtig mit unseren Zähnen, ohne darüber zu reden hatten wir uns geeinigt, daß wir das Blut momentan nicht tauschen würden, auch wenn dies seinen Schrecken jetzt fast verloren hatte. Sein Körper, der sich von hinten in ganzer Länge an mich kuschelte, übertrug Hitze und Verlangen auf jeden Winkel meiner Haut. Eine seiner Hände strich sanft über mein Gesicht, schloß meine Augen, während die andere Hand sich verspielt in meinen Schamhaaren vergrub. Auf meinem Gesäß spürte ich sein hartes Glied, erwartungsvoll und heiß zuckend. Und so drang er auch in mich ein, vorsichtig seinen Eingang suchend, und ich machte ihm den Weg frei, denn ich legte mein Bein über seine Oberschenkel. Und bei den nachfolgenden langsamen Bewegungen hielt ich weiterhin die Augen geschlossen, genoß seinen Rhythmus und ließ mich langsam von seinem Glied, seiner Haut und seinen Händen verführen. Seine Wärme und Dunkelheit erzeugten erneut einen Raum, der nur uns gehörte, diesen Ort, wo sich unsere Seelen trafen und nichts anderes herein drang. Und obwohl wir uns unendlich langsam und vorsichtig bewegten, so war unser Verlangen nacheinander doch viel zu groß, um nicht nach einiger Zeit mehr von dem anderen zu fordern. Sein Atem ging schneller, mein Körper streckte sich seinen Bewegungen entgegen, seine Hand streichelte mich zu geschickt. Sein Kopf lag an meine Wange gepreßt, ich fühlte die Luft, wie sie stoßweise aus unseren Lungen gepreßt wurde. Ich griff hinter mich, zog ihn fester, tiefer in mich und ohne Vorwarnung überspülte mich der Höhepunkt wie eine schwarze Welle. Ich schrie auf, preßte mich um ihn und er folgte mir. Als der erste Hunger aneinander gestillt war, genossen wir die Zärtlichkeiten auf eine verträumte, vertraute Art. Die Dunkelheit und Geborgenheit der schwarzen Flügel hielt noch lange die Welt von uns fern, entführte uns beide; nährte das Höllenfeuer, das seit unserer ersten Begegnung immer ein wenig glühte. Wir schliefen bis spät in den Abend, niemand weckte uns und als wir endlich im Speisesaal eintrafen – ausgeruht und in bester Laune – waren alle Leute von gestern schon fast fertig mit essen. Ich sah mich kurz um und erspähte Isebel an der anderen Seite des Raumes. Bisher war ich selten auf einen anderen Kader zugegangen. Doch es sprach ja nichts dagegen. Sie lächelte mir entgegen und ich fragte sie: „Hoffentlich macht es dir nichts aus, aber ich bin etwas unwissend. Gibt es einen Grund, warum du zusammen mit Bouvier diese Befragung machst? Es klang nicht nach einer zufälligen Auswahl und alle schienen mit euch beiden als Gremium zufrieden.“ Isebel war nicht nur eine brünette, schlanke Schönheit, sie hatte auch ein warmes Lächeln, das sie sofort sympathisch machte, man hatte das Gefühl, die Sonne ging auf. Sie sah kurz zu Bouvier und meinte dann: „Ich vergesse immer wieder, daß du erst so kurz bei uns bist, Lumina. Und du kannst mich natürlich jederzeit alles fragen. Die Antwort lautet: es gibt einen Grund, warum Bouvier und ich berufen wurden. Das liegt an den Zirkeln, die wir leiten. Zuerst mußt du wissen, solche Aufgaben sollten von Kadern durchgeführt werden, daher wurden nicht Scuro Tejat oder Charon ausgewählt, die vielleicht etwas fähiger wären. Vielleicht, aber nicht sicher. Du weißt doch, die Zirkel stehen für eine bestimmte Eigenschaft. Satyrus und Corvus sind eher Forscher und Anguis war schon immer Kämpfer. Colubra, also Bouvier’s Zirkel, wird mit Rechtssprechung assoziiert, sein Zirkel wird oft bei Streitigkeiten angerufen oder stellt Berater. Und mein Zirkel, Felis, hat viele Psychologen als Mitglieder, Leute mit viel Einfühlungsvermögen, wir werden oft gefragt, wenn es darum geht, in die Menschen hinein zu schauen. Aber mehr in einem geistigen Sinne, wir verstehen oft die Gedankengänge, die Leute zu etwas bewegt, wir sind geübt, die Wahrheit hinter den Spiegeln, Lügen und Masken der Menschen zu finden. Es ist ein ganz klein wenig Magie und viel Begabung und der Rest ist Übung. Und daher werde ich fragen, zuhören, zwischen den Zeilen lesen – ebenso wie Bouvier – und dann mit ihm zusammen Ergebnisse vergleichen und er wird dann vorschlagen, wie mit den Gefangenen zu verfahren ist.“ Das machte Sinn. Einige der Qualitäten der einzelnen Zirkel hatte ich ja schon kennen gelernt. Es war sicher weise, die Kader entscheiden zu lassen, die die größte Erfahrung hatten. Vielleicht war es doch nicht so schlecht, daß so viele verschiedene Zirkel bei der Beratung vertreten waren. Da fiel mir aber gleich noch eine Frage ein: „Und was ist mit dem Rat der Alten? Haben die nicht auch was dazu zu sagen oder wird das nur innerhalb der Zirkel geregelt?“ „Der Rat der Alten ist eigentlich eher für Zeiten, in denen wir nicht weiter wissen. Natürlich können sie auch Strafen verhängen aber du mußt bedenken, es kommt auch nicht oft vor, daß mehrere Zirkel zusammen etwas beschließen und dabei gegen einen kompletten Zirkel vorgehen. Eine einmalige Situation schon fast, die entsprechende Behandlung benötigt. Und im Zweifel würden wir die beiden Mitglieder des Deliberatio Aetas befragen, wenn wir nicht weiter wissen, es ist ja ein wunderbarer Zufall, daß sie sich hier befinden. Und sollte es notwendig sein, würden wir auch den Imprecatio Curor bitten, uns bei der ‚Bestrafung’ zu helfen. Aber das ist eher unwahrscheinlich, weil es eigentlich nur um eine Verbannung geht, dauerhaft oder befristet.“ Jetzt war ich ein ganzes Stück klüger. Ich wollte grad noch mal nachfragen, als das allgemeine Gemurmel im Raum erstarb. Einer nach dem anderen drehte sich zur Tür, in der Heder mit einem fremden Mann aufgetaucht war. Und den starrte jeder an und wir alle konnten sehen, daß der Fremde, der ruhig auf die versammelten Leute blickte – Sevarion – Dezmont’s Nachfolger, war. „Oh nein“, murmelte Isebel neben mir. Ein ähnlicher Kommentar war auch mir gekommen. Der Mann wirkte wie Ende dreißig, er war schlank, sehr hochgewachsen und hatte lange hellblonde, fast weiße Haare bis über die Schultern. Eine helle Haut und stechende graue Augen rundeten das Bild fast ab, das I-Tüpfelchen war die weiße Kleidung, die der Neuankömmling trug. Er hatte eine starke, schwer zu definierende Ausstrahlung, und: Er war fast eine jüngere Ausgabe des Weißen Drachen! Jemand neben mir flüsterte: „Da kommt Ärger auf uns zu. Vielleicht ein Sohn? Das hat noch gefehlt.“ Zum Glück konnte der Mann an der Tür das nicht gehört haben. Er schaute nur weiter ruhig in die Runde, bis Mikail – als Gastgeber – sich besann, auf ihn zu trat und laut verkündete: „Ich vermute, daß du Sevarion bist, wir haben dich schon erwartet. Wir haben ein Zimmer für dich vorbereitet, dort kannst du dich ein wenig frisch machen. Wie du siehst, sind wir noch beim Frühstück, wenn du bereit bist, schließ dich danach uns an und dann soll die Beratung beginnen.“ Mikail winkte einem Angestellten und wortlos folgten Heder und Sevarion diesem nach oben. Wir standen und starrten den beiden nach. Gabriel trat zu Isebel und mir und meinte: „Er hat sehr viel Ähnlichkeit mit Dezmont. Ich würde vermuten, daß er ein Sohn des Weißen Drachen ist. Daher war es für Dez so einfach, relativ kurzfristig einen eventuellen Nachfolger zu bestimmen. Ich finde es erschreckend, daß niemand davon wußte. Aber damit ist eigentlich klar, daß unsere Probleme nicht endgültig gelöst sind, irgendwann wird der Sohn dem Vater erst nacheifern und später Rache fordern. Außerdem wird es so fast unmöglich, die dunklen Punkte in diesem Zirkel auszusortieren. Aber ich glaube nicht, daß wir die Möglichkeit haben, die Wahl des neuen Kader des Anguis-Zirkel abzulehnen. Soweit werden die anderen Zirkel nicht mitgehen.“ Etwas erschöpft legte er den Arm um meine Schultern und ich lehnte mich ein wenig gegen ihn. Wir brauchten keine Worte um ein Gefühl von Ermüdung auszutauschen. Die allgemeine Stimmung war demzufolge heute nicht gut. Wir kehrten in das Beratungszimmer zurück und wieder saß ich zwischen Gabriel und John. Unser neuer Gast war noch im Speisezimmer aber die Leute, die noch dort waren, sprachen ihn nicht an. Sie warfen ihm hin und wieder unauffällige Blicke zu, aber keiner sagte etwas und sehr bald waren wir im Beratungszimmer wieder vollzählig. Sevarion erhielt eine Art Ehrenplatz am Tisch, direkt am Kopfende gegenüber von Mikail. Dieser eröffnete die Verhandlungen des Abends mit den Worten: „Wie ihr sicher gesehen habt, ist jetzt Sevarion eingetroffen, der Nachfolger von Dezmont Darian. Somit sind wir vollzählig und ich möchte als erstes das Wort unserem neuen Gast übergeben. Mir wurde gesagt, daß du uns etwas mitteilen möchtest.“ Der Mann stand auf. Ja, er hatte große Ähnlichkeit mit Dez. Aber er strahlte nicht diese kalte, furchtbare Arroganz und diese stolze Macht aus. Er wirkte ruhig, überlegend aber nicht furchteinflößend, eher charismatisch. Ich wunderte mich selber über diese Einschätzung. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, als er langsam den Tisch abschritt, dabei die Teilnehmer einen nach dem anderen musterte. Und dann sprach er jeden nacheinander an: „Über jeden der Männer und Frauen hier am Tisch liegt mir ein ausführliches Dossier vor. Damit sollte ich in der Lage sein, herauszufinden, wer wer ist. Laßt es mich versuchen. Du bist Bouvier, Kader des Colubra-Zirkel. Es wird erzählt, du trägst gerne Rot und obgleich du kühl wirkst, zeigst du gerade Frauen gerne, wie ihre Schönheit auf dich wirkt. Zur Zeit bist du ohne Kaj. Ich grüße dich.“ Überrascht nickte Bouvier ihm zu. Sevarion ging weiter: „Thyatira. Du bist Kader des Monoceros-Zirkels. Eine begnadete Dichterin aber auch ein Schwert ist dir nicht fremd. Und neben dir, daß müßte Chayenne sein, dein Kaj. Ich grüße euch.“ Auch die zwei sahen ihn verblüfft an, aber Thyatira antwortete spontan: „Wir grüßen dich auch, Sevarion.“ Er ging zum Nächsten: „Belorian. Der harte Kader des Uncia-Zirkels, Onkel von Nathaniel, den ich hier vermisse. Stehen die dunklen Worte der Vergangenheit und der Tod deines Bruders noch immer zwischen euch? Du hast deinen Kaj ebenfalls nicht mitgebracht, du bist dir selber Schutz genug, habe ich gehört. Ich grüße dich.“ Belorian ließ sich eventuelle Überraschung oder Verärgerung nicht anmerken, er nickte nur. Der Gast fuhr fort: „Kolya! Deine Beschreibung wird dir kaum gerecht. Kaj des Corvus-Zirkel. Deine Schwäche ist der Wein und dein freundliches Lächeln sollte niemanden über deine Zielstrebigkeit hinweg täuschen. Es freut mich, dich kennen zu lernen.“ Kolya hob eine Augenbraue, grinste – wie üblich – und nickte nur, aber nicht unfreundlich. „Unser Gastgeber. Mikail. Der älteste Kader in der Runde, und mit einem Ruf, der ihm weit voraus eilt. Gefährte von Gabriels Mutter, ruhig und mit Wissen ausgestattet, das dem eines Scuro nicht nachsteht. Ich freue mich, dich kennen zu lernen und danke für die Gastfreundschaft.“ Mikail nickte ebenfalls freundlich und antwortete nur: „Gern geschehen.“ Jetzt näherte er sich meinem Raben und sah ihn lange an: „Gabriel vermute ich. Nein, ich bin mir sicher, dein Bruder nimmt an solchen Veranstaltungen nicht gerne teil. Der Kader des Corvus-Zirkel. Bekannt für seine Stärke, die aus dem Herzen kommt. Der Mann, der sich den Sterblichen am meisten genähert hat. Ich freue mich, dich kennen zu lernen.“ Er hatte überraschend freundliche Worte verwendet und entsprechend antwortete Gabriel: „Zu viel der Ehre. Ich begrüße dich hier, Sevarion.“ Der nickte nur, dann drehte er sich zu mir um. „Lumina. Der schwarze Engel mit der weißen Aura. Der Anfang und das Ende. Neben meinem Begleiter eine der wenigen Personen hier ohne Titel und doch die Hauptperson. Und dein Herz soll schon wissen, was dein Geist noch lernen will. Es ist mir eine Freude, deine Bekanntschaft zu machen.“ Da konnte ich nicht zurück stecken: „Schön, dich kennen zu lernen.“ Damit war mein Teil erledigt und er sah meinen Nachbarn an: „Das ist schwieriger. Du bist kein Kader, gehörst also zu den Haupt-Protagonisten der letzten Ereignisse. Du kannst demnach nur John sein. Neu im Zirkel, doch kennst du die Welt besser, als viele von uns. Du warst einmal Polizist und du bist ein Mann, der aus Einzelteilen ein Ganzes weben kann.“ Das war ja eine interessante Beschreibung. John nickte nur, zu verblüfft, um zu antworten. Weiter ging’s. „Thorben, der Kaj des Satyrus-Zirkel. Der Fels in der Brandung, verläßlich und konstant. Ein Praktiker im Kreis der Denker. Es freut mich.“ Thorben nickte ebenfalls und murmelte etwas, was wie ‚gleichfalls’ klang. Unser Gast wand sich dem nächsten zu: „Simeon, der Mann mit den ungewöhnlichsten Augen. Ruhig, distinguiert, hilfsbereit und immer ein wenig zerstreut. Du liebst schöne Dinge, ob Mensch oder Sache, umgibst dich auch gerne damit. Daneben dein Kaj, Arpad, der dich nicht nur beschützt, sondern dich auch manchmal in die Realität zurück holt. Ich grüße euch.“ Die zwei sahen sich an, Simeon lachte sogar und nickte. „Danke! Und gleichfalls. Ich bin beeindruckt.“ Sevarion zeigte ebenfalls ein leichtes Lächeln, etwas, das ich bei Dezmont nie erwartet hätte, bei diesem Mann aber irgendwie nicht deplaziert wirkte. Und er war fast durch: „Serebro. Der Organisator. Das ist leicht, wer sonst außer Nathaniel trägt einen solchen ungewöhnlichen Bart. Kaj im Vespertillo-Zirkel. Und Alex Stimme außerhalb seines kalten Schlosses. Bald mußt du dich um die Organisation eures Jahresfestes kümmern. Gegrüßt seiest du.“ Serebro hatte eine Augenbraue gehoben und nickte ihm zu. „Und zum Schluß, die zauberhafte Isebel. Scharfer Verstand, schön wie die Sünde und mit den Sinnen einer Katze ausgestattet, deren Kader du auch bist. Keiner, der dich nicht kennt und niemand, der dich nicht liebt, heißt es. Schade, daß dein Kaj nicht hier ist. Ich grüße auch dich, zauberhafte Felis.“ Sie lächelte ihn ebenfalls an, nickte und meinte: „Ja, er fehlt mir ein wenig. Aber ich freue mich, dich kennen zu lernen.“ Und damit war Sevarion durch, Heder nickte er nur kurz zu und dann stand er wieder hinter seinem Stuhl. Alle Augen waren jetzt auf ihn gerichtet. Er hatte bewiesen, daß er ausgezeichnet vorbereitet war. „Wenn ich euch so ansehe, spüre ich Verwunderung. In jeder Form, von leichter Verblüffung über Irritation bis zu völligem Unverständnis. Und ich denke nicht, daß das nur mit meinem persönlichen Gruß zu tun hat. Ihr habt etwas anderes erwartet. Und wenn ihr euch Heder anseht, werdet ihr feststellen, daß er etwas anderes erhofft, aber nicht erwartet hat.“ Er hatte Recht, nur hatte niemand darauf geachtet. Heder sah aus, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Er war rot im Gesicht, schien nur mühselig eine Art von Wut zu unterdrücken. Was war hier los? „Erlaubt mir, daß ich einige Erklärungen abgebe.“ Wir warteten gespannt, das war in keiner Form langweilig, ich spürte förmlich, wie alle sich nach vorne beugten. Er hatte unsere ungeteilte Aufmerksamkeit. „Zuerst an Gabriel gerichtet. Weißt du, wie Dezmont dich genannt hat, bevor er aufbrach? Er sagte, du hältst dich für Richter und Henker in einer Person. Nun, der Henker warst du ja wohl, aber ich denke nicht, daß du dir das Recht genommen hast, auch den Richter zu spielen. Daher sage ich dir jetzt: Dezmont ist – nach meinen Berichten – in einem fairen Duell besiegt worden, daher kann ich dir keinen Vorwurf machen, ich hege keinerlei Rachegelüste. Über die Vorgeschichte werde ich später etwas sagen. Ach, und um es klar zu machen, ja, Dezmont war mein Vater. Ich sehe, das ist keine Überraschung. Meine Mutter war eine Sterbliche, die niemals gewandelt wurde und daher schon lange tot ist. Und zu der Frage, warum ihr noch nie von mir gehört habt: Dezmont wollte es so, aus verschiedensten Gründen.“ Er machte keinerlei Anstalten, diese zu nennen. Aber es war auch nicht unbedingt wichtig, die Dinge, die er zu sagen hatte, waren so schon faszinierend genug. Er sprach frei, ohne Notizen und immer wieder musterte er intensiv die Teilnehmer der Runde. „Wo war ich? Ach ja. Ich weiß ziemlich genau, was durch eure Köpfe gegeistert ist, als ich vorhin in der Tür stand. Ich bin der Sohn meines Vaters. Jetzt kommt das ‚Aber’. Da ich nicht bei meinem Vater aufgewachsen bin – oder zumindest wenig Kontakt hatte, bis vor einigen Jahren – teile ich nicht unbedingt seine Ansichten. Das ist es, was Heder mit seinem Blick sagen will und ich euch erklären möchte. Versteht mich nicht falsch. Er war mein Vater und daher habe ich ihn geliebt, soweit er es überhaupt zuließ. Aber das heißt nicht, daß ich gut fand, was er tat. Ich bin mit anderen Wertvorstellungen aufgewachsen, zuerst in der Welt der Sterblichen, später woanders. Ich habe nie innerhalb des Zirkels gelebt.“ Dieser letzte Satz führte zu einem kleineren Tumult. Mehrere Leute redeten durcheinander, vorwiegend mit ihren jeweiligen Nachbarn. Kolya meinte: „Daher haben wir nie von ihm gehört.“ Belorian brummte: „Abgeschoben, für Notfälle.“ Und John murmelte neben mir: „Ich wünschte, man könnte ihm glauben, ich mag ihn.“ Und ich dachte überrascht bei mir: ‚Ich auch’. Ich wollte ihm glauben, weil er eine andere Ausstrahlung hatte und ich nicht schon wieder mit einem Drachen aneinander geraten wollte. Sevarion ließ die Leute ein wenig reden dann sprach er laut dazwischen. „Wenn ihr erlaubt, ich bin noch nicht fertig.“ Sofort wurde es wieder still im Zimmer. Wenn Heder ein Anhaltspunkt für den Wahrheitsgehalt war, dann stimmte alles, er sah jetzt richtig zornig aus. Aber Sevarion fuhr ungerührt fort, noch immer stehend und einen nach dem anderen in die Augen sehend. Als er mich anschaute, stoppte er und lächelte: „Lumina. Du hast wenig Freude an den Bestrebungen meines Vaters gehabt, das weiß ich. Ich würde mich entschuldigen, aber seine Schuld ist nicht die meine und ich hoffe, daß du über die Taten der Leute urteilst, nicht über ihr Erbe.“ Ich sah ihn aufmerksam an, und spontan nickte ich zu diesen Worten. „Wie gesagt, ich bin sein Sohn aber nicht sein Nachfolger. Als er mich dazu bestimmte, war er sicher, nicht zu verlieren. Das erkläre ich euch gleich. Er hat nie erwartet, daß ich dieses Erbe antreten muß, daher konnte er nicht absehen, welche Konsequenzen ich aus seinem Handeln ziehe. Dafür war er mir nie nah genug. Ich werde euch jetzt erklären, warum er so sicher war, warum er dem Duell ohne Zögern und ohne Rückversicherung zugestimmt hat. Warum er tat, was er tat. Viele werden es ahnen, was ihn bewegte, aber ich werde die Lücken füllen. Und dann lasse ich euch über die Zukunft des Anguis-Zirkels entscheiden. Und solltet ihr beschließen, daß ich den Zirkel übernehmen soll, werde ich um einen Gefallen bitten. Doch dazu später. Jetzt zu den Beweggründen meines Vaters.“ Er machte eine Pause. Isebel schob ihm ein Glas mit Wein zu, das bisher unberührt auf dem Tisch gestanden hatte. Er nickte ihr dankend zu und nach einem Schluck atmete er tief durch und begann erneut. Je länger ich ihm zuhörte, desto mehr hatte ich das Gefühl, daß er wirklich nicht wie sein Vater war. Ich mochte ihn, obwohl – oder weil – er ein wenig nervös wirkte. Das war schon verständlich. Heute hatte ich einiges, das ich Liobá nach dem Treffen erzählen konnte. Dann hörte ich aufmerksam zu: „Mein Vater hat immer nach Macht gestrebt, das ist keine Überraschung. Macht, Reichtum, Herrschaft, die Dreieinigkeit des Weißen Drachen. Und er hat sich für dieses Ziel vor langer Zeit eine Anleitung gesucht. Schon einmal hat er versucht, diese Anleitung in die Tat umzusetzen, schon einmal ist er gescheitert. Ich spreche – wie ihr bestimmt alle vermutet habt – von der Prophezeiung. Nur ist seine Interpretation etwas anders als die, die ich viel später gehört habe. Laßt mich das erläutern: Es heißt, den süßen Kuß des Lebens erfleht das große Schwarz vergebens. Komisch, was? Für ihn war damit klar, man darf nicht flehen, man muß nehmen, sonst bekommt man ihn nicht.. Also siegt die Kraft über das simple Erbitten. Aus seiner Sicht doch logisch. So geht es dann weiter. Zweite Passage: es treffen Dunkel und Hell zusammen. Also jemand aus der Nadiesda Thurus trifft auf jemanden aus der Oscuro. Da hatte er bis vor kurzem ein Problem mit der Technik, wie kann jemand aus der Nadiesda Thurus das Blut der Oscuro nehmen. Nun, Lumina hat dieses Problem für ihn gelöst und wurde damit für ihn interessant. Zur Zwischenpassage eins: Diese Voraussetzungen müssen gegeben sein. Also sorgt man dafür, daß es dazu kommt. Blut ist schon immer mal zwischen den Zirkeln geflossen, dafür sind alle zu verschieden. Und den Rat der Alten zu kompromittieren war ein kompliziertes Unterfangen, aber offensichtlich möglich. Konnte er nach einigen Arrangements also als erledigt abhaken.“ Hier grinste er ein wenig. Also war der Widerstand des Fluch des Blutes von vornherein so geplant gewesen. Mein Erstaunen fand ich auf einigen Gesichtern der Zuhörer. „Kennt nicht Schüler, kennt nicht Herrn. Wenn man es so will, kann man sagen, ist die Dreizehn also rücksichtslos. Und es war für meinen Vater deutlich geschrieben, daß Liebe machtlos macht. Gibt für Liebe die Macht auf, ist also eine Schwäche. Und Schwäche wird den Fluch nie überwinden. Im nächsten Vers vereint sich der Kreis. Also alle Zirkel unter einer Führung vereint, vorzugsweise der, meines Vaters. Und laut den Versen wird Blut das Zahlungsmittel in diesem großen Kreis sein. – Schaut nicht so, die Interpretationen sind flexibel, jeder sieht darin, was er sehen will. Doch weiter im Text. Hier sind sich jetzt alle einig, diese Passage beschreibt eine Tatsache. Doch falsche Herren macht euch bereit! Einige haben sich gefragt, was die falschen Herren sind. Dezmont war sich sicher, daß damit die Sterblichen gemeint sind. Damit ist auch klar, daß wir durch die zweite Wandlung die falschen Herren vom Thron stoßen, die dreizehn, also der neue ‚Oberzirkel’ wird sie besiegen. Ihr erinnert euch, Stärke ist gut, sie vertreibt den Fluch, Schwäche verliert. Und in der nächsten Passage dann: Die – ich sage mal Frau mit der weißen Aura – verändert das Schwarz der Oscuro. Aber nur dahingehend, daß jetzt alle ins Licht gehen können, die Aura bleibt aber bestehen. Ich habe gehört, daß diese Interpretation sogar korrekt ist. Dann folgt wieder eine Passage mit Aufzählungen von Tatsachen.“ Ich hatte – wie viele – so gebannt den Ausführungen unseres Gastes gelauscht, daß ich erst jetzt bemerkte, daß Gabriel neben mir mehrfach leicht nickte. Er schaute wesentlich weniger fasziniert als der Rest von uns und ich vermutete, daß er diese Ausführungen vielleicht schon gehört hatte, vielleicht war es das, was er mit Dezmont vor dem Duell besprochen hatte. Und noch immer war Sevarion nicht fertig: „Und als nächstes: Der dreizehnte ‚Oberzirkel’ herrscht über die anderen. Mit anderen Worten, mein Vater. Durch die Veränderungen ist das Kreuz – und die anderen Beschränkungen – nicht mehr relevant. Es ist aber jetzt nötig, einen Blutschwur, er nannte es einen Blutzoll, zu leisten, doch brauchen wir es nicht mehr als Nahrung. Und dann wird die Zukunft beschrieben. Noch immer herrscht die Dunkelheit, die wir mit unserer Aura repräsentieren, aber jetzt herrschen wir wirklich. Die gestärkten Zirkel, in Stärke geführt, von dem einen, werden alles beherrschen, auch das Licht. Das war ja immer das Ziel. Und zum letzten Teil: Durch Kraft wurde das Ziel erreicht. Also müssen wir kämpfen. Die Schwachen werden ins Licht sehen, also sterben, denn das ist bisher noch unser Schicksal, wenn die Sonne auf uns fällt. Doch die Starken werden alles mit der Dunkelheit der Oscuro umhüllen. Und mit dieser Interpretation, die nicht besser oder schlechter als jede andere ist, erklärt sich die Arroganz meines Vaters.“ Alle Teilnehmer der Versammlung hatten fasziniert gelauscht. Wir hatten es ja immer vermutet, daß Dezmont sich bei seinen Aktionen an der Prophezeiung orientierte. Aber daß er das in dem Ausmaß und mit so viel Logik tat, war für die Meisten dann doch eine Überraschung. Ich fand die Logik gar nicht so schlecht, fast erschreckend. Gut, daß ich das vorher nicht so gehört hatte, ich wäre bei dem Duell noch nervöser gewesen, als ohnehin schon. Wie hatte mein Rabe sich wohl gefühlt, wenn er wirklich vorher diese Überlegungen schon gehört hatte. Doch eben dieser unterbrach Sevarion jetzt, indem er aufstand und ihn direkt ansah: „Ich bin beeindruckt, daß du das so deutlich vermittelt hast. Ich hatte mich bis zu dem Gespräch mit deinem Vater kurz vor dem Duell sehr gewundert, warum er dem Zweikampf sofort zugestimmt hat. Darian hat mit Herz und Seele daran geglaubt, daß er gewinnt, weil der Stärkste die Prophezeiung erfüllen würde.“ Sevarion nickte nur. Gabriel sah ihn das erste mal bewußt und fast freundlich an. Dann meinte er leise: „Er hätte auch richtig liegen können. Seine Version war ebenso schlüssig, wie meine oder die des Rates der Alten. Vielleicht haben sich die Worte sogar erfüllt, denn bei dem Duell haben Kraft und Stärke über Freundschaft und Liebe gesiegt, zumindest symbolisch. Jetzt würde mich interessieren, wie du das siehst. Das hat nichts mit irgendeinem Beschluß hier zu tun, ich sehe nur, daß du dir viele Gedanken über das Thema gemacht zu haben scheinst.“ Sevarion nickte und lächelte jetzt das erste mal richtig. Und es sah nicht falsch aus, es paßte zu den grauen Augen. Ich wunderte mich über mich selber, daß ich diesen Mann mochte. Dessen Antwort kam schnell: „Ich habe sehr viel darüber gelesen, lange mit meinen Lehrern und später mit meinem Vater darüber diskutiert aber dann meine eigenen Überlegungen angestellt. Und dabei sogar noch ein paar kleinere Überraschungen erlebt. Ich bin mit den Interpretationen des Rates der Alten ebenfalls vertraut, aber ich denke, daß eine Mischung aus allen Facetten der Wahrheit am Nächsten kommt. Ich werde das hier nur kurz erläutern, das ist eher ein Thema für ein paar gemütliche Abende. Aber ich sehe das so. Alle haben ein wenig Recht. Zuerst einmal. Es ist jetzt die Zeit, daß sich die Prophezeiung erfüllt, ich denke, darin sind wir uns einig.“ Die meisten Leute am Tisch nickten dazu. Darunter auch Gabriel und Mikail. Unser Gast fuhr fort: „Ich hatte immer den Eindruck, daß es sich bei den kommenden Ereignissen um etwas Vorwärtsgerichtetes, etwas Gutes handelt. Eine zweite Wandlung, ein Schritt in die Zukunft, unsere Zukunft. LaVerne, heute Lumina genannt, ist der Schlüssel gewesen, sie war die Dreizehn, die uns zehn Zirkel verändern wird. Laß uns kurz noch einmal die hinlänglich bekannten zwölf Kapitel ansehen: Zu Anfang wird gesagt, daß die Veränderungen langsam und unauffällig erfolgen werden. Zweites Kapitel, hier treffen zum ersten Mal das Dunkel, wir, auf das Helle, nämlich Lumina. Im dritten Teil sehen wir die Puzzleteile an ihren Platz fallen, denn ich glaube nicht, daß man zum Beispiel die Entscheidung des Imprecatio Curor hätte beeinflussen können. Im vierten Teil wird gesagt, daß die Dreizehn – wir gehen noch immer davon aus, daß es sich dabei um LaVerne handelt – unwissend ist und keinen Unterschied zwischen den Leuten macht, die sie kennen lernt. Ich habe gehört, daß das sehr treffend formuliert ist.“ Ich mußte dieses Mal wirklich grinsen und konnte mir einen Zwischenkommentar nicht verkneifen: „Oh ja, unwissend bin ich eigentlich ständig.“ Alles lachte. So witzig war das nun auch wieder nicht. Lächelnd fuhr Sevarion fort: „Na also. Nächster Teil: Es gibt eine Aufspaltung in der Oscuro, die wir ja wohl alle bemerkt haben aber es findet danach ein neuer Zusammenschluß statt, der ins Licht führt, symbolisch, nicht in das Licht des Todes, wohlgemerkt! Danach kommen wohl wirklich Tatsachen. Dann kommt die Sache mit dem Fluch, der durch die Dreizehn, Lumina, von uns genommen wird. Gleichzeitig sehe ich hier die Warnung, speziell auch für meinen Vater. Er war ein falscher Herr, sah sich als Anführer und das bedeutet – laut dieser Passage – echte Probleme. Also wären falsche Herren wohl eher Leute, die sich für größer halten, als sie sind. Sicherlich nicht die Sterblichen. Danach können wir sehen, daß sich der unterbrochene Kreis endlich schließt, es gibt keine Unterbrechung mehr. Sie ist das Weiß, selbst jetzt kann man es deutlich sehen, und sie führt die ins Licht, die nicht das Schwarz in sich tragen. Übrigens denke ich, daß diese Unterscheidung sich auf die Leute innerhalb der Oscuro bezieht, Schwarz im Herzen assoziiere ich mit böse, leider muß ich auch meinen Vater da einbeziehen. Doch weiter. Nun wieder Tatsachen. Da sind sich ja alle einig. Danach wir erklärt, daß die Dreizehn den Fluch der ewigen Dunkelheit von uns nimmt, wir brauchen kein Blut mehr, aber die Gemeinschaft, die noch immer durch Blut definiert wird, ist weiterhin ein wichtiger Bestandteil von uns, wir brauchen einander.“ Hier unterbrach Gabriel ihn kurz. „Einen Moment. Es gibt eine etwas abweichende Meinung über die Unterschiede zwischen Dunkel und Schwarz. Soviel ich gehört habe, gibt es die Vermutung, daß sich das auch auf die Art bezieht, in der der Kuß des Lebens und nachfolgend der Atem des Todes geschenkt wird. Laut dieser Meinung wird die Wandlung nur gelingen, wenn es freiwillig in Liebe gegeben wird. Es darf nicht verlangt oder erzwungen werden. Vieles spricht für diese Variante.“ Sevarion sah ihn kurz an und es schien fast, als ob die zwei ein Wissen teilten, das uns anderen noch verborgen war. Der Sohn des Drachen nickte kurz, Gabriel erwiderte kaum merklich diese Geste. Da war noch was! Unser Redner kehrte seine Aufmerksamkeit zu den anderen zurück und bestätigte: „Durch meine Recherchen und einige neuere Erkenntnisse würde ich dir fast zustimmen. Aber erst weiter. Wir waren bei der Prophezeiung, Jetzt kommt noch ein wichtiger Teil, eine Besonderheit. Die Dreizehn lebt freiwillig, laut der nächsten Passage, in der Dunkelheit, obwohl sie es nicht braucht. Auch das ist gegeben. Und sie vereint alle Eigenschaften, die Aura, das Sehen im Dunkel, ein langes Leben und was sonst dazu gehört. Und die gute Botschaft am Ende: Wenn wir uns darauf besinnen, was wir sind, was wir sein sollten und wie wir leben sollten, werden wir stärker sein, als vorher, stärker im Geiste, nicht im Körper. Und die finale Unterscheidung: Die Mitglieder der Oscuro, die dieses Licht in sich tragen, also nicht schwarz sind, werden ins Licht gehen können, diejenigen von uns, die nur Dunkelheit in sich tragen – oder, wie Gabriel eben sagte, voll Gier handeln – werden vergehen. Eine klare Aussage und auch ein Beweis, daß nicht du, LaVerne, diese Unterscheidung triffst. Sonst wäre es vielleicht mit deinem Frieden vorbei, könnte ich mir vorstellen.“ Die letzten Worte hatte er direkt an mich gerichtet und erschreckend gut meine Gefühle erkannt. Das hatte ich auch immer wieder zwischendurch im Kopf gewälzt, seit der Sache mit dem Schutzring. Ich mochte seine Interpretation. Ich nickte ihm zu. Und war mir ganz sicher, ich mochte nicht nur die, sondern auch ihn, obwohl ich es nicht für möglich gehalten hätte, nach den Monaten, die ich vor seinem Vater geflohen war. Aber das war ein anderer Mann gewesen. Sevarion setzte sich und griff nach seinem Glas. Er schien fertig zu sein. Er hatte mit seiner Rede eine ganze Menge Licht in viele Bereiche gebracht. Aber alle Zuhörer hatten mit einer anderen Art von Rede gerechnet. Niemand war darauf vorbereitet, daß der Erbe des Drachens offen über die Beweggründe von Dezmont reden würde, Erklärungen anbot und dabei auch noch einen sympathischen Eindruck machte. Das war so nicht vereinbart und eine Zeit war es still in der Runde, wir alle mußten die veränderte Situation erst einmal verdauen. Doch dann sagte Gabriel leise in die Stille: „Willst du nicht den Rest erzählen, oder soll ich das tun?“ Der Mann am Ende des Tisches sah ihn mit einem forschenden Blick an: „Du hast vor dem Duell lange mit meinem Vater gesprochen. Kanntest du den vollen Wortlaut schon vorher oder hat er es dir erzählt?“ Gabriel sah zu mir rüber, ich schaute ihn eher verwundert an. „Nein, ich kannte sie vorher schon, ich bin vor einigen Jahren durch Zufall darauf gestoßen. Genauer, ich habe ein uraltes Pergament gefunden und viel Zeit mit der Übersetzung verbracht. Das Originaldokument verwahrt seit letztem Jahr meine Schwarze Rose für mich. Eigentlich wollte ich schon längst davon erzählt haben, aber ich wollte erst die Echtheit überprüfen. Und wie das bei uns so ist, habe ich nie die Zeit dafür gefunden.“ Er warf Simeon einen schiefen Blick zu, der offensichtlich für solche Nachlässigkeiten bekannt war. Aber: Was hatte ich damit zu tun? Was verwahrte ich für ihn? Wovon sprachen die zwei??? Sevarion lächelte und nickte: „Ja, ich kenne diese Schwäche. Wir glauben immer, wir haben genug Zeit und plötzlich hinken wir dem Leben hinterher. Aber glaube mir, das Pergament ist sicher echt. Ich habe in einigen Büchern Referenzen dazu gefunden, nachdem ich wußte, wonach ich suchen mußte.“ Offensichtlich waren alle ratlos. Selbst Mikail sah verwundert aus und John fragte mich auch noch: „Was verwahrst du denn so wichtiges?“ Ich flüsterte zurück: „Keine Ahnung. Nichts, eigentlich.“ Gabriel hatte meine Antwort gehört. Er lächelte warm und meinte: „Das kann man so nicht sagen. Ich habe es dir mit dem Schutzring übergeben. Das Pergament.“ Huch!!! Der Ring war in Pergament gewickelt gewesen und er hatte mich noch gebeten, es gut zu verwahren. Das hatte ich sogar getan. Und vergessen. Doch was stand jetzt darauf? Sevarion erlöste uns endlich: „Nun, wir sprechen noch immer von der Prophezeiung. Offensichtlich sind sowohl Gabriel als auch ich auf eine Ergänzung gestoßen. Genauer gesagt, ich habe zwei weitere Verse gefunden, die vermutlich ebenfalls zu den bekannten zwölf Passagen gehören, allerdings könnte es sein, daß die Datierung abweicht. Die Verse scheinen erst einige Zeit später geschrieben worden zu sein, aber immer noch lange vor unserer Zeit. Kurz bevor mein Vater aufbrach habe ich sie ihm gezeigt, er kannte sie nicht. Doch hat er selbst diese Warnung ignoriert und mir erklärt, wie sich die Worte darin seinem Willen unterwerfen, seine Interpretation unterstützen.“ Wieder ging ein Raunen durch die Menge. Ich sah Gabriel fragend an, er nickte und hob etwas entschuldigend die Schultern. Na warte, wenn der mir alleine unter die Finger kam. Aber bevor ich noch meine Racheglüste durchdenken konnte, ergriff Mikail vorwurfsvoll das Wort: „Würde einer von euch beiden jetzt bitte mal deutlich diese angeblich vergessenen Passagen zitieren, damit wir alle hier in den Genuß eurer Erkenntnisse gelangen.“ Oh, auch er war schlecht gelaunt. Diese Raben und ihre Geheimniskrämerei! Sevarion nickte nur und zitierte offensichtlich ohne Mühe aus dem Kopf die zwei Viererzeilen:
Für die Dreizehn, ein tödlicher Kampf kündigt sich an Zwei voller Leidenschaft, doch nur einer sehen kann Beide getrieben, von eines Schicksals gnadenlosem Willen Beide zum Töten bereit, ihre Bestimmung zu erfüllen
Der Dreizehn Blut erschafft einen neuen Kreis Vereint durch Licht, gezahlt wurde der Preis Mit Schwert und Feuer für die Liebe geschaffen Schweigen nach empfangenem Lohn nun die Waffen
Das waren die letzten Verse? Und lange vor unserer Zeit aber nach der ursprünglichen Prophezeiung geschrieben? Es klang, als wären sie nur für die letzten Tage verfaßt worden, eine Zusammenfassung der Ereignisse vor dem Duell und den Konsequenzen, die wir alle hier jetzt spürten. Sogar die Schwerter wurden erwähnt, das Verbrennen der Leiche. Wie konnte Dezmont mit diesem Wissen noch glauben, er könne gewinnen. Oder, was hatte Simeon damals noch gesagt? Oder Tejat? Erst hinterher kann man die Worte verstehen, machen sie Sinn, vorher scheinen sie kryptisch. Noch schlimmer, Dezmont konnte sie für sich interpretieren, mein Rabe wäre damit blind vor Liebe, die Kraft hat über die Liebe triumphiert, oder so ähnlich... Aber zumindest verstand ich jetzt, daß Gabriel darüber nachdenken wollte, wenn auch nicht über die Worte, so doch vielleicht darüber, daß auch Dezmont davon gewußt hatte, wenn auch nicht lange. Meine Gedanken schwirrten unkoordiniert durch meinen Kopf und offensichtlich ging es den anderen Teilnehmern ähnlich, alles redete mehr oder weniger laut durcheinander. Schließlich erhob Mikail erneut die Stimme und irgendwann hatte er die Aufmerksamkeit der anderen auf sich gezogen. „Bitte. Beruhigt euch. Es ist sicher hochinteressant, diese Informationen in die uns bekannten Tatsachen zu integrieren. Wie Sevarion sagte, eine wunderbare Beschäftigung für endlose Abende. Aber weder ändern die neuen Verse den Ausgang der Geschehnisse, noch sind sie wirklich für unsere jetzt anstehenden Entscheidungen relevant. Laßt uns zuerst ein Thema abschließen, bevor wir zu einem neuen gelangen.“ Die Begeisterung der Teilnehmer hielt sich da wohl in Grenzen, dennoch nickte einer nach dem Anderen. Belorian ergriff endlich das Wort. In einem kühlen Ton holte er uns alle auf den Boden der Tatsachen zurück: „Du weißt, warum wir hier zusammen gekommen sind, Sevarion. Das ist ja alles sehr interessant, aber wie können wir sicher sein, daß du der bist, der du zu sein scheinst und nicht der, den wir erwartet haben?“ Der junge Mann sah den Sprecher an und hob eine Augenbraue: „Nun, es gibt doch hier genug Experten, die in das Herz der Menschen sehen können. Das wäre eine mögliche Antwort. Oder aber: Das könnt ihr nicht wissen, aber ihr könntet das Risiko eingehen und mir glauben schenken. Und mir die Gelegenheit geben, euch zu zeigen, was für ein Mensch ich bin. Und außerdem wäre es für euch einfacher, wenn der rechtmäßige Erbe den Zirkel übernimmt. Ich bin hier nicht als Bittsteller, ich hoffe, daß ihr das versteht. Ich bin hier aus meiner eigenen Entscheidung, daß ich versuchen will, den Zirkel in diese hellere Zukunft zu führen. Nehmt das Angebot an oder lehnt es ab.“ Diese einfachen Worte wirkten. Jetzt setzten wieder leise Unterhaltungen am Tisch ein. Die Stimmung hatte sich merklich verändert. War sie zu Anfang, als Sevarion aufgetaucht war, irgendwo zwischen miserabel und entsetzt, bei seinen Erläuterungen und der nachfolgenden Enthüllung der Prophezeiung aufgeregt, so machten jetzt erstaunte und überwiegend positive Bemerkungen über seine Person und seine Glaubwürdigkeit die Runde. Doch bevor die Diskussion erneut zu laut und chaotisch wurde, erhob Gabriel sich. Langsam wurde es wieder still und alle sahen ihn fragend an. „Wir müssen über deine Worte nachdenken, Sevarion. Du hast uns viel zu denken gegeben. Ich schlage vor, daß wir die Versammlung für heute auflösen. Laßt uns ins Speisezimmer gehen und dort vielleicht untereinander Eindrücke austauschen. Wir könnten einige Flaschen Wein zusammen leeren und vielleicht möchten einige aus dieser Runde noch ein paar Worte mit dem Erben des Drachens wechseln. So könnten wir einander besser kennen lernen und wir vermeiden eine übereilte Entscheidung.“ Der Vorschlag traf auf begeisterte Zustimmung. Also räumten wir den Raum und verteilten uns langsam im Nachbarraum. Einige Angestellte verteilten Gläser und Wein und Gabriel, Kolya, John und ich zogen uns in eine Nische zurück. Gabriel sah mich an und meinte lächelnd: „Siehst du, gut daß du dich nicht gedrückt hast, das war garantiert nicht langweilig. Und was sagst du?“ Ich grinste zurück. „Wie wahr, mein Rabe. Nun, als er da in der Tür stand, konnte ich’s kaum fassen. Aber ich wundere mich selber, der gefällt mir. Klar, ich kann ihm nicht in den Kopf sehen, aber obwohl ich Vorurteile hatte – das hat er ja selber gesagt – hab ich irgendwie das Gefühl, daß er wirklich anders als sein Vater sein könnte. Aber du, mein Liebling, hast noch einiges an Erklärungen vor dir. Mir solche Dinge vorzuenthalten. Und ihr, was meint ihr?“ Die Antworten waren ähnlich. Sowohl Gabriel als auch Kolya meinten, daß er eine andere Ausstrahlung, als sein Vater hatte. Gabriel meinte leise: „Spontan wäre ich bereit, ihn beim Wort zu nehmen. Ich glaube ihm. Besonders, nachdem er andere Qualitäten zeigt, als sein Vater je hatte, seien es der Wille, zu forschen oder seine Art, wie er über Licht und Liebe spricht. Vielleicht liegt hier eine einmalige Chance.“ Auf meine Drohung ging er nicht ein, scheinbar war ich nicht einschüchternd genug... Und dann meinte John noch: „Mich hat seine Zusammenfassung nicht so sehr beeindruckt, wie die Begrüßung obwohl ich noch immer fassungslos über diese neuen Verse bin. Aber er muß sich innerhalb kurzer Zeit gut vorbereitet haben, und er hat – finde ich jedenfalls – damit eine besondere Art von Respekt vor der Versammlung demonstriert. Mich würde interessieren, was er wohl für eine Bitte hat, wenn er als Kader eingesetzt wird.“ Gabriel sah ihn kurz überrascht an, dann lächelte er: „Du bist manchmal noch richtig verblüffend. Du hast den Kern erkannt, er hat uns sein Wesen auf diese Weise schon offenbart. Und was diesen Gefallen betrifft, den ich schon fast wieder vergessen hatte, da können wir vielleicht was machen.“ Er sah sich suchend im Raum um. In der Nähe des Kamins stand Sevarion mit Blick in die Flammen, neben ihm stand Heder und schien nachdrücklich aber relativ erfolglos auf den stillen Mann einzureden. Gabriel nahm mich an die Hand und meinte leise: „Wir werden ihn fragen und vielleicht ist er sogar froh, wenn sein ‚Berater’ aufhört, zu reden.“ So, wie seine Körperhaltung es ausdrückte, könnte Gabriel damit durchaus recht haben. Als wir uns näherten, sahen beide uns entgegen. Heder trat einen Schritt zurück und sah uns mißtrauisch entgegen, Sevarion dagegen wirkte fast erleichtert. Mit einem schiefen Grinsen schaute er uns fragend an. „Unser Polizist, John, hat eben eine interessante Frage aufgeworfen. Eingangs sagtest du, wenn du als Kader bestätigt wirst, hättest du eine Bitte. Wäre es jetzt angemessen, dich danach zu fragen, oder erst, wenn wir uns entschieden haben?“ Der schlanke Mann sah Gabriel nachdenklich an. Dann richteten sich die grauen Augen auf mich, streiften Kolya und John nur kurz, die uns gefolgt waren und kehrten dann wieder zu Gabriel zurück. Dann antwortete er. „Es ist eigentlich kein Geheimnis. Was ich vorhin schon sagte, ich habe niemals innerhalb der Gemeinschaft des Zirkels gelebt. Ich habe viel geforscht, gelernt, ich kenne die Regeln, bin mit dem Wissen um die Oscuro aufgewachsen, aber ich habe niemals dieses Vertrauen und die Verbundenheit erlebt, die damit einher gehen sollten. Wie könnte ich ein guter Anführer sein, wenn mir dieses Wissen fehlt. Daher wäre meine Bitte gewesen, daß ihr mir Berater oder Lehrer zur Seite stellt, die das theoretische Wissen mit praktischem Leben füllen könnten. Doch ich kann diese Bitte jetzt noch nicht offiziell äußern, denn es sieht zu sehr danach aus, als ob ich um die Position als Kader bitte und dafür einen Kompromiß anbiete. Und ich habe ja ausdrücklich klar gemacht, daß ich weder für die Taten meines Vaters verantwortlich bin, noch, daß ich unbedingt Kader sein will.“ Gabriel nickte leicht. Dann legte er in einer überraschend freundlichen Geste den Arm um den jungen Mann und zog ihn vom Kamin – und von Heder – weg, der die letzten Worte ebenfalls mitbekommen hatte. Kolya verstand die Geste und hielt durch ein paar Fragen den verärgert aussehenden Mann an seinem Platz. John und ich gesellten uns zu einigen der anderen Gruppen und hörten uns andere Meinungen an. Es wurde viel über die neuen Verse gesprochen, aber auch über den Erben des Drachen und seine Wirkung auf die Versammelten. Allgemein wurde Sevarion sehr positiv aufgenommen und Gabriel ging wie zufällig mit ihm für weitere Gespräche bei einigen von ihnen vorbei. Als die Versammlung sich auflöste, besuchte ich als erstes Liobá in ihrem Zimmer. Ich mußte alles in jedem Detail erzählen und wir redeten endlos. An diesem Tag gab es keinen Schlaf, wir trennten uns erst, als die Versammlung schon fast wieder begann. Es reichte noch für eine Dusche und dann folgte ‚Frühstück’. Offensichtlich war wohl niemand schlafen gegangen, Isebel berichtete, daß viele den Speisesaal überhaupt nicht verlassen hatten. „Wir haben endlos geredet, Meinungen und Eindrücke ausgetauscht und ich glaube, es gibt sogar eine einheitliche Entscheidung.“ „Hast du auch mit ihm gesprochen? Was hattest du für einen Eindruck?“ Sie grinste und meinte: „Natürlich hab ich mit ihm geredet. Er hat sich mit seinen Komplimenten ja gut eingeführt und er hat da auch weiter gemacht. Das beeinflußt meine Meinung nicht, aber trotzdem bin ich von ihm beeindruckt. Er ist so völlig anders als sein Vater. Wesentlich emotionaler, obwohl er das hier zu unterdrücken sucht. Verständlich. Er ist nicht extrem nervös aber man spürt eine gewisse Unsicherheit, er ist eindeutig von den vielen Führern hier beeindruckt – und nicht zu Unrecht. Ich glaube, Dezmont hat einen riesigen Fehler gemacht, als er diesen jungen Mann – lach nicht, aus meiner Sicht ist er das – von der Welt abschirmte. So konnte er ihn nicht in seinem Sinne formen und das ist für uns heute eine große Chance. Sevarion ist kein typischer Vertreter seines Zirkels, er ist eher ein Einzelgänger, sehr klug aber auch einsam in seinem ganzen Wissen. Doch ich rede zu viel, warte ab. Ich jedenfalls mag ihn.“ Und mehr sagte sie nicht. Doch ich stimmte ihr im Geiste zu. Und dann hob Mikail die Stimme über die anwesenden Leute. „Wir wollen heute Abend die Versammlung kurz halten. Folgt mir alle noch einmal in das Besprechungszimmer. Dort habe ich die Ehre, einige Entscheidungen zu verkünden.“ Also machten wir uns auf und als ich mich neben meinem Raben nieder ließ, hauchte er mir zur Begrüßung einen Kuß auf die Wange. Wie konnte ich ihm denn länger böse sein, wir konnten später noch endlos über die zwei Verse und dieses ominöse Pergament reden. Ich sah ihn an, legte den Kopf zur Seite und meinte leise: „Deine gute Stimmung umgibt dich wie eine zweite Aura.“ Er lächelte und antwortete mit einem weiteren Kuß. Dann wand er sich Mikail zu, der wartete, bis alle sich gesetzt hatten, Sevarion erneut am Kopfende, ihm gegenüber. „Meine Freunde! Heute haben wir mit dem Herzen abgestimmt, es gab weder Handzeichen, noch Streitgespräche, wir haben gemeinsam einen Tag durchwacht und gezeigt, wer und was wir sind. Es liegt immer eine gewisse Stärke darin, seine Schwächen anderen Menschen bekannt zu machen, sich dazu zu bekennen und dennoch den Stolz zu erhalten. Wir alle sind starke Führer und dennoch haben wir auch unsere dunklen Seiten, zu denen wir uns hier, vor Unseresgleichen bekannt haben.“ Ich überlegte jetzt grade, was ich wohl verpaßt hatte, als ich mit Liobá geplaudert hatte. Aber nein, ich war kein Kader und daher war es gut so, wie es war. Mikail sprach weiter: „Unser Entschluß ist einstimmig. Wir akzeptieren die Wahl von Dezmont Darian, dem Weißen Drachen und ehemaligen Führer des Anguis-Zirkel. Wir begrüßen den neuen Kader des Anguis-Zirkel, Sevarion Con Drago. Salve, Drago.“ Das war kurz und schmerzlos, aber ich war mit der Entscheidung voll einverstanden, ebenso wie Gabriel offensichtlich auch, nach seinem Gesichtsausdruck. Daher also seine gute Stimmung. Schön! Und der Titel klang gut aber eben nicht wie der Titel seines Vaters, ein anderer Mann eben. Alle am Tisch standen auf und jeder wiederholte die Begrüßungsformel. Der junge Mann in weißer Kleidung lächelte leicht, erhob sich ebenfalls und wartete, bis jeder ihn begrüßt hatte. Dann hob er sein Glas, sah einmal in die Runde und sprach mit fester Stimme: „Ich danke euch, daß ihr so viel Vertrauen in mich setzt. Ich werde euch nicht enttäuschen. Und dank Gabriel mache ich mir da auch kaum Sorgen, er hat ein großes Problem spontan gelöst. Vielleicht haben es noch nicht alle gehört, aber ich bin nicht sehr äh, versiert, bei der Führung eines großen Zirkels und es wird auch keine einfache Aufgabe, die jetzt auf mich zukommt. Dafür benötige ich neben eurem Vertrauen noch echte Unterstützung. Die wurde mir von unerwarteter Seite gewährt. Vorhin hatte ich eine lange Unterhaltung mit Charon, dem Führer des Blutes. Noch nie habe ich ein Mitglied der Oscuro mit so viel Ausstrahlung, Kraft und auch Klugheit kennen gelernt. Und dieser großartige Mann hat zugesagt, für die nächste Zeit mein Berater zu sein, mein Freund, mein Vertrauter und Beschützer. Solange er einverstanden ist und es sich machen läßt, wird er die Rolle meines Kaj übernehmen. Ich danke Gabriel für diese Idee und Charon für sein Akzeptieren. Ich weiß, er stammt nicht aus meinem Zirkel aber Scuro Tejat hat mir versichert, daß das kein Problem darstellt. Noch einmal, Dank an euch alle. Salve comes.“ Ich sah Gabe an. Das war ein genialer Schachzug gewesen. Ein Berater und Helfer für den Neuling aber gleichzeitig konnte Charon ein wenig auf die Aktivitäten einwirken, wenn es denn notwendig war. Und ich stimmte Sevarion zu, noch nicht einmal mein Rabe hatte diese Stärke, Charon war der Aufgabe garantiert gewachsen. AbschiedeBy the blood of thirteen a new circle will rise United in Light, paid was the price With sword and fire, for love they fought The weapons now cease, after just reward Die Versammlung war nach einigen weiteren Ansprachen zu Ende. Heder war wohl nicht begeistert von dem Ausgang der Beratungen, er stapfte wortlos aus dem Raum, als die Türen für ein spätes – oder frühes – Buffet geöffnet wurden. Belorian sah ihm hinterher und wand sich dann an Gabriel, der mit mir und John noch am Tisch stand. „Der Typ ist einer von denen, die wir aus dem Zirkel entfernen müssen. Er sieht sich selber als Stellvertreter und ist eindeutig auf Dezmonts Linie.“ Gabriel nickte und meinte dann erklärend zu mir und John: „Wir haben beschlossen, daß es am sinnvollsten ist, wenn Sevarion und Charon sich selber um die Leute kümmern werden, die eine Gefahr darstellen. Wie genau sie das machen werden, ist Gegenstand späterer Diskussionen, das muß nicht hier, in Sonho Noite geschehen. Wir haben vereinbart, daß in der nächsten Zeit viel Kontakt und Kommunikation zwischen unseren beiden Zirkeln bestehen wird. Und zu den anderen natürlich auch. Es ist fast so, als würden wir etwas ganz Neues beginnen, du weißt schon, eine echte große Gemeinschaft. Aber langsam waren wir lange genug zusammen. Wir alle haben Verpflichtungen außerhalb dieser Mauern, denen wir nachkommen wollen oder müssen. Obgleich Berenice das anders sieht und schon fleißig Einladungen ausspricht. Daher wird morgen Abschied gefeiert und danach werden wir abreisen.“ Nun war es also soweit. Gerade jetzt, wo wir Zeit und Ruhe hatten, und die einmalige Gelegenheit, viel über die Menschen um uns herum zu lernen, über die Wurzeln der Oscuro und vor allem auch über den Weg, der jetzt vielleicht vor uns allen lag. Während Gabriel mit Belorian sich zu den anderen gesellte, blieben John und ich im Zimmer zurück. Spontan setzten wir uns an den Tisch, sahen durch die geöffnete Tür den Leuten dort im Speisezimmer zu und hingen einige Zeit schweigend unseren Gedanken nach. John machte den Anfang: „Mittlerweile bin ich auch schon in der Lage, zumindest ansatzweise Stimmungen zu empfangen. Du wirkst jetzt etwas traurig, enttäuscht, kann das sein?“ Ich schaute in seine blauen Augen. Und es wurde wärmer im Raum, ich spürte die Freundschaft, die uns verband, ein tiefes Vertrauen, das wir ohne Worte geformt hatten. Ich lächelte zurück: „Ja, irgendwie schon. Jetzt könnten wir uns richtig kennen lernen, Freundschaften schließen und unsere Welt durch die Augen der Oscuro erkunden. Und nun verlassen wir diesen Ort, die Leute und damit auch eine einmalige Gelegenheit. Daher bin ich traurig, und natürlich, weil einige fort sein werden, die ich als Freunde bezeichnen würde, vor allem Liobá und natürlich Bouvier, Charon, Nathaniel, ach ich kann sie gar nicht aufzählen, alle, mit denen wir so viel erlebt haben.“ „Ach Süße, einerseits magst du Recht haben, wir trennen uns von einigen Freunden. Aber, jetzt sind es unsere Freunde, vorher waren sie es nicht. Wir haben so viel gelernt, da tut eine kurze Pause doch sicher gut. Alle diese besonderen Wesen dort draußen kennen wir jetzt. Und es ist ja nicht so, daß wir alle in einem Schloß oder Haus sitzen und keinen Kontakt mehr mit der Außenwelt haben. Jetzt kommt die Zeit, wo man die Freunde besuchen kann, mit langen Abenden, trivialen Unterhaltungen ohne Hektik oder Sorge vor Entdeckung. Du könntest für ein paar Monate Trevor und Carré besuchen, wenn du es wolltest, oder Simeon und im Atlantik schwimmen gehen. Jetzt beginnt unsere Freundschaft mit diesen Leuten erst. Dieses hier war nur die Grundsteinlegung.“ „Wenn du das so siehst… so hab ich das gar nicht betrachtet. Trotzdem werde mir einige fehlen. Was sagtest du mal, was machen wir nur, wenn das ‚zufriedensein’ mal langweilig wird.“ Er lachte. „Dann unternehmen wir was dagegen. Wir besuchen Orte, wo wir noch nie waren, oder organisieren ein neues ‚Noctis Infinitum’ oder arbeiten uns durch irgendeine der vielen Bibliotheken, die unsere Freunde haben, diskutieren Nächtelang, ob wir unserem Schicksal gefolgt sind, oder das Schicksal sich uns angepaßt hat. Jetzt hör auf, kannst du nicht einfach zufrieden sein, daß es vorbei ist?“ Und bei seinen letzten Worten mußte ich dann ergeben mitlachen. Es stimmte ja alles. Na gut. Und damit gesellten wir uns zu den anderen. Ich füllte gerade mein Glas, als Sevarion langsam auf mich zutrat. Etwas zögerlich fragte er: „Können wir uns einen Moment unterhalten, Lumina?“ Ich hatte meine Meinung über ihn gebildet, es sprach nichts gegen ihn und wir hatten bisher kaum ein Wort miteinander gewechselt. „Gerne. Möchtest du auch noch etwas Wein?“ Er nickte und ich füllte sein Glas nach. Dann gingen wir nebeneinander ein paar Schritte. Er war vielleicht ein wenig kleiner als Kolya aber wirkte nicht so groß wie dieser, weil er sehr schlank war. Er schaute nachdenklich zu mir runter und begann dann: „Ich weiß nicht genau, wie ich anfangen soll. Ich will mich nicht für meinen Vater entschuldigen, das hab ich schon erklärt. Trotzdem meine ich, daß ein paar Worte notwendig sind. Es tut mir leid, daß mein Vater dir so übel mitgespielt hat. Und ich gebe dir mein Wort, solange ich der Kader des Anguis-Zirkels bin, wirst du niemals etwas von mir zu befürchten haben – und von meinen Mitgliedern, soweit ich darüber Macht habe.“ „Ich laste dir nicht die Taten deines Vaters an, du bist für mich ein unbelasteter Fremder. Natürlich mußt du dich nicht rechtfertigen. Aber ich danke dir für dein Versprechen und ich wünsche dir viel Glück – und auch wohl viel Kraft – um deinen Zirkel in deinem Sinn zu leiten. Das wird bestimmt nicht einfach.“ Sevarion nickte und ergänzte: „Wenn Heder dafür ein Anhaltspunkt ist, stimmt das wohl. Doch ich habe Glück, daß ich zu dieser Zeit die Führung übernehme. So viele Kader, die mir Zuspruch geben, mir Vertrauen entgegenbringen und Fremde, die meine Feinde sein könnten und sich wie Freunde verhalten. Aber ich will meine Worte mit Taten besiegeln.“ Damit nahm er mein Glas und stellte es auf einen der Tische, die im Zimmer verteilt waren und seines daneben. Dann griff er in die Tasche und zog ein schmales Klappmesser aus der Tasche. Langsam öffnete er es und die ersten neugierigen Blicke gingen in unsere Richtung. Aber keiner sprach uns an. Sevarion hielt die linke Hand über mein Glas und im nächsten Moment hatte er mit dem Messer einen kleinen Schnitt in den Ballen gemacht. Einige Blutstropfen verloren sich in dem roten Wein. Kommentarlos schloß er das Messer, steckte es zurück und fuhr gedankenverloren mit der Zunge über die kleine Wunde, während er mir mein Glas zurück gab. Jetzt waren alle Blicke auf uns gerichtet, alle Unterhaltungen waren erstorben. „Ich reiche dir mein Blut als Geschenk und schwöre, daß ich dich schützen werde und mein Zirkel für dich und deine Freunde keine Gefahr bedeutet, soweit es in meiner Macht steht.“ Wenn ich etwas in den letzten Monaten gelernt hatte, war es die Bedeutung des Blutes innerhalb der Gemeinschaft. Wenn jetzt jemand mir schaden wollte, würde er auch Sevarion schaden, so einfach war die Lage. Schweigend nahm ich das Glas und nahm mehrere kleine Schlucke, sehr demonstrativ, daß auch alle es sehen konnten. Und hier war vielleicht auch eine besondere Gelegenheit für mich, zu zeigen, daß ich einiges verstanden hatte und daß ich diesen Mann nicht als Feind betrachtete, sondern – wie mein Gefährte – als ein gleichwertiges Mitglied dieser Runde. Noch immer schauten uns alle an, als ich ihm meine Hand entgegenstreckte und laut bat: „Dein Messer bitte.“ Etwas verwundert griff er erneut in die Tasche und reichte es mir. Auch ich stellte unsere Gläser auf den kleinen Tisch und verfuhr wie er es vorgemacht hatte. Ein kleiner Schnitt in der linken Hand, schnell geheilt und dann reichte ich ihm das Glas mit dem Blutwein. Jetzt brauchte ich noch ein paar angemessene Worte. „Ich zahle meine Schuld in Blut. Ich verspreche dir, daß ich dich unterstützen werde, soweit meine Kräfte es zulassen. Ich danke für dein Versprechen und betrachte es als eine große Ehre, daß ich mit dem Kader des Anguis-Zirkel das Blut teile.“ Ich glaubte nicht unbedingt, daß Tres in Beifallsrufe ausgebrochen wäre, dafür waren die Worte zu banal, aber sie waren ehrlich gemeint und ein kurzer Blick zu Gabriel bestätigte mir, daß zumindest er sehr zufrieden war. Sevarion nahm ebenfalls einige Schlucke, dann griff er nach meiner Hand und hauchte diesen himmlischen Handkuß darauf, den ich seit meiner Zeit in der Oscuro immer wieder genießen durfte. „Danke, Lumina. Ich freue mich schon sehr darauf, wenn du und Gabriel mich demnächst auf meinem Stammsitz besuchen werdet. Ich bin ein reicher Mann, wenn ich euch eines Tages zu meinen Freunden zählen kann.“ Bevor diese Unterhaltung noch theatralische Züge annahm, retteten Gabriel und Kolya mich. Beide waren bei den letzten Worten näher getreten und mein Rabe legte liebevoll den Arm um mich. Aber offensichtlich wollte auch Gabriel eine nette Abschiedsvorstellung geben, denn er meinte lächelnd: „Nun, eine Freundschaft kann langsam wachsen, wie eine Eiche, über Jahre reifen und es gibt nichts Wertvolleres. Aber sie kann auch aufblitzen, wie das Feuer einer großen Liebe in einem Augenblick und auch diese Freundschaft ist unbezahlbar. Vielleicht sind wir auf dem Weg der zweiten Möglichkeit und brauchen nur noch das Vorhandene zu vertiefen. Meine Schwarze Rose hat alles gesagt und ihr Blut bindet auch mich in den Schwur ein.“ Ich sah ihn an. Mein Herz machte den bekannten Bocksprung und ich schickte ihm eine Botschaft. Da stöhnte Kolya neben uns: „Jetzt geht’s wieder los, die verteilen wieder ihre Funken hier im Raum. Komm Sevarion, wir werden jetzt ordentlich was trinken – und zwar den wirklich wirksamen Wein des Jahresfestes – und werden dabei nur an angenehme Dinge denken. Morgen ist Abschied, heute werden wir feiern.“ Damit zogen die zwei ab und ließen den Raben und mich noch eine Weile Funken versprühen. Am nächsten Tag war es soweit. Im ganzen Schloß herrschte hektische Betriebsamkeit. Am Nachmittag war Berenice bei mir gewesen. Ich mußte Ginger in ihrer Obhut vorerst zurück lassen, sie war noch zu klein, um von der Mutter getrennt zu werden. Aber es gab einen großen Trost bei der Sache: Raphael würde bei seiner Mutter bleiben, die nächsten zwei bis drei Wochen und sie dann persönlich zu Gabriel und mir bringen. Carré hatte nicht dieses Glück, sie würde selber den langen Flug machen müssen, um ihre beiden Rabauken abzuholen. Was ihr aber nichts auszumachen schien. Berenice verabschiedete sich schon jetzt von mir. Sie meinte: „Ich hasse es, auf Wiedersehen zu sagen. Aber du mußt mir versprechen, daß ihr uns bald wieder besucht. Und ich habe Gabriel zugesagt, daß ich nicht wieder mehrere Jahrzehnte lang vergesse, wo er wohnt. Im August haben wir unser Jahresfest, vielleicht schafft ihr es ja, dann zu Besuch zu kommen. Dann kehrt hier richtig Leben ein, die alte Bahn wird in Betrieb genommen und wir feiern tagelang. Denkt darüber nach. Und genießt eure Zeit, noch nie war nach so viel Aufregung ein so optimistischer Blick in eine neue Zukunft möglich. Ob mit oder ohne kryptischen Vorhersagen, wir sehen alle auf eine besondere Art in ein neues Licht. Ich wünsche dir alles Liebe, meine Kleine.“ Als sie mich umarmte, versagte fast meine Stimme. Ich konnte ihr nur ihre warmen Worte zurück geben und versprechen, sie bald wieder zu besuchen. Da war sie wieder, diese unbestimmte Traurigkeit. Und im Laufe des Abends wurde es noch schlimmer. Nach einem wunderbaren Essen sprach Mikail erneut ein paar Dankesworte. Die meisten Gäste und die Leute der Nadiesda Thurus hatten im Laufe des Tages gepackt und die ersten begannen, ihre Sachen in Richtung Tür zu verfrachten. Heute gab es keinen Zug, da wir zu unterschiedlichen Zeiten los wollten. Eine enorme Anzahl von Limousinen stand bereit, einige Busse und es gab einmal eine riesige Aufregung, als im Park ein Helikopter aufsetze. Aber es war nur der Kaj des Felis-Zirkel, der Isebel abholen wollte. So lernten wir dann auch noch Bayoud kennen, wenn auch nur sehr kurz. Ein freundlich dreinblickender Mann, mit langen braunen Haaren und einem seltsamen Spitzbärtchen. Isebel umarmte ihn ausgiebig, strahlte in die Runde und meinte dann: „Jetzt ist es Zeit für mich, abzureisen, bevor Bayoud noch mehr seiner Leidenschaft frönt, exzessiv aufzufallen. Sevarion, ich habe für dich Unterlagen zurück gelassen, die meine und Bouviers Beurteilung der Männer enthalten. Nutze sie nach deinem eigenen Gutdünken und wenn du magst, melde dich jederzeit bei mir.“ Wir alle verabschiedeten uns von ihr mit einer Umarmung und dem Versprechen, sie zu besuchen. Diese Versprechen wurden im Laufe des Abends noch mehrfach gegeben, manche sehr ernst gemeint, manche eher höflich vorgebracht. Als nächstes reisten Belorian und Nathaniel ab. Wir alle waren sehr erstaunt, daß er die Einladung sofort angenommen hatte und nicht erst nach Hause fuhr. Er meinte in einem ruhigen Moment zu uns: „Ich brauche Mut für diese Reise in meine Vergangenheit. Hier habe ich so viel Kraft und Freundschaft getankt, besser kann ich mich nicht vorbereiten, also werde ich jetzt gleich den entscheidenden Schritt machen. Ich melde mich bei euch, wenn ich auf dem Rückweg bin, schaue ich garantiert rein.“ Ich hielt ihn eine ganze Weile fest, als wir uns zum Abschied umarmten. Leise flüsterte ich: „Danke für meinen Namen, Nathaniel. Ich wünsch dir Glück. Und freue mich auf ein Wiedersehen.“ Er flüsterte ebenfalls: „Du hattest den Namen immer schon, ich habe ihn nur ausgesprochen. Und wenn wir uns wieder sehen, werden wir das Blut tauschen, so, wie es sein sollte. Darauf freue ich mich. Auf bald.“ Mittlerweile war ich in ernsthaften Schwierigkeiten. Wenn die Freunde weiter so schnell hintereinander verschwanden, war ich nicht mehr lange in der Lage, die Tränen zurück zu halten. Aber natürlich ging es so weiter. Arpad und Simeon verschwanden mit lockeren Worten und charmant und gut gelaunt wie immer. Serebro war etwas in Eile, in wenigen Tagen würde das Jahresfest des Vespertillo-Zirkels statt finden und er war im Geiste schon bei den Vorbereitungen. Er dankte allen, daß wir gemeinsam etwas Großes erreicht hatten und war dann einfach verschwunden. Chayenne und Thyatira fegten mit guter Laune und lustigen Sprüchen durch die Menschenmassen, brachten alle zum Lachen, versprachen, jeden demnächst zu besuchen und verabschiedeten sich von jedem mehrfach und mit einer unendlichen Anzahl von Küssen und Umarmungen. Dann kam endlich ein Lichtblick. Gabriel, Phale, Kolya, John und ich waren in der großen Halle, umgeben von unseren Leuten und einer Vielzahl von Koffern, als Bouvier auf uns zukam. Aber er grinste nur und meinte: „Ich frage mich, wer in meinem Zirkel das Sagen hat. Liobá hat so lange auf mich eingeredet, bis ich einverstanden war. Gabriel, wieso hast du ihr gesagt, daß wir erst noch mit zu euch kommen sollten. Ich hatte nicht mal den Hauch einer Chance, das abzulehnen. Daher also nicht ‚auf bald’ sondern, ‚wann fahren wir los?’“ Das war eine gute Nachricht. Ein paar Leute blieben uns erhalten. Und es war schon klar, wer hier wen überredete. Scuro Tejat und Scura Seraphina reisten zusammen. Tejat kehrte in sein Haus zurück und Seraphina hatte überraschend eine Einladung von ihm bekommen – und angenommen. Sie wollten dort über die Zukunft des Rates der Alten diskutieren. Und natürlich auch über die Auswirkungen des ‚Neuen Blutes‘ und das Auftauchen der zwei verschollenen – oder nachgelieferten – Verse. Sie hatten sicher genug Diskussionsstoff für einige Jahre. Auch hier gab es viele Umarmungen, warme Worte und das Versprechen, sich recht bald wieder zu sehen. Schwieriger war die Sache mit Charon. Der Fluch des Blutes war nicht vollzählig, es fehlten mittlerweile zwei Mitglieder. Cesira würde mit uns reisen, Charon den ‚neuen’ Drachen in seinen Stammsitz begleiten. Aber dann hatte Sevarion vorgeschlagen, daß die anderen verbliebenen Mitglieder doch ihren Führer begleiten könnten, zum Einen, weil sie ein eingespieltes Team waren und als Hintergedanken, daß Charon und Sevarion bei der Neuorganisation des Zirkels jede Hilfe brauchen konnten, die sie bekommen konnten. Charon und ich wechselten nur eine Umarmung und einen wortlosen Blick. Doch irgendwie war ich mit ihm so verbunden, daß darin viele Worte eingebettet waren. Vielleicht lag es ja daran, daß er mich so oft mit seiner besonderen Fähigkeiten umgeben hatte, er mir als einziger seine wahre Magie gezeigt hatte, als wir das Lager teilten. Raphael verabschiedete sich als Letzter, aber auch nur für kurze Zeit. „Ich habe ja die angenehme Aufgabe, ein junges Hundemädchen ihrer Besitzerin zu überbringen. Eine besondere Freude und für mich die Gelegenheit, ein wenig länger bei meiner Mutter zu bleiben. Und später treffen wir uns alle bei dir im Haus Gabriel. Und dann will ich endlich auch mal deinen Club kennen lernen. Den Silbernen Satyr. Immerhin war ich da ja früher mal Stammgast, nicht wahr, Lumina?“ Ich grinste und nickte. „Allerdings. Aber taucht da bloß nicht beide gleichzeitig auf. Die Damenwelt würde ja völlig irritiert werden.“ Die Nacht war schon weit fortgeschritten, als auch wir uns endlich aufmachten, Sonho Noite zu verlassen. Unser Konvoi umfaßte alleine zwei größere Busse und vier Limousinen. Noch ein paar Dankesworte, eine Umarmung und dann saß ich neben Gabriel in dem ersten Wagen und wir brausten durch die Nacht in Richtung Flugplatz. Tres war mit John im zweiten Wagen, Bouvier und Liobá folgten und das Schlußlicht bildeten Kolya und Cesira. Nach unserer Gruppe war Sevarion gestartet, Charon und seine Leute begleiteten die ehemals gefangenen Männer, unter ihnen Heder, und wir würden uns am Flugplatz noch einmal kurz treffen. Es dämmerte leicht, als wir nach wesentlich schnellerer Fahrt als auf dem Hinweg in Bukarest ankamen. Wie schon zuvor, waren die Zollformalitäten erledigt. Wir winkten Charons Gruppe zu und dann waren wir in Gabriels Learjet. Und kurze Zeit danach ging es in die Luft. Nach Hause.
Veni dulcis amica mea Komm, meine süße Freundin Cum qua iocari et suaviari laß uns das Spiel des Kusses spielen Et teneras delicas sumere und die süßen Freuden genießen Et in amore finire und in Liebe sterben (Buch der Drachen)
Jetzt stehe ich hier auf der Lichtung, vom Vollmond in kaltes Licht getaucht, und sehe den beiden Männern bei ihrem spielerischen Kampf zu, der an so vieles anderes erinnert: einen exotischen Tanz, eine seltsame Art von Liebesspiel, eine furchtbare Drohung und an ursprüngliche Energien, an Wildheit. Die ganze Geschichte begann vor fast genau einem Jahr. Der Tod einer Freundin war der Auslöser einer ganzen Reihe von ungewöhnlichen, unglaublichen und unumkehrbaren Ereignissen, die mich auf diese Lichtung führten. Mittlerweile ist gut ein Monat vergangen, seit wir aus Rumänien zurück sind. Vor einigen Tagen ist Raphael mit Ginger hier eingetroffen. Es gab ein großes Fest, mit viel Wein, viel Lachen und noch mehr Freude. Aber einige Dinge haben sich auch verändert, die mich ein wenig traurig gestimmt haben. Zumindest für einige Zeit. Am Schlimmsten war der Abschied von John. Aber es war eigentlich keine große Überraschung, Liobá war perfekt vorbereitet und hatte im Vorfeld hervorragende Arbeit geleistet. John ist mir ihr und Bouvier nach Kanada geflogen. Er ist jetzt ein Kaj, zumindest nennt Bouvier ihn so, obwohl John das als zu viel Ehre bezeichnet. Beim nächsten Jahresfest des Corvus-Zirkel wird Gabriel ihn wohl lossprechen und John dann offiziell dem Colubra-Zirkel beitreten. Ich bin natürlich traurig, daß er fort ist, aber John meldet sich oft – immerhin gibt es hier jetzt einige Bildtelefone – und er klingt jedes Mal so begeistert und glücklich, daß ich eigentlich nicht lange traurig sein kann. Es ist halt so gekommen, wie es kommen sollte. Und irgendwie paßt er ja wohl auch in den Zirkel, der doch so bekannt ist, für Redner, Rechtsprechung und alles, was mit Gerechtigkeit zu tun hat. John bleibt wohl immer irgendwie der Polizist. Was ebenfalls gut ist.. Kolya und Cesira sind jetzt wirklich Gefährten. So, wie wir John verlieren werden, so wird sie im März in unseren Zirkel eintreten. Die beiden besuchen uns ständig, – nein, eigentlich wohnen sie im Haus und besuchen Kolyas Wohnsitz nur, wenn seine Anwesenheit als Inhaber einer Gesundheitsfarm erforderlich ist. So haben wir immer Leben im Haus und viel zu lachen und ich noch immer hin und wieder Muskelkater, weil ich gezwungen werde, mit Kolya zu trainieren. Er ist ein wahrer liebenswerter Tyrann. Sevarion macht seine Sache gut. Der ‚Graue Drache’ wie er jetzt schon von vielen wegen seiner Augenfarbe genannt wird, hat in seinem Zirkel aufgeräumt. Zweimal wurde er ganz zu Anfang zu einem blutigen Zweikampf herausgefordert. Beide Male hat er überragend triumphiert, er mag ungeübt als Kader sein, aber er soll der beste Kämpfer seit ewigen Zeiten sein, neben einem schon jetzt legendären Ruf als hochgradig intelligent. Schön, daß er zur Seite der ‚Guten’ zählt. Übrigens war Heder einer der beiden, der im Kampf sein Leben verlor. Und das stimmt mich nicht unbedingt traurig. Raphael bleibt jetzt für einige Wochen im Haus, er will noch immer den Silbernen Satyr sehen und ich habe versprochen, ihn dorthin zu begleiten. Einige meiner alten Freundinnen habe ich mittlerweile kontaktiert und langsam beginnt ein fast normales Leben zwischen Gabriels Welt und der Welt, aus der ich einst kam. Ein faszinierender Balanceakt und mit Sicherheit nicht langweilig, ich hätte mich nicht sorgen müssen. Der Rat der Alten ist noch nicht wieder vollzählig, dennoch werden die beiden verbliebenen Mitglieder als Deliberatio Aetas bezeichnet. Von Fenian wurde nie wieder etwas gehört, er scheint verschwunden, seit Dezmont nach Rumänien gereist ist. Aber niemand scheint ihm hinterher zu trauern. Anders ist es mit dem Fluch des Blutes, der momentan nicht benötigt wird, aber dennoch vollzählig ist. Vorerst zumindest, aber es scheint, daß auch hier Änderungen folgen sollen. Aaron hat offiziell die Leitung übernommen und zwei neue Mitglieder wurden bestimmt, die ich aber nicht kenne. Und das bringt mich zu Charon. Auch er ist im Moment Gast in unserem Haus, er hat für einige Zeit seinen Schützling verlassen. Der Mann, den ich noch immer als die dunkle, starke Kraft sehe, hat einen besonderen Platz in meinem Herzen eingenommen. Er übt weiterhin eine gewisse Anziehungskraft auf mich aus und ihm scheint es ähnlich zu gehen. Wenn Gabriel nicht mein Gefährte wäre, wir nicht unsere Seelen vereint hätten, vielleicht wäre dann Charon an diese Stelle getreten. Heute ist der 21. Juni. Sommersonnenwende, der Tag mit der kürzesten Nacht. Auf der Lichtung vor mir messen Gabriel und Charon ihre Kräfte. Es ist ein Anblick, der mein Herz höher schlagen läßt, ich fühle, wie ihre Kraft und Freundschaft über die Lichtung fließen, uns Zuschauer wärmen und verführen. Ich weiß auch, womit der Kampf enden wird, mit dem Atem des Todes und dem Kuß des Lebens, die sie austauschen werden, wenn die Erschöpfung das Ende des Kampfes einläutet. Und das wird dann auch ein Abschied sein. Denn danach werden Gabriel und ich in unser Schlafzimmer gehen und dort werde ich sein Blut nehmen, es wandeln und er wird es danach von mir nehmen. Heute ist die Nacht der zweiten Wandlung und dieses Mal werden wir es richtig und bewußt erleben. Wir haben diesen Termin ausgewählt und bis heute gewartet. Daher ist dies ein Abschied, denn danach wird einiges anders sein. Ich habe keine Angst mehr, daß ich meinem Raben schaden werde, aber noch hat Charon das alte Blut und danach können sie nach dem Kampf nicht mehr unbedenklich das Blut tauschen. Und das bringt mich zur Prophezeiung. In allen Zirkeln ist es jetzt so, daß die zweite Wandlung, mit dem Blut, das bei mir begann, sehr bewußt ausgeführt wird. Die Mitglieder der Oscuro fällen eine bewußte Entscheidung gegen oder für das neue Blut. Aber es ist schon an vielen Orten zu finden. Raphael hat seinen Teil dazu beigetragen, aber auch Liobá und John. Der hat mich einen Tag vor seiner Abreise darum gebeten, daß ich ihm das neue Blut gebe. Es gab kein Zögern. Und das war mein Geschenk an ihn und unsere spezielle Art, sich zu verabschieden. Übrigens gab es seit Magnus keinen weiteren Todesfall. Vielleicht hatten Sevarion und Raphael Recht, solange das Blut in Liebe gegeben wird, sind wir sicher. Und das ist die beste Art, nein die einzig wahre. Die neuen Verse haben uns deutlich gemacht, daß wir jetzt mehr Verantwortung tragen. Mit dem Geschenk des Lichtes an die Wesen der Nacht ist auch eine neue Macht gekommen, die wir nicht mißbrauchen dürfen. Wir sollen das Blut ehren und nicht Unschuld in Schuld wandeln. Und morgen früh werden Gabriel und ich uns gemeinsam einen Sonnenaufgang ansehen. Und bald wird auch Kolya an einem sonnigen Morgen neben uns stehen, mit seiner Gefährtin. Und irgendwann später dann hat Gabriel ein Versprechen gegenüber Charon einzulösen, damit sie wieder das Blut tauschen können. Und so setzt sich die Lawine fort. Ins Licht.
FIN Durch Dreizehn wächst des Kreises Macht Nach langer Nacht aus Schlaf erwacht Vom Licht geleitet, der Liebe verbunden Haben Dunkel und Hell ihre Bestimmung gefunden Des Kodex Wort jetzt schwerer wiegt, Nachdem des Kreuzes Fluch besiegt Der zweiten Wandlung Kuß dem Wissenden geschenkt So, voll Ehre das Dunkel sich zum Licht bekennt.
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