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SELBSTMORD
Die schlimmsten Bluttaten
Der Amoklauf von Erfurt ist nicht nur beispiellos in der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland. Mit 18 Toten übersteigt das Ausmaß auch das der
meisten Bluttaten in Schulen während der vergangenen Jahre. Nur in Dunblane in
Schottland gab es 1996 bei einem Amoklauf genauso viele Opfer wie am Freitag
in Erfurt.
13. März 1996: Ein 43-jähriger Mann erschießt in der Turnhalle der Grundschule
im schottischen Dunblane 16 Erstklässler und deren Lehrerin. Zwölf weitere
Schüler und zwei Lehrer werden verletzt. Der Todesschütze begeht nach der Tat
Selbstmord.
24. März 1998: Ein elf- und ein 13-jähriger Schüler lösen an ihrer Schule in
Jonesboro (US-Staat Arkansas) falschen Feueralarm aus und richten aus dem
Hinterhalt ein Blutbad an. Im Kugelhagel sterben vier Mädchen und eine
Lehrerin, zehn Menschen werden schwer verletzt.
20. April 1999: Bei einem Terrorüberfall auf ihre Schule in Littleton
(US-Staat Colorado) töten zwei Jugendliche mit Schusswaffen und Sprengsätzen
12 Mitschüler und einen Lehrer. 23 Personen werden verletzt. Die Attentäter
begehen nach der Tat Selbstmord. Sprengfallen erschweren die Bergung der
Opfer.
9. November 1999: Ein 15-jähriger Gymnasiast ersticht in Meißen seine
44-jährige Lehrerin vor den Augen von 24 Klassenkameraden. Der maskierte
Jugendliche, der seine Tat ankündigte, kann nach der Tat fliehen, wird aber
kurz darauf in einem Vorort der sächsischen Kleinstadt von einer
Polizeistreife festgenommen. Als Motiv gibt der Jugendliche Hass auf die
Lehrerin an.
16. März 2000: Ein 16-jähriger Schüler schießt im oberbayerischen Brannenburg
auf den Internatsleiter und unternimmt danach einen Selbstmordversuch. Der
57-jährigen Pädagoge stirbt sechs Tage später an seinen schweren
Kopfverletzungen. Die Internatsleitung hatte den Schüler am Vortag wegen
`ungebührlichen Verhaltens" von der Schule verwiesen.
8. Juni 2001: Ein 37-Jähriger Japaner ersticht in eine Grundschule in der
japanischen Stadt Osaka acht Kinder und verletzt 20 zum Teil schwer.
19. Februar 2002: Ein Amokläufer richtet in einer Dekorationsfirma in Eching
seine Waffe gezielt auf den Betriebsleiter und einen Vorarbeiter und tötet die
beiden 38 und 40 Jahre alten Männer. Danach fährt der 22 Jahre alte Mann ins
nahe Freising und erschießt den Direktor einer Wirtschaftsschule. Der Täter
sprengt sich danach in der Schule mit einer selbst gebastelten Rohrbombe in
die Luft.
26.04.2002
Gerichtshof verneint das Recht auf aktive
Sterbehilfe
Am Ende starb die Hoffnung. Auch der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte hat das Gesuch einer todkranken Engländerin auf aktive
Sterbehilfe abgelehnt. Das Grundrecht auf Leben könne nicht das Recht auf
Selbstmord einschließen, heißt es in dem gestern in Straßburg veröffentlichten
Urteil.
Für Diane Pretty ist damit kein Ende für einen langen Leidensweg in Sicht. Die
43-Jährige ist vom Halswirbel abwärts gelähmt. Eine unheilbare Krankheit
verzehrt ihre Muskelmasse. Die zweifache Mutter will deshalb ihrem Leben ein
Ende setzen. Fast bewegungslos durch Amyotrophe Lateralsklerose, auch als
Motoneutron-Erkrankung bekannt, ist sie jedoch nicht in der Lage, Selbstmord
zu begehen. Ihr Mann, der sie seit Jahren pflegt, willigte deshalb ein, die
tödliche Spritze zu setzen. Das gilt jedoch als Beihilfe zum Selbstmord und
würde in Großbritannien mit einer Gefängnisstrafe bis zu 14 Jahren bedroht.
Vergeblich hatte man auf eine Sondererlaubnis gehofft. Alle britischen
Instanzen lehnten das Gesuch ab. Trotz des besonders tragischen Falles machten
die Behörden klar: Falls Brian Pretty seine Frau tötet, wird er bestraft.
Man hat mir nun auch mein letztes Recht genommen, teilte die todkranke Frau
per Sprachcomputer den Reportern auf einer emotionalen Pressekonferenz in
London mit. "Es geht um mehr als nur diesen tragischen Fall", fügte die
Anwältin Mona Arshi hinzu. Der Gesetzgeber sei dringend aufgefordert, eine
Gesetzeslücke zu schließen. Exakte Vorschriften müssten aktive Sterbehilfe
regulieren und die Helfer vor Bestrafung schützen. Sprecher von Hilfsgruppen
nannten das Urteil unmenschlich. Todkranken Menschen werde ein würdevoller
Abschied versagt. Die Deutsche Hospiz-Stiftung in Dortmund begrüßte dagegen
die Abweisung des Gesuchs. Zum Glück habe das Gericht keinen Freibrief zum
Töten erteilt, erklärte eine Sprecherin.
Einspruch gegen das Urteil will das Ehepaar nicht mehr einlegen. Diane Pretty,
die noch vor wenigen Wochen vor dem Straßburger Gerichtshof persönlich für ihr
Gesuch geworben hatte, war gestern kaum noch in der Lage, eine Regung zu
zeigen. Auch eine Reise ins Ausland, wo liberalere Gesetze eine Hilfestellung
ermöglichen würden, kommt nicht in Betracht. Es ist genug, sagte Brian Pretty
im Auftrag seiner Frau.
29.04.2002
"Lawinen lassen sich auch nicht
verhindern"
Nach dem Amoklauf in Erfurt wächst die Angst vor möglichen Nachfolgetätern.
Der Kriminologe Werner Greve warnt allerdings vor Panikmache: Es gebe keine
Amerikanisierung deutscher Verhältnisse.
Hamburg - Mit einer Pistole löschte er die Leben von 17 Menschen aus: Der
Erfurter Ex-Schüler Robert Steinhäuser ("Steini"). Nun sorgen sich Lehrer,
Schüler und Eltern um mögliche Nachahmer, die Angst vor einem neuen Mord in
einer anderen Schule nimmt zu. Viele treibt die Frage um: Gibt es sie, die von
der Tat fasziniert sind und nun im stillen Kämmerlein eine ähnliches Blutbad
planen?
"Echte Erkenntnisse darüber gibt es nicht", sagt Werner Greve, Psychologe am
Kriminologischen Forschungsinstitut in Niedersachsen. Eine einheitliche
Typologie von Amokläufern sei nicht erkennbar. Es handele sich jeweils um
vollständig andere Taten. "Das gemeinsame an Amokläufern ist der Amoklauf."
Zum Inbegriff blutiger Massenmorde wurde in den vergangenen Jahren der
amerikanische Ort Littleton: Bei einem Terrorüberfall auf ihre Schule im
US-Bundesstaat Colorado töteten im April 1999 zwei Jugendliche mit
Schusswaffen und Sprengsätzen zwölf Mitschüler und einen Lehrer. 23 Personen
werden verletzt. Die Attentäter begingen nach der schrecklichen Tat
Selbstmord.
Von Meißen bis Eching
Doch auch Deutschland blieb in der Vergangenheit von blutigen Taten wie dieser
nicht verschont: Im November 1999 erstach ein 15-jähriger Gymnasiast in Meißen
seine 44-jährige Lehrerin vor den Augen von 24 Klassenkameraden. Als Motiv gab
der Jugendliche Hass auf die Lehrerin an.
Im März 2000 erschoss ein 16-jähriger Schüler im oberbayerischen Brannenburg
den Internatsleiter und unternahm danach einen Selbstmordversuch. Die
Internatsleitung hatte den Schüler am Vortag wegen "ungebührlichen Verhaltens"
von der Schule verwiesen - wie auch beim Erfurter Massenmörder.
Im Februar 2002 schließlich geschah der vorerst letzte Vorfall dieser Art
hierzulande: In einer Dekorationsfirma in Eching schoss ein Amokläufer mit
seiner Waffe gezielt auf den Betriebsleiter und einen Vorarbeiter,
anschließend erschoss er den Direktor einer Wirtschaftsschule. Der Täter
sprengte sich danach in der Schule mit einer selbst gebastelten Rohrbombe in
die Luft.
Naturkatastrophen sind unvermeidbar
Rache und Vergeltung als Motive? Lassen sich Taten wie diese also verhindern?
Kriminologe Greve winkt ab: Es gebe Tausende Menschen mit Rachegelüsten, die
aber mit ihren Empfindungen anders umgingen. Amokläufer sind, sagt er, "im
Vorhinein nicht identifizierbar." Bei ihnen funktionierten normale Mechanismen
im Kopf nicht mehr. Es sei daher ausgeschlossen, dass Amokläufe zu ganz
normalen Tagesdelikten würden - wie etwa Diebstahl.
Eine Sicherheit vor diesen Taten kann es aus Sicht des Kriminologen nicht
geben. "Amokläufe sind so wenig vermeidbar wie Naturkatastrophen." Was er
damit meint, macht er am Beispiel von Lawinen deutlich: Nur weil es
Erkenntnisse über Lawinen gebe, könnten sie in Zukunft noch lange nicht
verhindert werden, so Greve. Ähnlich verhielte es sich mit Amokläufen.
Eine Amerikanisierung der Verhältnisse in Deutschland, wie sie einige
Boulevardmedien zurzeit beschwören, kann Greve nicht erkennen. "Das ist
definitiv nicht der Fall." Das Gegenteil treffe zu: Schwere Gewaltverbrechen
wie Mord, Totschlag und Vergewaltigung gingen in Deutschland zurück. Auch gebe
es keine Anzeichen für eine Brutalisierung an deutschen Schulen. Die
Jugendgewalt sei rückläufig.
Eine Aufrüstung der Sicherheitsmaßnahmen an den Lehranstalten ist aus Sicht
Greves daher nicht sinnvoll: Durch bewaffnete Sicherheitskräfte etwa werde die
Gewalt an den Schulen erst sichtbar und "omnipräsent", warnt er. "Das macht
keinen Sinn."
Hingegen würde eine Verschärfung des Waffengesetzes die Sicherheitslage
erhöhen. "Jede Waffe, die nicht im Verkehr ist", betont Greve, "ist ein Stück
mehr Sicherheit."
29.04.2002
Tote in Pouch
Staatsanwalt: Mord und Selbstmord
Herkunft der Tatwaffe ist noch völlig unklar
Bitterfeld/MZ. Durch Mord und Selbsttötung
sind die beiden Personen am vergangenen Freitag in Pouch ums Leben gekommen
(die MZ berichtete). Das erklärte am Dienstag die Staatsanwaltschaft Dessau
auf Anfrage der MZ.
Nach der Obduktion des 44-jährigen Mannes und der 31-jährigen Frau gehen
Gerichtsmedizin und Staatsanwaltschaft davon aus, dass der Mann die Frau
tötete und dann sich selbst erschossen hat. Auslöser für diese grauenhafte Tat
sei wahrscheinlich ein Beziehungsdrama gewesen, teilte die leitenden
Staatsanwältin Susanne Helbig mit. Laut Zeugenaussagen hatte es zwischen den
Beiden schon in der Vergangenheit Streit gegeben, so Helbig. Außerdem seien
finanzielle und geschäftliche Schwierigkeiten nicht auszuschließen.
Woher die Tatwaffe kommt, könne zurzeit noch nicht gesagt werden, erklärte die
Staatsanwältin. Der Mann sei in keinem Schützenverein registriert gewesen und
habe demzufolge auch keine Waffenbesitzkarte oder einen Waffenschein gehabt.
Nach genauer Prüfung aller Zeugenaussagen und der Hinweise auf persönliche
Probleme oder Schwierigkeiten werde das Verfahren in etwa 14 Tagen
abgeschlossen werden können, erklärte die Staatsanwaltschaft. Einen
abschließenden Bericht werde es erst zu diesem Zeitpunkt geben. Für weitere
zweckdienliche Hinweise sei die Staatsanwaltschaft dankbar, betonte Helbig.
01.05.2002
Amoklauf ist Nachahmungstat
Forscher legen Studie vor
ERFURT, 1. Mai. Nach dem Amoklauf im Erfurter Gutenberg-Gymnasium hat die
Polizei die Spurensicherung in der Schule abgeschlossen. Alle Beweise seien
gesichert worden, sagte ein Polizeisprecher am Mittwoch. Das Schulgebäude
bleibe aber weiterhin gesperrt. Ein ehemaliger Schüler des Gymnasiums hatte am
vergangenen Freitag in Erfurt 16 Menschen erschossen und sich selbst getötet.
Unter Jugendschützern und Forschern hält unterdessen die Debatte an, wie es zu
solchen Gewaltausbrüchen unter Jugendlichen kommen kann. Nach Erkenntnissen
von Wissenschaftlern der Universität Würzburg sind Amokläufe in vielen Fällen
Nachahmungstaten. Eine Untersuchung von 143 Amokläufen zwischen 1993 und 2001
zeige, dass solche Taten über Länder und Kontinente hinweg imitiert würden,
sagte Armin Schmidtke, Professor an der Würzburger Uniklinik für Psychiatrie
und Psychotherapie. Die Zeitpunkte der Massaker seien nicht zufällig. Oft
folgten sie früheren Amokläufen in einem Zeitraum von 18 Tagen. Das Attentat
von Erfurt war nach Erkenntnissen der Ermittler hingegen lange geplant.
Waffennarren sind oft beteiligt
Bis auf eine Ausnahme habe es sich bei den Tätern der untersuchten Amokläufe
um jüngere Männer gehandelt. Durchschnittlich seien sie 35 Jahre alt, ihr
Motiv sei oft Rache, erklärte Schmidtke. Überraschend hoch ist der Anteil mit
Berufen, bei denen Waffen üblich oder Kontakte zu Waffen vorhanden sind. Knapp
30 Prozent der Attentäter waren Soldaten, sieben Prozent Polizisten. Einige
seien auch als Waffennarren beschrieben worden.
In vielen Fällen habe sich der Tatablauf auf verblüffende Weise geähnelt,
berichtete der Forscher. Die Täter hätten oft die gleiche Kleidung gewählt,
zum Beispiel Kampfanzüge, oder hätten sich gleich verhalten. Bei vielen
Attentätern seien Berichte über frühere Amok-Taten gefunden worden.
Zudem gaben der Studie zufolge einige Täter zu, dass ihnen frühere Amokläufe
als Vorbild gedient hätten. Forscher vermuten daher, dass ähnlich wie bei
Suiziden eine hohe Wahrscheinlichkeit zur Nachahmung bestehe.
01.05.2002
Das Töten auf offener Bühne
Weshalb geht der 19-jährige Robert
Steinhäuser, der schon einmal durchs Abitur gefallen war und den zweiten
Versuch nicht machen konnte, weil er von der Schule verwiesen worden war -
weshalb geht dieser Junge, der seinen Eltern den Schulverweis schamhaft
verheimlicht hatte, am Tag der Abiturprüfung in sein Gymnasium zurück und
ermordet zwölf Lehrer sowie vier weitere Menschen, die ihm im Weg standen,
bevor er sich selbst hinrichtet? Weshalb verkleidet er sich als Ninja-Kämpfer,
zieht eine schwarze Maske über und durchkämmt systematisch, wie ein Kombattant
im Bürgerkrieg, die Gänge des Schulgebäudes, bei seiner mörderischen
Verrichtung Furcht, Schrecken und lähmendes Entsetzen verbreitend?
Jedes Verbrechen ist eine Einzeltat, der Täter folgt seinem eigenen Drehbuch,
er handelt auf eigene Faust und Rechnung, er trägt die persönliche
Verantwortung für das, was er tut. Nach alldem können wir Robert Steinhäuser
freilich nicht mehr befragen. Aber wir können die dramatische Tat selbst
danach befragen, welches Muster sie trägt und welcher inneren Logik sie folgt,
was sie für den Täter womöglich bedeutet, welche existenziellen Bedürfnisse
sie zu befriedigen, welche Größenideen sie auszudrücken vermag. Und wir
sollten uns alle fragen, worum es bei dieser Inszenierung eigentlich ging,
welche unbewussten Botschaften an die Welt sie enthält.
Schauen wir auf ein vergleichbares Tatmuster, das wir seit einiger Zeit aus
den USA kennen. In der Santana-Highschool von Santee / California schoss am 5.
März 2001 Charles Andrew Williams mit einem Revolver um sich und tötete zwei
seiner Mitschüler. Der Sheriff, der den 15-jährigen Täter schließlich
festnahm, verwies auf das öffentliche Aufsehen, das sich im spektakulären
Polizeieinsatz und durch die Präsenz der Medien manifestierte und das dem
Objekt des Interesses sichtlich zu gefallen schien: "He was … I don't want to
say enjoying, but he was not unhappy with the celebrity he was receiving." In
Vorankündigungen seiner Tat, die ihn weit über die Grenzen seiner Kleinstadt
hinaus berühmt machen sollte, hatte der Junge auf das
Columbine-Highschool-Massaker in Littleton / Colorado verwiesen, das zwei
Jahre zuvor, am 20. April 1999, das Land erschüttert hatte; damals hatten
zwölf Schüler und ein Lehrer in einer zum Teil vom Fernsehen übertragenen
Schießerei ihr Leben verloren, darunter auch die beiden Schützen, die sich am
Ende selbst umbrachten. Das Time-Magazine vom 19. März 2001 brachte seine
Titelgeschichte unter die Überschrift "The Columbine Effect" und listete in
einer "Trefferliste des Hasses" (scorecard of hatred) vergleichbare Vorfälle
nach Littleton auf. In den beiden Tagen, die auf die tödliche Schießerei in
Santee folgten, wurden alleine in Kalifornien 16 weitere Schüler verhaftet,
weil sie Waffengewalt androhten oder Schusswaffen in die Schule mitbrachten.
Nach einer Gedenkfeier für die Opfer von Santee schoss in der katholischen
Highschool von Williamsport / Pennsylvania die Achtklässlerin Elisabeth
Catherine Bush auf eine Klassenkameradin und war damit das erste Mädchen, das
sich an den in Mode gekommenen Schießereien an amerikanischen Schulen
beteiligte.
Highschool shooting ist kein martialisches Computerspiel, sondern die
Kurzformel für ein mörderisches Spektakel, das in den USA seit einiger Zeit
immer wieder für mediale Aufmerksamkeit sorgt. Es handelt sich um die
schulische Variante eines neuen Verbrechenstypus, der mit dem Begriff des
rampage killing nur allzu treffend bezeichnet wird. Die Taten finden erstens
am helllichten Tage statt, gewissermaßen auf offener Bühne, vor Publikum und -
in einigen Fällen - sogar vor laufenden Kameras. Die Orte des Verbrechens
sowie die Zeitpunkte sind zweitens so gewählt, dass es möglichst viele Zeugen
gibt - öffentliche Plätze, Hauptverkehrsstraßen, Betriebe, Kindergärten, der
Campus. Es gibt drittens keinen Versuch der Verheimlichung, des Versteckens
oder gar Entkommens, im Gegenteil: Den Tätern - meist sind es Einzeltäter -
geht es ganz offensichtlich darum, gesehen zu werden, bevor sie sich dann
selbst umbringen oder im Kugelhagel der Sicherheitskräfte provozierten Suizid
begehen. Und viertens wirken die monströsen Taten merkwürdig unmotiviert, die
Beweggründe liegen häufig im Dunkeln und lassen sich auch im Nachhinein selten
aufklären - zumindest bleibt die Suche nach dem klassischen Motiv des
Kapitalverbrechens (Liebe oder Geld), der gängigen sozialen Depravation
(Armut, Elend, Verzweiflung) oder der persönlichen Psychopathologie (Psychose,
Borderline-Störung) in aller Regel erfolglos. Die übliche Ursachenforschung,
ob kriminologischer, sozialwissenschaftlicher oder psychologischer Provenienz,
ist bei diesem Tatmuster an ihre Grenze geraten, sodass die hilflosen Forscher
gerne von "Taten ohne Motiv" oder "motivloser Gewalt" sprechen.
Es sind die situativen Faktoren selbst, die all diesen Taten eine
zeitgenössische Textur geben. In den meisten Fällen waren die Mörder vorher
unauffällig, auch wenn Kränkungserfahrungen in der Vorgeschichte häufig
nachzuweisen waren. Niemand aus ihrer Umgebung hätte ihnen das wirklich
zugetraut, auch wenn einige von ihnen ihre Taten angekündigt hatten. Aber alle
hatten sie offenbar ein starkes Bedürfnis, sich öffentlich in Szene zu setzen.
Sie gestalteten - als Drehbuchautoren, Regisseure und Hauptdarsteller in
Personalunion - ein Stück, bei dem sie selbst im Mittelpunkt standen und die
anderen zu Opfern, Mitspielern oder Zuschauern machten. Sie bedienten sich
dabei des Publikums als Medium einer Selbstinszenierung, welche die eigene
Bedeutung zum Thema hatte - und für die sie die Vorbilder aus einer
durchmedialisierten Welt nahmen: aus martialischen Videospielen, aus den
Gewaltfilmen des Action-Kinos, aus den interaktiven Formaten des entfesselten
Fernsehens. Für die Dauer der Aufführung waren sie der Anonymität des
trostlosen Alltags entronnen und hatten im Auge der Fernsehkamera, im
Blitzlicht der Pressefotografen, in den imaginierten Schlagzeilen des
folgenden Tages so etwas wie Identität gewonnen. Im finalen Akt der
Auslöschung der anderen, der zugleich ein Akt der Selbstvernichtung war,
durften sie sich des Interesses einer Umwelt sicher sein, die sie sonst
wahrscheinlich nie beachtet hätte.
War nicht auch Robert Steinhäusers "mörderischer Abgang" (so die Überschrift
der aktuellen Titelgeschichte des Spiegel) eine grandiose Aufführung, die dem
Darsteller erst jene Berühmtheit verschaffte, von der er zuvor nur hatte
träumen können, die seinem privaten Hass eine öffentliche Bedeutung verlieh,
an die keine Fantasie herankam - und die jetzt vielfältig dokumentiert ist in
den Wochenendausgaben der Tageszeitungen, in den Live-Fernsehbildern des
Entsetzens, in langen TV-Debatten und Expertenbefragungen, in
detailversessenen Schilderungen des Tathergangs, ergänzt durch biografische
Rekonstruktionen und ausgefeilte Psychogramme? Aus diesem Blickwinkel
betrachtet, scheint die Frage nach den Ursachen der Tat weniger erhellend als
die nach den Wirkungen, auf die sie abzielt: gesehen werden, Aufmerksamkeit
gewinnen, Beachtung finden. Rückmeldungen besonderer Art werden hier gesucht,
die sich zunächst aus der Angst und Ohnmacht der Opfer ergeben und ein
grandioses Gefühl eigener Macht vermitteln. Entscheidend aber ist das zu
erwartende mediale Echo, das identitätsstiftend wirkt und im vorfantasierten
postumen Nachruhm Unsterblichkeit verheißt - einmal berühmt sein und dann
sterben.
Gewiss, man könnte dem Erfurter Schüler die Individualdiagnose einer schweren
narzisstischen Persönlichkeitsstörung anheften. Das Tatgeschehen ließe sich
dann im Schema von narzisstischer Kränkung und kompensatorischer Wut
interpretieren: Das verletzte Selbstgefühl kuriert sich in einem absoluten
Vernichtungswillen, der sich in eliminatorischer Konsequenz gegen die
vermeintliche Quelle der Kränkung richtet, im konkreten Fall gegen die
Lehrerschaft in einem tödlichen Rachefeldzug. Aber die hochempfindliche
Reizbarkeit, die Bereitschaft zur Aggression und maßlosen Gegenaggression
scheint ebenso zur Ausstattung des zeitgenössischen Sozialcharakters zu
gehören wie das unstillbare Bedürfnis nach medialer Spiegelung. Der
pathologisch entgleiste Narzissmus lebt - wie auch der mediale Narzissmus, der
uns in den Kapriolen des postmodernen Alltags begegnet - unbewusst von der
Echo- und Spiegelwirkung, auf die er heimlich spekuliert: Videor ergo sum -
ich werde gesehen, also bin ich!
Insofern können wir durch die Analyse des rampage killing etwas über reflexive
Mechanismen der Identitätsfindung erfahren. Ausgerechnet Gewalttätigkeit - aus
der Mitte unserer Gesellschaft, nicht von ihren Rändern kommend - erfährt in
den unzähligen Resonanzräumen der Postmoderne eine rückkoppelnde
Verstärkerwirkung, die ihresgleichen sucht. Durch mediale Spiegelung mit
identitätsbildender Kraft ausgestattet, erzeugt sie eine celebrity der
besonderen Art: Timothy McVeigh, jener rechtsradikale Desperado, der in einem
öffentlichen Gebäude die Bombe gelegt hatte, die 168 Menschen das Leben
kostete, genoss noch die Bühne seiner öffentlichen Hinrichtung, bei der so
viele zusehen wollten - und das Publikum war ihm Partner bei der grandiosen
Szene, im moralischen Sadismus seinem krankhaften Hass näher, als es ahnte.
Der Vorsprung Amerikas schrumpft, nach Nanterre und Erfurt.
02.05.2002
Tödliche Handlungsmuster
Du sollst dir kein Bildnis machen: Brutale Filme und Videospiele liefern die
Blaupause für Amokläufe und sollten deshalb verboten werden.
Warum erschießt ein junger Mann seine Lehrer, gezielt, kaltblütig und im Stile
einer Hinrichtung? Wenn von einer „Wahnsinnstat“ die Rede ist, wird allzu
schnell das Pathologische bemüht, die Unerklärlichkeit einer gestörten Psyche,
die Generalisierungen nicht zulässt und nicht zulassen soll. Aber die
„Einzeltäter“ häufen sich, so dass die Ursachen nicht einfach in die
zufälligen Gegebenheiten einer bestimmten Persönlichkeit abgeschoben werden
können. Natürlich gleicht kein Täter dem anderen, die Tat selbst aber hat
immer erstaunliche Parallelen mit anderen Taten.
Seit Anfang der neunziger Jahre haben mehrere männliche Jugendliche in ihren
Schulen Massaker verübt. Sie haben Rache an ihren pädagogischen Institutionen
genommen. Betroffen sind zumeist nicht einzelne Lehrkräfte, die Objekt von
persönlichem Hass wären, sondern die öffentliche Einrichtung selbst, die
Schule. Die Täter reagieren anscheinend auf individuelle Kränkungen, für die
etwas Abstraktes, nämlich eine gesellschaftliche Institution, verantwortlich
gemacht wird. Es ist kein Zufall, dass der Täter von Erfurt mit seinem
Amoklauf aufhörte, als er mit der Person eines Lehrers konfrontiert wurde, der
ihm auf den Kopf zu sagte, was er getan hat.
Was an solchen Fällen abzulesen ist, lässt sich nicht als wachsende Gewalt-,
sondern als wachsende Tötungsbereitschaft in der Öffentlichkeit bezeichnen.
Hier liegt auch die Gemeinsamkeit mit den Massakern im Parlament des Schweizer
Kantons Zug und in der Gemeindeversammlung im französischen Nanterre. An
beiden Orten traten erwachsene Männer auf, die gewählte Volksvertreter wahllos
töten wollten, um wiederum eine gesellschaftliche Institution zu treffen. In
keinem dieser Fälle ging es um persönliche Bereicherung, vielmehr wurden
Handlungen vollzogen, die als Fanal der eigenen Person gedacht waren und bei
denen das Leben des Täters von Anfang an unter die Opfer eingerechnet wurde.
Die Muster dieser Taten entstammen den Medien und nicht einer „kranken
Phantasie“. Der Einwand, dass bei gleichem Konsum die Effekte verschieden sind
und selbst hoher Konsum nicht automatisch zur Anwendung der Gewalt- und
Tötungsmuster führt, ist in Wirklichkeit eine bestimmte Art der Bestätigung.
Die Muster sind Bildfolgen, die gespeichert sind und jederzeit abgerufen
werden können. Alle Gewaltvideos und alle brutalen Games haben eine bestimmte
Voraussetzung, nämlich die Darstellung des Tötens ohne jede persönliche
Beteiligung. Die Phantasie wird nicht selbst ausgedacht, sondern mit real
wirkenden Bildfolgen nachvollzogen. Die Muster des Tötens sind nicht
schrecklich, sondern lustvoll, und jeder kann sich in die Rolle des Täters
versetzen, ohne innere Schwellen aufzubauen.
Suizid ist eigentlich ein Entschluss, das eigene Leben zu beenden. Der Freitod
von Schülerinnen und Schülern ist seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder
dokumentiert worden. Massaker in Schulen aber, die mit einem Selbstmord
beschlossen werden, gab es zuvor nie. Sie zeigen, dass bestimmte Auslöser wie
Schulverweise oder Kränkungen unter Mitschülern Gewaltvideos in Taten
verwandeln können, die ohne jede Hemmung vollzogen werden. Wer die Türen von
Klassenzimmern aufreißt und die anwesenden Lehrkräfte hinrichtet, und dies ein
Dutzend mal, ist nicht einfach „ausgerastet“, sondern vollzieht eine wohl
vorbereitete Tat, die sich von keinerlei Gewissensregung ablenken lässt. Er
hat die Hinrichtung des Lehrerstandes im Sinn.
Die Täter haben vorher mit dem Leben abgeschlossen, der Entschluss ist der von
Rächern in eigener Sache, die zu wissen glauben, was sie tun. Ihr „warum“ ist
nicht rätselhaft. Der letzte Akt ihres Lebens soll möglichst viele Opfer
kosten. Wie in den medialen Vorbildern wird die Tat umso spektakulärer, je
mehr Opfer es gibt, und dafür genügt die reine Zahl, ohne dass irgendeine
Beziehung nötig wäre. In diesem Sinne handelt es sich auch nicht um einen
„Selbstmordanschlag“.
Es gibt kein politisches oder ideologisches Motiv, sondern nur die Verknüpfung
von persönlicher Kränkung mit den Mustern des Tötens, die abgerufen werden
können, wenn der Entschluss zur Tat gefasst ist. Die Opfer werden nicht für
irgendein höheres Ziel in Kauf genommen, sondern sie sind der Blutzoll für das
persönliche Scheitern. Das setzt voraus, dass moralische Standards, die
Hemmungen vorschreiben, ausgeschaltet werden können oder nie vorhanden waren.
Kinder und Jugendliche können sich heute problemlos Gewaltdarstellungen aller
Art verschaffen. Vor allem die männlichen Jugendlichen sind mit den Mustern
der realen Taten vertraut und reagieren darauf keineswegs überrascht, weil
massakrierendes Töten nicht nur ständig zu sehen ist, sondern der Konsum
dieser Videos zugleich eine Art Mutprobe darstellt. Es gehört zur
Freiheitserfahrung heutiger Jugendlicher, sich diese Darstellungen anschauen
zu können. Zwischen dem Spiel und der Wirklichkeit bestehen keine scharfen
Grenzen, schon weil die Spiele selbst über keine moralischen Schwellen mehr
verfügen.
Die bis heute bekannten Täter haben noch eine andere Gemeinsamkeit, sie sind
nicht auffällig, weil niemand wirklich auf sie achtet. In Littleton haben die
Täter mehrfach angekündigt, was sie vorhatten, ohne dass sie ernst genommen
worden wären. In Erfurt hat der Täter erfolgreich verschleiern können, dass er
nicht mehr das Gymnasium besucht. Der Entschluss zur Tat reift in einem
geschlossenen Gedankenkreis, der sich nicht mitteilt, ohne dass irgend jemand
bemerken würde, was in dem Kopf vor sich geht. Es sind vor allem diese
einsamen Entschlüsse, die ratlos machen. Jede neue Tat erhöht die
Wahrscheinlichkeit von Folgetaten, Prävention scheint angesichts der
verdeckten Spezifik der Auslöser kaum möglich. Aber genau das kann nicht
hingenommen werden.
Das schleichende Gift der Bilder ist nicht harmlos. Wer ständig Games benutzt,
die alle Details von Töten nicht nur darbieten, sondern simulierend agieren
lassen, wird nicht allein deswegen zum Täter, aber er hat alle Muster zur
Verfügung, die er benötigt, wenn eine Situation wie in Littleton oder Erfurt
entsteht. Daraus würde folgen, diese Games und Videos zu verbieten und nicht
nur den Besitz, sondern bereits die Herstellung unter Strafe zu stellen, auch
wenn die Produkte unterschwellig beschafft werden können. Sie sind gefährlich,
gerade weil sie individuell ganz unterschiedlich wirken. Man kann nicht
einfach auf Einsicht hoffen, weil es um eine erhebliche Minderheit von
hard-core-Nutzern geht, die ihren Zugang uneinsichtig verteidigen werden. Es
ist wie mit jeder Droge, sie gefährdet nicht nur die Nutzer, sondern zugleich
die Anderen.
Es genügt also nicht, die Waffengesetze zu verschärfen. Wer Gewaltvideos und
Games „ab 18 Jahren“ frei gibt, riskiert, dass sie allgemein zugänglich
bleiben. Die Darstellungen bewegen sich außerhalb aller zivilisatorischen
Grenzen, es sind auch nicht nur Verherrlichungen männlicher Brutalität,
sondern es sind allgemein nutzbare Tötungsanleitungen. Die Täter verfahren
nach Mustern, die sie nicht selbst entwickeln müssen, sondern die gespeichert
sind. Wenn die tödliche Phantasie Wirklichkeit wird, ist nicht nur ein
„Einzelfall“ zu beklagen.
Schließlich stellen sich auch pädagogische Fragen. Kinder integrieren sich
nicht in die Gesellschaft, indem man sie der Schule oder noch einfacher sich
selbst überlässt. Ihre Entwicklung steuert nicht auf frühe Selbständigkeit zu,
sondern ist abhängig von Erfahrungsmilieus, in und mit denen ihr Selbstwert
bestimmt wird. Dabei sind die Erwachsenen immer persönlich gefordert. Für die
Erziehung gibt es keine Stellvertretung, aber die unausgesetzte Anstrengung
ist offenbar nicht mehr selbstverständlich. Die Gesellschaft muss sich darüber
im Klaren werden, was sie eigentlich mit ihren Kindern will.
02.05.2002
Mechaniker im Fasching
Wie die Band Slipknot plötzlich das
Schulattentat von Erfurt zu verantworten hatte
BERLIN, 1. Mai. Nur wenige Stunden nachdem Robert Steinhäuser den penibel
geplanten Rachefeldzug in seinem Erfurter Gymnasium durch Selbstmord beendet
hatte, waren die ersten Verdachtsmomente bereits geäußert. Nicht der Täter war
für seine Tat verantwortlich, sondern in erster Linie die Medien, die in
geballter Kraft auf den hilflosen Jungen einwirkten. Harmlose
Hollywood-Blockbuster wie "Matrix" und "Terminator" wurden als schreckliche
Gewaltfilme identifiziert, die einen derartigen Einfluss auf Steinhäuser
ausübten, dass sie seine Moralvorstellungen nachhaltig zersetzten. So
genannten Ego-Shooter-Spiele, durch die man am PC das großkalibrige Schießen
angeblicherweise viel besser lernt als im Schützenverein, hätten ihn auf den
Ernstfall vorbereitet, so dass die popmusikalische Entgleisungen anschließend
ein leichtes Spiel gehabt hätten, Steinhäuser durch präzise Botschaften den
Weg zur Untat zu weisen.
Zweifelhafte Argumente
So trat Monika Hohlmeier, die bayerische Staatsministerin für Unterricht und
Kultus und demnach auch Expertin für jugendkulturelle Belange aller Art, im
Fernsehen bei Sabine Christiansen auf und lieferte den Beweis. Robert
Steinhäuser habe vor seiner Tat häufig einem Heavy-Metal-Song gelauscht, der
unmissverständlich dazu auffordere, allen Lehrern den Garaus zu machen,
kompromisslos, und zwar sofort. Wie hätte sich Steinhäuser da noch wehren
sollen? Und schon am Tag darauf wusste die "Bild"-Zeitung den verantwortlichen
Song mit Titel zu benennen: "School Wars", eine ruchlose Komposition aus der
Feder der amerikanischen Radaubrüder von Slipknot.
So fügten sich die Puzzleteile zusammen und schufen ein überaus denkwürdig
schiefes Bild, zumal es den besagten Slipknot-Song nämlich überhaupt nicht
gibt. Es gibt auch keinen anderen Song, in dem Slipknot dazu aufrufen, Lehrer
zu töten, sowie ein Song namens "School Wars" laut dem Internet-Musik-Lexikon
allmusic.com auch von keiner anderen Band existiert.
So wie die Schulmorde vom April 1999 in Littleton, Colorado, gewisse
Parallelen mit Erfurt aufweisen, so zeigen sich auch bei der Suche nach den
Ursachen Gemeinsamkeiten. Damals hieß es, dass der luziferische Glamrocker
Marylin Manson die Teenager Dylan Klebold und Eric Harris in seinen Bann
gezogen hätte, sie durch Akkordfolgen ethisch zerrüttet, um sie anschließend
zum Mord an ihren Mitschülern zu verleiten. Obwohl Klebold und Harris kein
einziges Manson-Album besaßen, schien sein zweifelhaftes Auftreten als Beweis
genug.
Da es allerdings aus europäischer Perspektive schwerfällt, sich über Mansons
fast schon drollige Grenzüberschreitungen nachvollziehbar zu empören, taugen
die konsequent nihilistischen Slipknot als Sinnbild des Bösen offenbar ganz
prächtig. Die neunköpfige Band aus Des Moines, Iowa, hat seit ihrer Gründung
vor sieben Jahren drei Alben veröffentlicht, die vor allem dadurch auffallen,
dass sie ungefähr so klingen, wie Naturkatastrophen. Alle Bandmitglieder sind
vermummt, tragen Gas-, Clowns- oder auch Schweinsmasken, um so ihren
Bühnencharakter subtil zu unterstreichen.
Die Kleidung ist hingegen uniform und beschränkt sich auf graue oder rote
Overalls. Sie sehen also nicht so, wie mehrfach behauptet, wie Faschisten aus,
sondern eher wie Mechaniker beim Fasching. Um im Bild zu bleiben, lassen sie
dann bei ihren Konzerten wie Mechaniker im Fasching die sprichwörtliche Sau
raus, toben ein bisschen wilder und lauter als andere Bands umher, urinieren
und onanieren mitunter auch vor Publikum.
Proteste der Fans
Im Rahmen einer Wertediskussion mag das zwar gegen Slipknot sprechen,
andererseits muss man dazu sagen, dass urinierende und onanierende
Bühnendarsteller auch schon im Staatstheater gesehen wurden - etwa unter der
Regie von Zadek, Schleef und Ostermeier -, wo es dann als erbaulich galt.
Slipknot haben viel Erfolg; ihre Alben wurden mit Platin ausgezeichnet, schon
zweimal waren sie für den Grammy nominiert. Alles in allem kann man also
sagen, dass man schon sehr naiv sein muss, wenn man meint, von Slipknot gehe
irgendeine Bedrohung aus.
Doch, und das ist der Punkt, gerade Tugendwächtern scheint diese Naivität
gegeben, die es wahrscheinlich braucht, um die Diskussion über den
schädigenden Einfluss von Film, Videospiel und Pop auf die Jugend stets aufs
Neue zu entflammen. Dem drohenden Realitätsverlust, den man der Jugend
prophezeit, sind die Propheten dabei schon längst erlegen. Doch Slipknot wird
all das wahrscheinlich wenig kümmern. Schon jetzt rufen ihre Fans dazu auf,
Slipknot-T-Shirts vor allem zum Schulunterricht zu tragen. Und wenn nichts
schief geht, bekommen Slipknot bald von dem Theater Wind, um dann den Song
einzuspielen, den es noch nicht gibt. "School Wars", wahrscheinlich schon bald
auf der nächsten CD.
02.05.2002
Statt Saufen, Sex und Drogen: Satan gibt
den letzten Kick
Eine 17-jährige Gmundnerin will sich von
einer Brücke stürzen, wird im letzten Moment gerettet. Sie hat an schwarzen
Messen teilgenommen, seither verfolgt sie die Vision Satans in Gestalt eines
geflügelten Hundes. Da sieht sie nur noch einen Ausweg: Selbstmord.
Jux oder todernst? So lautete die Frage auf der Satanismus-Enquete im
Ursulinenhof Linz, veranstaltet von der Diözese Linz zusammen mit dem
Jugendreferat des Landes. Der Gmundner Fall zeigt: Mit Jux hat Satanismus oft
nichts mehr zu tun. Alois Lißl, Leiter der kriminalpolizeilichen Abteilung,
bilanzierte: Pro Jahr setzen Satansjünger in Oberösterreich rund zehn
strafrechtlich relevante Taten, beschädigen Kirchen und Friedhöfe, quälen
Tiere. Tendenz steigend. Zuletzt wurden im Bezirk Eferding Gräber geschändet
und Kreuze umgeworfen. Zwei jugendliche Satanisten quälten ein Huhn zu Tode,
erstickten es in einem Plastiksack, zersägten einen Hasen bei lebendigem Leib.
Der Termin der Enquete (Dienstagabend) war mit Bedacht gewählt: "Heute ist der
Vorabend zur Walpurgisnacht", sagte Franz Kogler von der Diözese Linz. Nach
altem Aberglauben fliegen in dieser Nacht die Hexen auf den Brocken im Harz,
huldigen dort Satan.
Die verquere Welt der Satanisten - Einblicke gab in Linz der evangelische
Theologe Rüdiger Hauth, Beauftragter für Weltanschauungsfragen Westfalen und
Autor des Bestsellers "Hexen, Gurus, Seelenfänger ". Er kennt zwei Formen des
Satanismus: Zum einen die öffentliche Szene der Jugendlichen, die ihre Ideen
aus entsprechender Lektüre zusammenbasteln. Schon Siebenjährige werden durch
Computerspiele und Internet dafür prädestiniert.
"Meist sind es 16- bis 18-Jährige, denen Saufen, Sex und Drogen nicht mehr
aufregend genug sind, die einen neuen Kick brauchen", so Hauth. Aus Protest
gegen die bürgerliche Gesellschaft proben sie die "Umwertung aller Werte".
Ihre Symbole, getragen als Anhänger, Ohrclips, gesprayt auf Häuserfassaden:
das gedrehte Kreuz, das auf der Spitze stehende Pentagramm und die Zahl 666,
die in der Offenbarung des Johannes Satan symbolisiert. Sie treffen sich an
frischen Gräbern, scharren Särge aus, tauchen die Finger in die aufgeworfene
Erde, um "Kraft" zu gewinnen. Black-Metal-Music bringt sie in Stimmung.
Weit gefährlicher, so Hauth, ist aber die "geschlossene Satanistenszene", die
sich in "Logen" organisiert. Ihr gehören Studienräte an, Polizeibeamte,
Unternehmer, Studenten. Für sie ist Satan der verehrungswürdige Gegenspieler
Gottes, ihr Grundsatz lautet: "Tue, was du willst!", ihre "Power" beziehen sie
in schwarzen Messen aus sexualmagischen Praktiken und Tieropfern. Und manchmal
auch aus Menschenopfern - bekanntestes Beispiel ist Charles Manson, dessen "Satanistenloge"
1969 in Kalifornien den Ritualmord an Sharon Tate, der Frau des Regisseurs
Roman Polanski, beging.
02.05.2002
Glücklicher Zufall bewahrte Kinder vor dem
Tod
37-Jährige vor Gericht / Föhn wirkte nur wegen Defekt nicht tödlich / Therapie
angeordnet
RÜTHEN / ARNSBERG. "Irgendjemand hat die Hand über diese Familie gehalten",
sagte der Vorsitzende Richter Willi Erdmann angesichts der Ausführungen eines
technischen Sachverständigen vor dem Arnsberger Landgericht. Der Fachmann
hatte erklärt, warum zwei kleine Mädchen in Rüthen "nur ein leichtes Kribbeln"
verspürten, obwohl ihre Mutter einen Haarföhn in die Badewanne mit ihren
Töchtern geworfen hatte. Für diese Tat im vergangenen August musste sich die
37-jährige Arzthelferin gestern vor großen Strafkammer des Arnsberger
Landgerichtes verantworten.
Der Vorwurf der Anklage: Versuchter Totschlag. Das Urteil: 15 Monate Haft
Bewährung. Allerdings wird die Rüthenerin statt im Gefängnis weiterhin in den
Westfälischen Kliniken in Warstein untergebracht. Vor dem Saal prangte gestern
ein Schild "Nicht-öffentliche Sitzung". Denn schon vor der Verhandlung war
klar, dass es hier nicht um eine Schwerverbrecherin geht, sondern um eine
psychisch kranke Frau, die vom Gericht in einer therapeutischen Einrichtung
untergebracht wird. Weniger Zeugen und Vorwürfe der Staatsanwaltschaft
dominierten die Verhandlung als vielmehr Gutachten und die Lebensgeschichte
der Angeklagten, die in der Kurzschluss-Tat am 25. August gipfelte.
Dass dabei nichts passierte, ist einer nicht sauber angeschlossenen oder
korrodierten Verbindung an der Erdleitung der Stahl-Badewanne zu verdanken, so
das Gutachten. Dieser Defekt habe den Mädchen das Leben gerettet. Denn hätte
die Erdleitung funktioniert, so wären die Kinder durch einen Stromschlag erst
bewegungsunfähig geworden und dann wahrscheinlich ertrunken, da das Badezimmer
zwar vorschriftsmäßig, aber sehr hoch abgesichert gewesen sei. Also wäre
vermutlich die Sicherung nicht heraus gesprungen. Wirklich nur ein glücklicher
Zufall, resümierte auch das Gericht.
Kein Zufall, sondern eine Leidensgeschichte wie aus dem Lehrbuch offenbarte
sich dem Gericht beim Lebensweg der Angeklagten. Alkoholprobleme beim Vater,
Selbstmordversuch der Mutter, jahrelanger sexueller Missbrauch durch einen
Nachbarn und der Selbstmord des Bruders, der die Vaterrolle übernommen hatte,
so die Eckdaten der Kindheit der 37-jährigen Arzthelferin, die mit der Tat
ihre Hilflosigkeit zum Ausdruck brachte. Es sei nicht die Tötungsabsicht
gewesen, die die Rüthenerin getrieben habe, vielmehr wollte sich die von
Angsttraumata Geplagte selbst das Leben nehmen. Und ihre Kinder sollten nicht
allein in dieser Welt zurück bleiben.
"Hilfe wichtiger als Strafe"
"Dieser Fall zeigt, dass es richtig ist, bei sexuellem Missbrauch hart
zuzulangen", sagte Willi Erdmann. Denn die Angeklagte, über die die Kammer
gestern zu urteilen hatte, ist für ihn selber auch Opfer. Jahrelang
verdrängtes Leid sei durch die Geburt der eigenen Kinder wieder hochgekommen
und habe die Rüthenerin in eine Situation gebracht, in der sie nicht mehr
Herrin ihrer Sinne gewesen sei.
Und so fiel dann auch gestern Nachmittag der Urteilsspruch aus: Mit 15 Monaten
Bewährungsstrafe und der Unterbringung in einer Therapieeinrichtung zeigte das
Gericht, dass "Hilfe in diesem Fall wichtiger als Strafe ist". Erstmals
bestehe die Möglichkeit, dass der Arzthelferin professionell geholfen werden,
ihre traumatischen Kindheitserinnerungen zu verarbeiten. Ein Psychologe
bescheinigte der Angeklagten, dass sie sich auf dem Weg der Besserung befinde.
Positiv auch, dass Mann und Freundeskreis zu der Rüthenerin stehen.
02.05.2002
Bei Mausklick Selbstmord
Die israelische Armee hat auf ein
Internetspiel hingewiesen, das per Mausklick virtuelle Selbstmordattentäter
auslöst. Das berichtete gestern Maariv. Zu Beginn des Spiels "Kaboom"
erscheint ein Porträt von Palästinenserpräsident Jassir Arafat. Die
Internetseite wurde nach Angaben einer Kontaktadresse von einem 24-jährigen
US-Bürger erstellt. Auf seiner Homepage werden auch andere Spiele angeboten,
unter anderem eines zum Verprügeln von Extremistenchef Ussama Bin Laden.
02.05.02
Links zum Thema Selbstmord
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