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Illigs 24 Anachronismen der Aachener Pfalzkapelle

Da im deutschsprachigen Usenet und in einschlägigen Websieten zur sogenannten Phantomzeitthese des Dr. Heribert Illig häufig die Entstehung der Aachener Pfalzkapelle in der Zeit um 800 in Frage gestellt wird, erlaube ich mir, hiermit einen bereits in der Newsgroup de.sci.geschichte gesendeteten Beitrag zu wiederholen (Rechtschreibung und Satz angepasst):


Von: Matthias Müller-Götz
Betrifft: Re: "Erfundene" 300 Jahre Geschichte
Newsgroups: de.sci.geschichte
Datum: 2001-01-17 18:22:02 PST

Da es mir momentan zu großer Aufwand ist, im Hinblick auf die Illigschen "Anachronismen" ein tiefes Studium der Illigschen Schriften, all seiner Quellen und der derzeit verfügbaren einschlägigen Literatur zu absolvieren -es würde vermutlich mehrere Wochen brauchen und doch zum gleichen, lediglich detaillierter formulierte Ergebnis kommen, welches sich hier bereits abzeichnet-, handele ich Illigs "Anachronismen" hier auf wenigen Seiten und mit innerhalb weniger Tage zusammengesuchter Literatur etwas grob ab, glaube aber, mich deutlich und ausreichend detailliert zu äussern:

1. Die Zentrale Kuppel

Illigs Hauptaussage: Die Kuppel sei Anachronistisch, weil sie vorraussetzungslos sei.

Tatsächlich sind grössere Wölbweiten in verschiedenster Weise (echte Kuppeln, Klostergewölbe, Kreuzgratgewölbe, Tonnen) schon zur Römerzeit bekannt. Der Mangel an zeitlich von Aachen wenig entfernten grossen Kuppelbauten lässt sich mit dem damit verbundenen finanziellen Aufwand erklären, nicht mit mangelndem technischen Wissen. Dieses liess uznd lässt sich an den gebauten Vorgängern (z.B. aus Byzanz und auch aus Römerzeit) studieren.
Kein Anachronismus.

2. Wabenförmige Kreuzgratgewölbe

Illig meint, ein kompliziertes Gewölbe, gar ein "Wabenförmiges", sei zu Karlszeit nicht möglich, da es keine Vorgänger hat.

Tatsächlich gibt es in Aachen gar kein "Wabenförmiges Kreuzgratgewölbe". Es gibt eine "wabenförmige" Projektion der Kreuzgrate in den Grundriss. Tatsächlich handet es sich aber um einfache Tonnen, die in Achteckform miteinander verschnitten sind und die in ihrer Mitte jeweils rechtwinklig gekreuzt werden. Die Grate sind alle gerade ausgebildet! Baumeister denken nicht allein in Grundrissen, sondern räumlich. Bei der bekannten Verwendung von Tonnen kann dieses Gewölbe weder vom Entwurf noch von der Bautechnik als besonders kompliziert angesehen werden. Die Gewölbe sind auch nicht überhöht, wie in der Romanik ab Speyer üblich.
Kein Anachronismus.

3. Schräge Stützgewölbe

Illig sucht Parallelen zur Stützkonstruktion in späteren Bauten.

Tatsächlich sind die schrägen Gewölbe (an sich nicht ungewöhnlich) kaum am Abtrag des Kuppelschubs beteiligt. Denn den nehmen wegen ihrer statischen Höhe die radialen Mauern auf. Diese wirken statisch als Scheiben. Die gotischen Strebebögen, mit denen sie Illig unpassenderweise vergleicht, wirken dementgegen als Stäbe.
Kein Anachronismus.

4. Spiralig steigende Tonnengeölbe

Illig stellt fest, das diese erst nach 1000 aufkommen. Daher seien sie in Aachen zu früh.

Als "spiralig steigende Tonnengeölbe" wird offensichtlich ein Tonnengewölbe über einer Wendeltreppe verstanden. Das Gewölbe bildet selbt die Stufen des darüberliegenden Treppenlaufs. Wenn man davon absieht, das solche Gewölbe auch schon zur Ottonenzeit vor 1000 und vor Aachens Bauzeit (um 800) z.B. zur Römerzeit verwendet wurden (also durchaus auch den Karolingern bekannt waren) ergibt sich eine solche Bauform logisch: Bei Wendeltreppen bilden die aus einem Stein gehauenen Stufen gleichzeitig die Deckensteine des darunterliegenden Treppenlaufs. Sind keine entsprechend weiten Steine zu haben, muss stattdessen ein Bogen ausgebildet werden. In der Reihung bilden diese Einzelbögen eine "spiralig" steigende Tonne. (Übrigens.: eigtl. muss man von Wendel statt von Spirale reden. Wendeln schrauben sich in gleichbleibenden Radius kontinuierlich aufwärts; Spiralen sind bei kontinuierlich wachsendem Radius flach.)
Auch hier: Kein Anachronismus.

5. Schildbögen

Illig weist darauf hin, dass Schildbögen im 12. Jahrhundert verwendet werden.

Auch im Byzantinischen Bereich wurden spätestens ab Justinian solche Bögen verwendet (z.B. Hagia Sophia und Hagia Eirene, Konstantinopel, Hagia Sophia, Thesaloniki etc). Das Illig im 10. und 11. Jahrhundert in Mitteleuropa keine Schildbögen kennt, heisst nicht, dass sie im 8. Jh. anachronistisch wären.
Also: Kein Anachronismus.

6. Strebepfeiler und Vorlagen

Illig vergleicht die Aachener Streben mit denen der Romanik.

In seinem Vergleich weist er selber darauf hin, dass die ottonischen und romanischen Strebepfeiler (unabängig vom statischen Nutzen) zur Dekoration eingesetzt und mir Rundbögen, Lisenen etc. kombiniert wurden. Caen sieht er als rechtmäßigen Zeitpunkt für die Verwendung solcher Bauteile. Doch schon in Caen sehen wir, dass diese Pfeiler einen oberen Abschluss haben, in Bögen übergehen. Die Aachener Pfeiler enden blind in einem antikisierenden Kapitell(!), sind also mit den romanischen Streben nicht vergleichbar, sondern reine Stützen. Diese jedoch sind als bautechnische Möglichkeit (sogar Notwendigkeit) schon bekannt, seitdem man Mauern baut.
Kein Anachronismus.

7. Das Strebesystem

Illig stellt fest, das in Aachen zum ersten Mal auf deutschem Boden die statische Ableitung nicht allein über Massen, sondern über ein Strebesystem erfolgt. Er vergleicht Aachen mit Bauten aus dem 11./12.Jh.

Derartige Strebe- und Abfabgsysteme mögen zwar nach Illig auf deutschem Boden neu gewesen sein, bei den Römern und im Byzantinischen Raum waren sie geläufig. Da die Aachener Erbauer bei anderen Bauteilen auch ausserhalb deutschen Bodens fündig geworden sind (z.B. bei antikisierenden Kapitellen wie unter 6., Schildbögen wie unter 5., Entwurfsvorlage aus Ravenna und Byzanz),
gibt es hier auch keinen Anachronismus.

8. Vertikalität

Illig erkennt ein Streben in die Höhe und stellt daher Bezüge zu Speyer her.

Dass Illig die Relation von Kuppelhöhe zu Oktogondurchmesser für Aachen mit 5,1 angibt, die Höhe aber 30m, die Weite etwa 15m, die Relation also bei etwa 2:1 liegt, zeugt nur von schlampiger Rechnung oder mangelhaftem Verständnis beim Abschreiben. Es ist für die weitere Argumentation aber unerheblich, da er denselben Rechenfehler/Verständnisfehler bei Ottmarsheim auch macht. Otmarsheim kommt auch etwa auf 2:1, es liegt tatsächlich geringfügig unter dem Verhältnis von Aachen. Ausserdem hat Illig auch falsch und verfälschend bei Kubach zitiert: Kubach setzt Aachen zwar als Nachfolger von San Vitale, Ravenna an, formuliert aber: "In jedem Fall zeigt Aachen eine entschiedene Umsetzung: der steile,schachtartige Raum statt des fast behäbigen, die knappe flächige Form der Oktogonwände statt der weichen Ausmuldung; die klare axiale Ausrichtung." Kubach bezieht hier "schachtartig" nicht auf das Höhenstreben, sondern auf die raumdefinierende Wandbehandlung. Aachen ist übrigens durch ein horizontales Gesims zwischen Erdgeschoss und Obergeschoss deutlich horizontal gegliedert, eine Quergliederung, die z.B. San Vitale in Ravenna nicht aufweist, deren Bögen etwa dreimal so hoch wie weit sind (3:1). Die "Vertikalität" des Langhauses von Speyer mit dem strengen Rythmus der vertikalen Raumeinteilung (Höhe eines Bogens zur Breite etwa 4:1) ist mit dem Aachener Zentralbau ohnehin nicht zu vergleichen.
Trotz eindrucksvoller Zahlenspiele gibt es hier keinen Anachronismus.

9. Wandgliederung

Illig vergleicht den Wandaufbau des Aachener Oktogons mit karolingischen Langbauten.

Die Frage, ob man in in Basilikalbauten einen anderen Raumeindruck als in Zentralbauten angestrebt hätte, ist überflüssig. Zentralbauten haben grundsätzlich einen anderen Raumeindruck, als Langbauten, das ist ihr Zweck. Da die Wand in einem Oktogon achtfach geknickt ist, wird sie natürlich anders behandelt als eine gerade Wand. Letztere ist eine gerade Fläche und wird folgerichtig auch flächig gebaut. Die Oktogonwand ist keine gerade Fläche, sondern wird schon durch die Knicke gegliedert. Dementsprechen sind dieses Einzelseiten auch als solche einzeln behandelt.
In einem Langhaus ist die Seitenwand ein liegendes Rechteck (das freilich wie in Speyer in eine gerade Reihe stehende Rechtecke geteilt werden kann), in einem Zentralbau ist die Umfassungswand eine Summe einzelner Rechtecke, die winklig zueinander stehen.
Im übrigen wird auch in Aachen die Wand flächig behandelt wie bei anderen karolingischen Bauten (dies besonders deutlich: Fensterzone des inneren Oktogons, Umgangmauern, Aussenwände). Doch gab es in Aachen die Möglichkeit der Öffnung zu Galerie, die ohnehin grundlegender Bestandteil des Aachener Entwurfs ist. Auch hier orientiert sich Aachen an den Vorgaben San Vitale und Hagios Sergios und Bakchos. Beide Kirchen sind älter als Aachen und als Vorbild sicher anzunehmen.
Auch hier also kein Anachronismus.

10. Die Auflösung der Wände

Illig vergleicht die Wandbehandlung (Betonung tragender Bauteile und Zurücknahme nichttragender Bauteile) mit romanischen Bauten, v.a. Speyer und weist auf die Gotik hin. Er gibt zu, dass es dergleichen an byzantinischen Bauten (genannt: San Vitale, Ravenna) gibt. Er beschränkt den Anachronismus daher auf das nichtbyzantinische Abendland.

Da die byzantninschen Bauten bekannt und geographisch vom Erfahrungsbereich der Karolinger nicht allzuweit entfernt waren, zieht die Einschränkung auf das "nichtbyzantinische Abendland" nicht, Illig kann diese beiden Regionen (zumal sie sich gelegentlich überlappten) nicht hermetisch voneinander trennen. Es gab Vorlagen zur Wandbehandlung in Byzanz, Ravenna usw. Sie waren bekannt, das gibt auch Illig zu.
Also hier wieder kein Anachrionismus.

11. Das gebundene Massystem

Illig versucht, Bezüge zum gebundenen System herzustellen und wirft wieder recht eindrucksvoll mit Zahlen um sich.

Das "Gebundene System" ist ein Massystem, bei dem sich die Hauptschiffs- und Chorgewölbemasse aus der Vierungsweite, die Seitenschiffsweite aus dem halben Vierungsmass herleiten. Es gilt daher nur für rechtwinklige Langbauten.
Aachen ist ein Oktogon.
Hier kann das "Gebundene System" definitionsgemäss nicht vorliegen.
Kein Anachronismus.

Der Ansatzpunkt, den Illig hier noch hat, sind Massberechnungen. Die Masse der Kapelle in Fuss umzurechen, und damit Zahlensymbolik zu betreiben, ist Esoterik und unseriös (zumal viel mit ungenauen Massen und Rundungsfehlern geschummelt werden kann). Das weist Illig allein schon darin nach, dass er verschieden Maßeinheiten und verschieden Maße bei den zitierten Autoren findet. Illig nennt zwar die Maße, zeigt aber kein übergeordnetes System, weist schon gar nicht ein "gebundenes System" nach. Hier gibt es lediglich den Nachweis, dass Zahlenspiele (auch anderer neuzeitlicher Autoren) zweckfrei sind. Theoretische Zahlenspielereien betreffen den Bestand der Kapelle nicht.
Auch hier gibt es keinen Anachronismus.

12. Zwischen Bruchstein und Quader

Illig findet in Aachen eine Mischung aus Bruchstein und sauber behauenen ("gut geschnittene") Quadern. Er spricht den Handwerkern vor 1050 die Fähigkeit, letztere zu hauen ab. Daher postuliert er einen Anachronismus.

Tatsächlich wurden schon immer saubere Flächen gehauen, seit dem Steine behauen werden. Es gibt kein Aussterben von Steinmetzhandwerkstradition beim Flächenbehauen. Steinhauer waren immer, auch im 6.; 7.; 8.; 9. und 10. Jh in der Lage, gerade, glatte Flächen und saubere Kanten zu hauen. Im Vergleich mit wenig steinmetzmässig bearbeitetem Bruchsteinmauerwerk sind für diese Arbeit aber der Aufwand und damit die Kosten deutlich höher. Solche (teuren) Quader verwendete man daher vorzugsweise an stärker beanspruchten Bauteilen (Säulen, Pfeiler, Kanten, Stürze etc.) Füllmauerwerk wird einfach mit billigem Bruchstein errichtet. So ist man auch in Aachen verfahren.
Das ist auch kein Anachronismus.

13. Kreuzpfeiler

Illig hält "Kreuzpfeiler" vor 1010 für anachronistisch.

Bei Pfeilern handelt es sich per Definition auf derartig verkürzte Mauerstücke einer Mauerflucht, dass sie als vertikale Bauglieder zum Einsatz kommen. Solche Mauerfluchten lassen sich oberhalb dieser Pfeiler in der aufgehenden Mauer oder im aufliegenden Bogen ablesen. Pfiler werden zu "Kreuzpfeilern", wenn sich zwei oder mehr solcher Mauerfluchten treffen und dort als ineinandergestellte Pfeiler wirken. Es handelt sich bei diesem Bauglied nicht um einen Anachronismus. Denn es ist kein (schon gar nicht typisch stilbildendes) Gestaltungselement, sondern ergibt sich aus der Lage der Mauern. Zu derartigen Lösungen kommt es immer wieder: vor 800 z.B. in San Vitale, Ravenna (frühes 6.Jh), wo sich im Oktogon die Bogenmauern und die Radialmauern treffen; nach Aachen und vor 1010 z.B. im Westwerk von Corvey (873-885), wo sich die Mauerfluchten/Arkaden in den Ecken rechtwinklig treffen.
Wären die Kreuzpfeiler in Aachen Gestaltungselemente und nicht aus der Mauerflucht ableitbar, könnte man sicherlich stilistische Bezüge zur Romanik oder gar zur Gotik herstellen. Aber die Aachener Kreuzpfeiler folgen der Mauerflucht und sind daher kein Gestaltungselement und damit auch
kein Anachronismus.

14. bis 16 Drei Aachener Spezifika
14. Fenster mit abgeschrägter Laibung

Illig zitiert Quellen von 1913 und 1916, die behaupten, Aachen wäre das erste Beispiel für abgeschrägte Fensterleibungen, Illig lässt diese daher erst ab 1000 zu.

Es gibt derlei (vor 1000, und z.T vor 800) auch in:

Selbst die Hagia Sophia besitzt im Kuppelsockel abgeschrägte Fensterleibungen, die für Aachen als Vorbild in Frage kommen. Selbst wenn solche Fenster später ein Charakteristikum für die Romanik werden, heisst das nicht, dass solche Fensterformen nicht auch zu anderen Zeiten vorkommen, was wie oben beschrieben ja auch der Fall ist.
Auch kein Anachronismus

15. glatt abgeschnittene Kämpfer

Illig geht wiederum von seinen Quellen her davon aus, dass abgeschlagene Kämpfer auf die Frühromanik verweisen.

Sie sind aber auch Zitate der Aachen vorausgehenden Römischen und Byzantinischen Architektur. Beispiele gibt es zahlreiche. Für die römischen Bauten z.B. diverse Basiliken (Trier, Rom: Maxentiusbasilka, usw.), Thermen, etc. Für die byzantinischen Bauten z.B. San Vitale in Ravenna (schon wieder!). Nicht nur in der Romanik und späteren Zeiten werden die Kämpfer abgeschnitten, auch zur Ottonischen Zeit z.B. auf der Reichenau (Oberzell und Mittelzell), abgeschnittene Kämpfer gibts auch in Hildesheim St.Michael. Es gibt diese Form also durchgängig seit dem es Bögen gibt.
Also in Aachen kein Anachronismus

16. offene Portalbögen über waagrechtem Sturz

Die Aachener gelten laut Illigs Quelle (Faymonville, 1916) bis ins 11. Jh als Vorbild.

Dass sie als Vorbild gelten, heisst ja nicht, dass sie selbst vorbildlos oder gar anachronistisch seien. Geschlossene Entlastungsbögen über Stürzen waren bei den Römern üblich, offene auch nicht abwegig und kamen bei Byzantinischen Bauten häufig vor. Vorgänger und mögliche Vorbilder für Aachen:

Wann der südliche Eingang an San Vitale angefügt wurde, der über einen offenen Portalbogen verfügt, vermag ich z.Z. nicht zu sagen.
Sicher ist, dass Aachen hierbei auch nicht anachronistisch ist.

Illig hält diese bisherigen 16 Punkte für aussagekräftige Argumente (was sie aber offensichtlich nicht sind), um Aachen im 8.Jh als anachronistisch einzuordnen. Daher verlegt er die Kapelle in das späte 11. Jh. (wo sie nicht hinpasst).

Obwohl er seine bidherigen 16 Punkte für ausreichend hielt, führte er noch folgende "Anachronismen" ins Feld:

17. Eiserne Ringanker

er hält die Verwendung von Zuggliedern für anachronistisch, obwohl es derlei schon zu byzantinischer Zeit gab.

18. Glockenklang

unabhängig davon, dass der Bau nicht zwangsläufig Glocken besessen haben muss, gibt selbst Illig zu, dass es unklar ist, ab wann Glocken im Abendland bekannt wurden. Die Verwendung von Glocken in Aachen lässt sich also zur Zeit weder beweisen noch ausschliessen. Es ist ohnehin unwichtig für die Datierung des Gebäudes.

19. Glockentürme

Türme müssen nicht zwangsläufig Glockentürme gewesen sein. Dennoch ist diese Nutzung nicht auszuschliessen, siehe Punkt 18.

20. Westwerk

Illig setzt die Entwicklung der karolingischen Westwerke derer der ottonischen Westbauten gleich. Die Möglichkeit, dass sich die Ottonen auf die Karolinger beziehen, hält er für abwegig. In den 70 bis 90 Jahren, die zwischen den spätkarolingischen und den Ottonischen Bauten "klaffen", sieht er ein Absterben und ein neues Erstehen. Warum keine kurze Pause in einer durchgängigen Tradition?

21. Das Oktogon und seine Nachfolger

Illig zeigt die Traditionslinie gleichartiger Bauten nach Aachner Vorbild, er wertet alle Nachfolgerbauten als technisch und/oder gestalterisch weniger hochstehend und verlegt Aachen daher ans Ende der Entwicklung. Es ist unklar, wieso diese Wertung zulässig sein sollte. Zudem beginnt die Traditionslinie nicht erst in Aachen, sondern hat schon in den Byzantinischen Bauten aus der Zeit Justinians ihren Anfang.

22. Doppelkapellen

Illig legt hier ebenfalls eine Traditionslinie dar, wonach die Gruppe der hochromanischen Doppelkapellen (diese ab 1090) sich auf Aachen berufen sollen. Sicherlich mag Aachen vom Konzept her als Vorbild gewertet werden können, doch sind all diese Doppelkapellen in deutlich von Aachen unterschiedenen Formen errichtet. Die Gemeinsamkeit liegt lediglich in der Doppelstöckigkeit und der zentralen Öffnung zwischen beiden Geschossen.

23. Säulengitter

Illig erkennt hier den Vorbildcharakter byzantinischer Bauten an, stört sich aber an dem Zeitraum zwischen dem (seiner Meinung nach schlechter ausgeführten) Bau der Hagia Sophia und dem Baudatum von Aachen und dem anschliessenden Zeitraum bis zur "Kopie" Aachens im Essener Münster. Wenn man bedenkt, dass der Aachener Bauherr sich bewusst in die Tradition der römischen Kaiser stellen will und sich die Säulen extra importieren lässt, ist es auch nicht abwegig, hier eine Renaissance zu vermuten. Es würde auch niemand 1500 Jahre Geschichte hinterfragen, nur weil sich die Gräber von Petra (Jordanien) und die Kirchenbauten des italienischen Barocks so ähnlich sind und die Hadriansvilla mit ihren konvex-konkaven Formen Gestaltungsprinzipien von Borromini und Guarini ähnelt.

24. Bronzearbeiten

Der erste Bronzeguss nach den Aachener Türflügeln um 800 waren die Mainzer Türen des Willigis von etwa 1000. Daher sieht Illig Aachens Türen auch als anachronistisch an. Der Guss solcher Türen war zu beiden Zeiten mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden und bedurfte jedesmal eines kaiserlichen Auftraggebers (Willigs war Reichsverweser und Vormund Ottos III. und stand zur Zeit des Gusses dem Reich vor). Zwischen diesen beiden Türen bestand keine Notwendigkeit für einen solchen Guss, und es gab auch keine vergleichbar grossartige Bauaufgabe. Illig wundert sich darüber, dass es in Aachen "aus dem Stand heraus zu Perfektion" im Bronzeguss kam. Wie würde Illig das für den Mainzer Guss erklären? Die von Illig angedeutete Aehnlichkeit zwischen den beiden Türen, die er wohl zeitlich in grössere Nähe rücken möchte, erklärt sich erstens aus gleichen römischen Vorbildern, und zweitens in der von Willigis auch ausdrücklich erwähnten Vorbildfunktion von Aachen für Mainz. Dennoch unterschieden sich die Türen in einem wichtigen Detail: der Aufhängung. Würden beide Türen innerhalb kurzer Zeit entstanden sein, würden die Mainzer Türen über das gleiche Detail wie die Aachener verfügen, nämlich über Zapfen, mit denen die Türen im Boden und im Türsturz verankert sind. Dieser Unterschied weist auf eine deutliche Unterscheidung, auch auf eine zeitliche Entfernung hin. Die Aachener Türen sind im 8./9.Jh also doch gut aufgehoben.
Hier gibt es auch keine Anachronismen.

Unter dem Punkt "Weitere Anachronismen" reisst Illig noch andere Themen an, die er unter dem Gesichtspunkt eines möglichen Anachronismus betrachten könnte. Da wären

Als letzter Punkt unter Illigs Anachronismen:

Das Nichtvorhandensein von Gräbern ist für die Baudatierung unerheblich.


Eine Umdatierung der Aachener Kapelle ins späte 11.Jh., wie sie Illig aufgrund seiner Anachronismen vornimmt, ist nun nicht mehr sinnvoll, da seine "Anachronismen" eben keine solchen sind. Des Weiteren gibt es keine Quellen, die auf einen Bau um 1060 in Aachen schliessen lassen. Und als letzter Grund sei auf die Bauformen selbst verwiesen, die um 1060 anachronistisch wirken würden: Man könnte sich den Aachener Bau eventuell nach 1060 vorstellen, wenn die Stützpfeiler der Kuppel in einem Bogenfries enden würden, wenn die Aussenwände vertikal gegliedert wären, wenn Halbsäulen die Pfeiler unterstützen würden, etc. Doch der Aachener Bau wirkt karolingisch und passt schlüssig in die Zeit der Karolinger.


MMG
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Matthias Müller-Götz