Die GERAC-Migräne-Akupunkturstudie -
Wertlos durch vorzeitige Entblindung?
Akupunktur &
Traditionelle Chinesische Medizin (ISSN 1614-6891), AKU 33. Jahrgang, 4 (Dezember
2005),
S. 178-82
Dieter Wettig
In dieser Zeitschrift wurde
bereits kritisch über die Methodik der GERAC-Gonarthrosestudie berichtet (31).
Nun wurde Ende September auf dem Neurologien-Kongress in Wiesbaden das Ergebnis
der GERAC-Migränestudie vorgestellt. Auch diese große und sehr teure
Doppel-Blindstudie zur Wirksamkeit der Akupunktur bei Migräne wurde aber
handwerklich offenbar nicht sauber durchgeführt und verstieß durch
Vorabveröffentlichungen mehrfach gegen die Regeln des „Good Clinical
Practice", welches strikte Geheimhaltung des Studiendesigns gegenüber den
zu verbündenden Personen (hier insbesondere gegenüber den Patienten) fordert:
• Vor dem Studienende war
der Entwurf des Masterplans V9.0BK der Kopfschmerz- und Migränestudie in einer
nicht finalen Fassung für jeden - auch für die zu verbündenden Migräne- oder
Kopfschmerzpatienten und zu verbündenden Telefoninterviewer - von der
Gerac-Seite www.gerac.de frei abrufbar. Er nennt sich dort „Leitfaden der
Studie herunterladen -Word Format 411 kb" (1a). Die Gerac-Seite lud
Patienten geradezu dazu ein, sich diese entblindenden Informationen per kostenlosem
Download zu besorgen.
Dort (1a) wurde unter Punkt
9 erklärt, was Kontroll-Akupunkturpunkte sind („Die Scheinakupunktur wird für
jede Indikation einzeln festgelegt. Hier erfolgen Nadelungen an Nicht-Akupunkturpunkten
(Sham-Akupunktur) (Nachfolgend „Studiendesign 1" genannt). Auch die
Abteilung für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie der
Ruhr-Universität Bochum hatte auf ihrer Website vor Studienende einen
ungeschützten, frei zugänglichen Link (1b) angebracht, der direkt zum
Kopfschmerz-Studienplan V4.2 in einer nicht finalen Fassung führte. Dort gibt
Kapitel 4 Auskunft, dass in der Sham-Gruppe
Nicht-Akupunkturpunkte zum Einsatz kommen. GERAC-Migränepatienten konnten das
durchaus auch auf sich beziehen.
Was gestochen wurde, sehen
Patienten ja oft auch zuhause noch auf der Haut - und ob tief oder
oberflächlich gestochen wurde, sieht jeder i. d. R. durch bloßes Hinschauen
während der Behandlung. Genaue Abbildungen der Lage echter Akupunkturpunkte zum
Vergleichen findet man kostenlos im Internet (2). Dadurch wurden Probanden in
die Lage versetzt herauszufinden, ob sie an Akupunkturpunkten oder
Nicht-Akupunkturpunkten gestochen worden waren, woraus sich dann ihre
Gruppenzugehörigkeit (Verum- oder Sham-Akupunkturgruppe) ergab (=Entblindung).
Die Tatsache, ob man an Akupunkturpunkten oder Nicht-Akupunkturpunkten,
oberflächlich oder tief gestochen wurde, durfte den Probanden aber auf keinen
Fall Rückschlüsse auf ihre tatsächliche Gruppenzugehörigkeit erlauben! In der
Kontrollgruppe hätte man theoretisch auch „richtige", aber nicht
indizierte Akupunkturpunkte (mögliches Studiendesign 2), Scheinakupunktur (3)
(auch an „richtigen und indizierten" Punkten [mögliches Studiendesign 3])
nehmen können oder auch an Nicht-Akupunkturpunkten tief stechen können
(mögliches Studiendesign 4). Das gewählte Studiendesign war geheim zu halten,
was aber nicht geschah.
Entblindend waren aber auch
bereits die Informationen, die im Deutschen Ärzteblatt (DA) bereits im Juni
2002 auch und gerade dem Laienpublikum ohne besondere Zugangseinschränkung im
Internet frei zugänglich gemacht wurden und die potenziell entblindend wirkten:
„... In der Sham-Akupunktur werden Nadeln oberflächlich an definierten
Nicht-Akupunkturpunkten gesetzt..." (Trampisch et al., 4). Das DA hatte
schon damals eine riesige Auflage von etwa 370.000 Exemplaren pro Woche, die
Online-Ausgabe hatte etwa 2.080.000 Pageimpressions pro Monat. Die Öffentlichkeit
konnte auch hierdurch wieder erfahren, dass „Studiendesign 1 für die GERAC-Migränestudie
gewählt wurde und die Designs 2, 3 oder 4 für diese Studie nicht in Frage
kamen. Das ist gerade so, als hätte man bei einer großen Medikamentenprüfung
der Öffentlichkeit vorher mitgeteilt, dass die Plazebotabletten im Gegensatz zu
Verumtabletten nur klein und flach sind !
• Das halte ich für einen
schwerwiegenden systematischen Fehler, den man auch nicht durch Nachbefragen (sog.
Entblindungsfrage) heilen kann, denn niemand weiß, ob entblindete Patienten
beim Nachfragen wirklich noch unbeeinflusst antworten! Den Telefoninterviewern
wurde laut (5) anscheinend keine Entblindungsfrage gestellt. Deveraux et al. (2002)
(6) schreiben: „When unblinded, participants may introduce bias through use of
other effective interventions, differential re-porting of Symptoms, psychological
or biological effects of receiving a placebo (although re-cent studies show
conflicting evidence), or dropping out. ..." Und genau das könnte bei der GERAC-Migränestudie
stattgefunden haben: Patienten wären durch mögliche vorzeitige Entblindung in
ihren Ansichten und Wertungen zur Therapie beeinflusst worden oder könnten
frustriert über die (Sham-) Plazebobehandlung weitere Behandlungen hinzu genommen haben (KG, Autogenes Training, Jacobson,
NSAR, Fango, Massage, Gymnastik oder andere Arztbehandlungen), ohne jemandem
etwas zu verraten. Das könnte aber den Behandlungserfolg in der Plazebogruppe
verstärkt haben. Diese Patienten hätten m. E. wenig Interesse, die
Entblindungsfrage wahrheitsgemäß zu beantworten, sondern würden bei der Antwort
eher mogeln. Das wäre auch eine Erklärung für den von vielen Akupunkteuren vermissten
bedeutsamen Unterschied in der Wirksamkeit zwischen den beiden
Akupunkturgruppen.
• Deshalb scheint mir mit
dieser Migränestudie hauptsächlich der Unterschied zwischen ärztlicher
Zuwendung (Verum- oder Plazebo-Akupunktur) und nichtärztlicher Zuwendung
(Analgetika/NSAR) geprüft worden zu sein.
• Alle Praxen, bei denen
zumindest ein Proband von Entblindung betroffen sein könnte, sollten deshalb in
toto aus der Auswertung herausgenommen werden, denn es scheint mir
grundsätzlich nicht möglich, einzelne randomisierte Patienten aus einer Studie
auszuschließen. Möglich ist es jedoch (bei entsprechendem Design), alle
Patienten eines Prüfzentrums (z. B. aufgrund Entblindung) komplett
auszuschließen. Falls die Randomisierung zentrumsweise durchgeführt wurde, sind
damit dann keine Verzerrungen zu erwarten.
Auf einem Symposium in
Bochum am Mittwoch, dem 16. November 2005, Bergmannsheil Kliniken, sollen nun -
nach Redaktions-Schluss des vorliegenden Artikels die Ergebnisse dieser
Migränestudie erneut präsentiert werden, (siehe dazu auch http://www.ger-ac.de/).
Vermutlich wird dort die Kritik an der Methodik der GERAC-Akupunkturstudien
(Entblindung!) mit denselben Argumenten zurückgewiesen, die Herr Dr. Endres in
der Zeitschrift „Der Schmerz" (4, 2005, S. 331 f.) als Replik auf die GERAC-Methodenkritik
bzgl. der Gonarthrose-Studie äußerte. So war er dort u. a. der Meinung, dass es
u. a. deswegen richtig sei, Prüfpläne klinischer Studien frühzeitig zu
veröffentlichen, damit sich interessierte Patienten über Design und Ziele einer
Studie informieren können, um dann zu entscheiden, ob sie sich um eine
Studienteilnahme bewerben möchten. Außerdem seien im Prüfplan Instrumente
festgelegt worden, um die Entblindung der Patienten zu prüfen. Bei Verletzung
der im Prüfplan festgelegten Vorgaben, z. B. bzgl. Begleittherapien oder auch
Entblindung, würden diese Patienten in ihrer Therapiegruppe als
Therapieversager gewertet („Intention to treat" Prinzip).
Diese Replik von Herrn Dr.
Endres ist jedoch in weiten Teilen völlig unzutreffend: So schreibt er auch,
dass eine wissenschaftliche Diskussion des Designs vor Vorliegen der Ergebnisse
stattfinden kann, wenn das Design (frühzeitig) veröffentlicht wird. Das ist
manchmal prinzipiell richtig, hier aber wurde auf vielfältige Weise auch die
Öffentlichkeit mit dem Design bekannt gemacht. Das war obsolet und schädlich,
führte zur Aufgabe der Verblindung. Er meint, Identifikationsschablonen ließen
sich aus dem Internet nicht herstellen. Das genaue Gegenteil ist der Fall, denn
die Stichtechnik aller Verumpunkte (tief) wurde genauso genannt (4) wie die der
Minimalakupunktur (oberflächlich an Nicht-Akupunktur-Punkten). Patienten
konnten so leicht herausfinden, in welche Gruppe sie gehörten. Ein Bias (bzgl.
Entblindung) kann aber nur dann durch die Anwendung des „Intention to
treat" Prinzips vermieden werden, wenn bei der Auswertung bekannt ist, wer
denn entblindet wurde. Diesen Probanden kann man dann als Therapieversager
werten und ausschließen. Bei der Auswertung dieser und der anderen gerac-Studien
konnte aber nicht sicher bekannt sein, wer denn entblindet wurde, weil man das
auch mit der Entblindungsfrage nicht sicher herausbekommen kann. Diese
funktioniert nur, wenn man weiß, dass die Probanden wahrheitsgemäß antworten
oder raten und keinerlei tatsächliche Kenntnisse von ihrer Gruppenzugehörigkeit
hatten. „Success of blinding is a fundamental issue in many clinical trials. The
validity of a trial may be questioned if this important assumption is
violated."... Eine Entblindungsfrage, so fern Probanden und Auswertern
gestellt, kann wohl nicht mehr sinnvoll ausgewertet werden, wenn vor Studienende
der Prüfplan öffentlich wurde: „A fundamental assumption for this method
("As-sessment of blinding in clinical tri-als") to be valid is that
participants who answer DK ("Don't know") are truly uncertain about
their treatment assignment, not just gi-ving a socially acceptable answer. This assumption cannot be veri-fied in the absence of any supporting
information from people who answer DK" (7). Verschiedene Arbeiten setzen sich mit der Problematik
von Blindstudien auseinander, bei denen Probanden ihre zutreffende
Gruppenzugehörigkeit etwas besser als rein zufällig bestimmten. Meist waren
Medikamente im Einsatz, deren Wirkung offenbar in Einzelfällen eher
„gespürt" werden konnte als beim Plazebo: z. B. Appetithemmer oder orale,
nasale oder transkutane Nikotinersatztherapie. Die Arbeiten versuchen dann
statistische Methoden anzuwenden, um diesen Effekt des überzufällig guten Ratens
zu korrigieren (8, 9).
Wichtig ist aber, dass eben
keinerlei vorzeitige Veröffentlichungen des Designs in Print- oder Onlineme-dien
erfolgten: Es ging nur um die statistische Korrektur des überzufällig guten
Ratens, nicht um das durch die Studienleitung den Probanden mitgeteilte WISSEN
über die korrekte Gruppenzugehörigkeit! Derart wissentlich entblinde-te
Probanden, die trotzdem weiter an der Studie teilnahmen, werden auf die
Entblindungsfrage nicht unbedingt wahrheitsgemäß geantwortet haben. Jegliche
statistische Methoden können also eine tatsächlich öffentlich entblindete
Studie nie mehr „heilen". Diese bedeutsame, große und sehr teure
Blindstudie scheint mir durch massive, weitgestreute und vorzeitige
Veröffentlichungen entblindet worden zu sein. Das betrifft übrigens auch die
GERAC-Gonarthrosestudie (19, 21-31) und Teile der ART-Studie (32-36). Geldgeber
waren im Falle der GERAC-Migränestudie die meisten Primärkassen (AOK-BV,
BKK-BV, IKK-BV, Seekasse, Knappschaft u. a.). Alle Kassen haben ein großes
Interesse daran, einen Deckel auf die bisher unbudgetierten Akupunkturausgaben
zu machen, diese in den EBM zu integrieren und sie dessen Spar- und
Budgetdiktat zu unterwerfen. Eine Studie, die zu folgendem Ergebnis kommt, käme
sicher nicht ungelegen: Dieses Resultat dieser und der anderen GERAC-Studien
ist mittlerweile bekannt und auch in Publikumszeitungen nachzulesen: Akupunktur
wirkt gut, Plazebo-akupunktur wirkt mehr oder weniger genauso gut. Stechen,
egal wohin! „... Ärzte können sich die teuren Akupunkturkurse sparen. Sie
können die Nadeln einfach irgendwohin stechen", kommentierte Prof. Dr.
Diener das Ergebnis ..." (10-18).
Warum also sollte eine
Krankenkasse zukünftig eine Akupunkturleistung im EBM nicht wesentlich
niedriger bewerten als bisher, wenn Akupunktur angeblich doch jede Ärztin,
jeder Arzt aus dem Stand heraus kann, ohne jede Zusatzausbildung? Bei der in
Kürze zu erwartenden GBA-Entscheidung für die Aufnahme der Akupunktur in den
deutschen EBM2000plus und der nachfolgenden Punktebewertung dieser neuen
Leistung durch den Bewertungsausschuss werden solche Ergebnisse wohl dazu
führen, dass die Punktzahl sehr niedrig angesetzt wird mit dem Argument, dass
es mehr oder weniger egal ist, wohin und wie man sticht, dies also auch keiner
besonderen Kenntnisse bedürfe, mithin billig von jeder Ärztin, jedem Arzt
durchgeführt werden könnte. Ich erwarte nun leider eine Punktzahleinstufung für
die GKV-Patienten wie bei der Punktion (EBM 02340) mit 125 Punkten (6 Euro bei
einem Punktwert von 4,8 Cent) oder wie bei einer Infusion (02100,155 Punkte,
7,44 Euro) oder wie bei einer kleinen OP (02300, 155 Punkte, 7,44 Euro). Der
seriösen Akupunktur würde dadurch gerade durch diese GERAC-„Blind"-Studien
enormer Schaden entstehen können. Die Kassen würden dann aber viel Geld sparen.
https://www.angelfire.com/sc/naturheilverfahren/cgi-bin/KOPFLIT.htm
Anschrift des Verfassers:
Dr. med. Dieter Wettig
Facharzt für
Allgemeinmedizin
Erlkönigweg 8
D-65199 Wiesbaden-Dotzheim