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Alles in allem verwundert mich die Forderung der Diplom-Psychologin

Die Diplom-Psychologin Ursula Neumann wirft in ihrer Zuschrift „Wird Psychotherapie zu einem Luxusartikel?" (FR/ FRA vom 26. 3. 1994) die Frage auf, ob Psychotherapie (PT) zu einem Luxusartikel wird, weil der Gesetzgeber eine 25 prozentige Selbstbeteiligung (SB) für PT vorsieht.

Sie übersieht dabei aber anscheinend, daß bei der ambulanten Therapie körperlicher Beschwerden oder der ambulanten medikamentösen Therapie seelischer Beschwerden schon lange eine SB gilt. Wer heute zum Arzt geht und wegen Schlafstörungen ein Rezept für Schlaftabletten bekommt, z. B. 10 Tabletten Oxazepam zu 10 mg, zahlt dafür in der Apotheke DM 2,01, also 100% SB, da das Medikament auch nur DM 2,01 kostet. 20 Tabletten dieses Medikaments kosten DM 3,83, die SB beträgt DM 3,-, also 78 Prozent.

Bekommt ein Patient wegen Depressionen 20 Tabletten Saroten retard 50 mg verschrieben, beträgt die SB DM 3,12 bei einem Packungspreis von DM 14,50, also 22 Prozent.

SB gibt es auch für physikalische Therapie, also für Krankengymnastik, Massagen, Fango, Bäder, Reizstrom, Ultraschall oder Wärmetheraphie. Egal, ob diese für seelische oder körperliche Beschwerden verschrieben wurden. Wird jemand stationär behandelt, wird auch eine SB erhoben (DM 11,- pro Tag). Und daß beim Zahnarzt, Kieferorthopädie oder beim Optiker auch zuweilen eine Selbstbeteiligung fälligwird, dürfte allen bekannt sein. Die Forderung der Psychologen nach Gleichstellung mit den Medizinern führt also logischerweise zur Einführung der SB in der Psychotherapie und nicht zu deren Verhinderung.

An und für sich nichts Neues, denn auch bisher mußten schon viele Patienten SB an ihre(n) Psychologin abführen. Denn viele Psychologen haben bisher im sogenannten Kostenerstattungsverfahren gearbeitet, weil es noch keine umfassenden gesetzlichen Regelungen gab, die jetzt erst das Psychotherapeutengesetz einführen will. Die Psychologen haben ihren Patienten Rechnungen geschrieben, zu denen die Krankenkassen zuweilen auf dem Kulanzweg einen Zuschuß gewährten. Meist betrug dieser DM 90,- bis 100,- pro Sitzung, die Psychologen stellten in der Regel DM 120,- bis 150,- pro Sitzung in Rechnung.

Schon bisher betrug die SB für eine Behandlung bei einem Psychologen also bis zu 40 Prozent. Zahlte die Kasse gar nichts, betrug die SB 100 Prozent.

Viele Psychologen, die ich kenne, haben bisher auch SB bei Kindern, Jugendlichen und sozial Schwachen genommen, obwohl sie dazu nicht gehalten waren. Wenn diese Psychologen jetzt ihre soziale Ader entdecken, muß ich sie als Pharisäer bezeichnen.

Das geplante Psychotherapeutengesetz schreibt zum Glück Befreiung von der SB für Kinder, Jugendliche und sozial Schwache vor und schiebt dem Zugriff der Psychologen hier einen Riegel vor.

Alles in allem verwundert mich die Forderung von Frau Neumann, denn sie lügt sich selbst und der Öffentlichkeit etwas vor. Kaum sollen die Psychologen an die vermeintlichen Fleischtöpfe der gesetzlichen Krankenversicherung zugelassen werden, stimmen sie ein Wehklagen an, wie ich es seit Jahren von allerlei Ärzte-verbänden kenne, die um ihre Pfründe fürchten.

Ob allerdings 25 Prozent SB, wie im Gesetzentwurf vorgesehen, nicht zuviel sind, ist eine andere Frage. Ich halte eine SB von sieben Mark, wie bei Medikamenten-Groß-Packungen eher für angemessen.

Dieter Wettig

Praktischer Arzt

Mainz

Frankfurter Rundschau, 9. April 1994