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KARL MARX, SEIN VATER UND PEGASUS





Niels Höpfner

Karl Marx, sein Vater und Pegasus

 

Es ist kaum bekannt, daß einer der größten Veränderer der neueren Geschichte, Karl Marx, als Lyriker begonnen hat. Orthodoxe Marxisten übergingen und übergehen in ihren Abhandlungen meistens dieses Faktum schamhaft mit ein paar Zeilen, und auch Germanisten haben, soweit ersichtlich, die Jugenddichtungen von Karl Marx nie gründlich untersucht. So steht für den Literaturwissenschaftler Peter Demetz in seinem Buch "Marx, Engels und die Dichter" ohne eine ausführliche Begründung von vornherein fest, daß Marx ein "Dichterling" war, so urteilt Franz Mehring kurz und bündig: "Im allgemeinen atmen seine jugendlichen Gedichte eine triviale Romantik, durch die selten ein echter Ton klingt. Dabei ist die Technik des Verses so unbeholfen und ungelenk, wie sie eigentlich nicht mehr sein durfte, nachdem Heine und Platen gesungen hatten." Mehring spricht in diesem Zusammenhang von "seltsamen Irrwegen". Ob es "Irrwege" waren und gar "seltsame", die der junge Marx ging, darf wohl bezweifelt werden, denn entwicklungspsychologisch lassen sie sich durchaus erklären. Die Notwendigkeit einer solchen Erklärung als Beitrag zum Verständnis der Persönlichkeit von Karl Marx hat 1966 Günther Hillmann, der Herausgeber der Jugendschriften bei Rowohlt, folgendermaßen formuliert: "...es handelt sich doch um Marx' eigene Vorstellungen und Gedanken, in dem Sinne, daß sie die Zustände und Tendenzen seiner Persönlichkeit ausdrücken: die entfesselten und gefesselten Triebe, die Verdrängungen und offenen Zielsetzungen, die unbewußten wie bewußten Prinzipien, die sein Leben und Denken regulieren, die darüber bestimmen, was er an Informationen aus der Umwelt aufnimmt und wie er es verarbeitet."

 

Hatte Günther Hillmann sich in seiner im selben Jahr erschienenen Untersuchung "Marx und Hegel von der Spekulation zur Dialektik" noch auf die Analyse des geistesgeschichtlichen Hintergrunds der Dichtungen von Karl Marx beschränkt, so läßt sich die Erweiterung des Blickwinkels höchstwahrscheinlich –ein direkter Verweis wird nicht gegeben- zurückführen auf das 1965 erschienene Buch "Karl Marx – eine Psychographie" von dem Schweizer Arnold Künzli. Die Arbeiten beider Autoren eignen sich als Hilfsmittel zum Verständnis der Marxschen Lyrik, wobei germanistische Aspekte ausgeklammert bleiben sollen.

 

Bereits in jungen Jahren muß Karl Marx ein sehr phantasiebegabtes Kind gewesen sein. Die Tochter Eleanor berichtet, ihre Tanten seien vom Bruder Karl ziemlich drangsaliert worden, hätten es sich aber gefallen lassen, "denn Karl erzählte ihnen zur Belohnung so wundervolle Geschichten." Als Marx später das Trierer Gymnasium besuchte, existierte an der Schule in den Jahren 1832 bis 1834 ein "Junges deutsches literarisches Kränzchen", das gewiß seine poetischen Neigungen noch beflügelte. An der Bonner Universität, einer Hochburg der Romantik seinerzeit, wurde stud.jur. Marx sogar Mitglied eines "Poetenbundes".

 

Die Ergebnisse dieser literarischen Aktivitäten sind das Dramenfragment "Oulanem", ein Romantorso mit dem Titel "Skorpion und Felix" und zahlreiche Gedichte. 1836 stellte der inzwischen in Berlin studierende Karl Marx für seine in Trier zurückgebliebene Braut Jenny von Westphalen als Weihnachtsgeschenk drei Gedichtsammlungen zusammen: das "Buch der Liebe. Erster Teil", das "Buch der Liebe. Zweiter Teil" und das "Buch der Lieder". Diese drei Sammlungen enthalten den Großteil der Gedichte von Karl Marx; hinzukommen noch Gedichte in der Abschrift seiner Schwester Sophie, die mit diesen zwei weitere Sammlungen füllte.

 

Die frühesten Gedichte stammen aus dem Jahre 1833, die letzten entstanden höchstwahrscheinlich 1837, da war der 1818 geborene Karl Marx noch nicht einmal zwanzig Jahre alt und hatte bereits eine literarische Vergangenheit. Zwar war die Existenz der drei Jenny von Westphalen gewidmeten Sammlungen seit 1897 bekannt, aber bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts galten sie, da ungedruckt, als verschollen, und es darf vermutet werden, daß sie absichtlich unterdrückt wurden, bis die Herausgeber einer jüngeren Marx-Engels-Gesamtausgabe sich doch für eine Publikation entschieden. 1970 edierte in Ostberlin Bernd Jentzsch eine Separatausgabe.

 

Zu Marx' Lebzeiten wurden nur zwei seiner Gedichte gedruckt: 1841, als der Autor längst die Poesie aufgegeben hatte, erschienen im "Athenäum", der "Zeitschrift für das gebildete Deutschland", einem Berliner Organ der Junghegelianer, unter dem Obertitel "Wilde Lieder" die Ballade "Der Spielmann" und die Romanze "Nachtliebe". Es handelt sich hierbei um die erste Veröffentlichung von Karl Marx überhaupt.

 

Man ist jung und will wild sein, aber die familären Verhältnisse lassen's kaum zu. Der Vater Heinrich Marx, ein Advokat, ein Herr Justizrat, sitzt auf patriarchalischem Thron und baut seine ganze Hoffnung auf den Sohn Karl, dem nach dem Tod des Bruders Moritz David die Rolle des Ältesten zugefallen ist, die ältere Schwester Sophie zählt als Frau in der Rangfolge nicht. Ein politischer Duckmäuser ist dieser Vater, ist ängstlich-opportunistisch, ist ein preußischer Patriot und Monarchist. Die Mutter, Henriette Marx, wird in allen Zeugnissen als eine brave, ungeistige Frau geschildert, "die ganz in der Sorge um Haushalt und Familie aufging, einen starken Hang zum Moralisieren und zum Jammern bewies, überängstlich und dementsprechend wohl weitgehend freud- und humorlos war und jedenfalls nicht das Zeug zu einer Lebenskünstlerin besaß" (Künzli).

 

In intellektueller Hinsicht lagen Welten zwischen dem Ehepaar: Die Mutter führte in jedem Brief einen verlorenen Krieg gegen die Orthographie (wofür allerdings auch ihre niederländische Herkunft verantwortlich sein könnte), der Vater liest Kant und Leibniz, ohne jedoch zu eigener geistiger Freiheit zu gelangen. Zwischen diesen Polen spielt sich Karl Marxens Erziehung ab, für die autoritärer Zwang, zärtliche Fürsorge und bewunderndes Gewährenlassen bezeichnend sind. Man könnte in Karl Marx nach den Begriffen moderner Entwicklungspsychologie ein overprotected child (überbeschütztes Kind) sehen.

 

Nicht sehr ausgeprägt scheint die Mutterbindung von Karl Marx gewesen zu sein. Seine Verlobung, bereits ein Jahr nach dem Abitur, bestärkt diese Vermutung. War die Mutter ihm anfangs eine "Engelsmutter", nennt er sie später, als von ihr finanzielle Zuwendungen karg ausfallen, rüde "die Alte".

 

Marxens Bindung an den Vater ist in seiner Jugend dafür wesentlich enger. Um seine Liebe wirbt er mit großer Inbrunst. So schickt er zum 55. Geburtstag aus Berlin ein Heft mit Gedichten (Abschriften, übrigens, aus den Sammlungen für Jenny), das diese Widmung trägt: "Gedichte, meinem theuren Vater zu seinem Geburtstage 1837, als schwaches Zeichen ewiger Liebe". Fast will es scheinen, als habe Karl Marx zwei Brautschaften gehabt: die eine mit Jenny von Westphalen, die andere mit dem Vater. Aber mit dem heißt es sich ja auch gutstellen, denn schließlich soll er die Steigbügel halten beim Hinaufklettern auf Pegasus, das Dichterroß, das längst gesattelt wartet.

 

Später erweist es sich als ziemlich bockiges Tier. Arnold Künzli, der seine Marx-Psychographie aus einem beachtlichen Haß-Potential entwickelt hat, subsumiert die Marxsche Lyrik mit den Worten: "Wenn dieser junge Marx gefühlvoll werden wollte, wurde er banal und kitschig. Wenn er aber 'Der Seele Geheimnis/ Empor aus der Seele/ Dämonischem Abgrund' ans Tageslicht seiner Verse heben wollte, brodelte aus diesem dämonischen Abgrund ein formloser archaischer Glutbrei von undifferenzierten Affekten, Empfindungen, Stimmungen und Trieben aller Art empor, die alle auf der 'dunklen' Seite unserer Psyche zwischen den Extremen der Selbstvernichtung und der Selbstvergottung beheimatet sind."

 

Ein Dichter versucht, Pegasus zu zähmen. Ölbild des Wiesbadener Malers Wilhelm Lehr (1892-1977)

Ganz so streng muß man es dann doch wohl nicht sehen. Es ist anzunehmen, daß ein begabtes Kind eine stürmischere Pubertät durchlebt als ein Durchschnittsgör, und die Gedichte von Karl Marx sind Produkte seiner Pubertät. Die dramatischen Affekte einmal beiseitegelassen und einen Generalpardon für literarische Jugendsünden vorausgesetzt, erlauben die Gedichte durchaus Einblicke in die Marxsche Persönlichkeit. Arnold Künzli macht darauf aufmerksam, daß in den Gedichten von Marx sehr häufig Fluten wogen, Wellen brausen, Wasser toben. Das ist nicht bloß ein literarischer Topos der Romantik, und so bemüht Künzli C.G. Jung, der in seiner Abhandlung "Bewußtes und Unbewußtes" den Satz geschrieben hat: "Das Wasser ist das geläufigste Symbol für das Unbewußte."

 

Obwohl C.G. Jung selbst eine Definition des Begriffes 'Symbol' gibt ("Symbol (ist)... ein bestmöglicher Ausdruck für einen erst geahnten, aber noch unerkannten unbewußten Inhalt."), mißversteht Künzli den Psychologen gründlich, wenn er die Wasser-Bilder "als Angst vor der Auseinandersetzung mit dem Unbewußten" deutet, an der Marx angeblich "durch einen himmelstürmenden herrischen Intellekt" gehindert wurde. Aber nicht das Unbewußte selbst ist Inhalt des Unbewußten, es geht doch vielmehr um ein im Unbewußten Verborgenes, um unbewußte Ängste, Wünsche.

 

Durch etliche Gedichte von Marx, so scheint es, geistert das Bild des Vaters, und nicht gerade ein sehr freundliches. Konflikte wurden ja nie offen ausgetragen, dazu war der Vater viel zu dominierend und auch viel zu sehr geliebt. Nun schwelen sie latent weiter in den Gedichten, die für den jungen Marx anscheinend eine Ventilfunktion hatten. Was erwarten denn Söhne vom Vater? Daß er sie ernstnimmt, anerkennt, liebt: aber um diese Liebe zu erlangen, müssen große Taten vermeintlich vorausgehen. In der Romanze "Der Greis" phantasiert Marx sowohl diese Taten wie auch die ersehnte, uneingeschränkte Vaterliebe:

 

                   V.

Der Greis, der sitzt am Meere

In Mitternacht,

Sein Blick, der still und hehre

Wie Sonne lacht.

 

Er schaut wohl vom Gestade

In die Fluthen hin,

Ob auf kühlem Wasserpfade

Nicht Schiffe ziehn.

 

Die spielend geschäftigen Wogen

Die tragen sein Glück,

Der Sohn war zum Kampfe gezogen,

Wann kehrt er zurück?

 

Er hatte ihn selber geheißen

Zu kämpfen für Recht,

Die Ketten kühn zu zerreissen,

Die geworfen ein Knecht.

 

                   VI.

Da hört man's von ferne schallen

Wie Siegesgeschrei:

"Die Knechte sind gefallen,

Das Land ist frei."

 

Und es laufen zum sicheren Strande

Die Schiffe vom Meer,

Und der Sohn tritt prangend zum Lande,

Begeistert und hehr.

 

Geschmückt mit Lorbeerzweigen,

Mit Wunden und Blut,

Geht er zum Vater mit Schweigen,

In Jugendgluth.

 

Der preßt ihn heiß und lange

In unendlichem Glück,

Dann läßt er im Geistesdrange

Den Körper zurück.

 

Ist das Ziel, bewundert zu werden, erreicht, hat der Mohr seine Schuldigkeit getan, kann gehn. In der Ballade "Der Wassergreis" scheint sich noch unverhohlener der Wunsch des Sohnes zu artikulieren, den so sehr geliebten und also so sehr gehaßten Vater möge der Tod ereilen:

 

      Der Wassergreis

              Ballade

 

                    1.)

Wasser rauscht so seltsam dort,

Kreist sich in Wellen fort,

Glaubt wohl! es fühle nicht,

Wie sich die Woge bricht,

Kalt sei's im Herzen, kalt in dem Sinn,

Rausche nur, rausche nur hin.

 

                   2.)

Doch in den Wellen, im Abgrund heiß,

Sitzt gar ein alternder Greis,

Tanzt auf, tanzt ab, wenn der Mond sich zeigt,

Wenn Sternlein aus Wolken steigt,

Springt gar seltsam und ringt gar sehr,

Will trinken das Bächlein leer.

 

                  3.)

Wellen sind ja die Mörder sein,

Zehren und nagen des Alten Gebein,

Grinzt ihm eisig durch Mark und Glied,

Wenn er die Wogen so springen sieht,

Schneid't gar ein bängliches Wehgesicht,

Bis Sonnenglanz Mondtanz verbricht.

 

                  4.)

Wasser rauscht dann so seltsam dort,

Kreist sich in Wellen fort,

Glaubt' wohl, es fühle nicht,

Wie sich die Woge bricht,

Kalt sei's im Herzen, kalt in dem Sinn,

Rausche nur, rausche nur hin.

 

Da Väter nun aber von zäher Unsterblichkeit sind, kommt der Sohn auch schon einmal auf autodestruktive Fluchtgedanken:

 

                 Wunsch

 

Könnt' ich die Seele sterbend tauchen

In der Vernichtung Ocean,

Mit einem Hauch das Herz verhauchen,

Verhauchen seinen Schmerz und Wahn!

 

Je intensiver die Beziehung von Karl Marx zu Jenny von Westphalen wird, desto häufiger erscheinen in seinen Gedichten Bilder von Flammen, Feuer, Sonne. In dem Romantorso "Skorpion und Felix" findet sich, bezeichnenderweise, der Satz: "Ich staunte vor mir selbst, denn ich war groß geworden durch meine Liebe, riesenhaft, ich sah ein unendliches Meer, aber keine Fluthen brausten mehr in ihm, es hatte Tiefen und Ewigkeit gewonnen, seine Fläche war Chrystall und an seinen dunklen Abgrund waren bebende, gold'ne Sterne angefetet, die sangen Liebeslieder, die strahlten Gluth von sich und das Meer selbst war warm!"

 

Marx gewinnt Selbstbestätigung, Selbstbewußtsein durch seine Braut, die wie eine gute Fee in sein Leben getreten ist. Nun wird Marxens Konflikt mit dem Vater nicht schlagartig durch die Liebe zu Jenny beendet, sondern allenfalls kompensiert, geht parallel dazu weiter, außer zu Wasser auch auf lyrischen Schauplätzen zu Lande und in der Luft. Sehr seltsam-eigenartig ist das Gedicht "Männerl und Trommerl", das weniger in einem Dialekt geschrieben zu sein scheint als in einer Sprache, die zum Infantilen regrediert:

 

Männerl und Trommerl

 

Ei Trommerl is kei Männerl

und es Männerl is kei Trumm.

Die Trommerl is gar klug

und das Männerl is gar dumm.

 

Die Trommerl is gebunden

und 's Männerl is gestellt;

Und die Trommerl bleibt sitzen,

wenn's Männerl auch fällt.

 

Und's wüthend Männerl, das schlägt sie

und 's klein Trommerl, das klingt.

Und 's lustig Trommerl, das klappert

und es Männerl, das springt.

 

Und 's Männerl schneid't Gesichter

und 's Trommerl lacht es aus.

Da ruft's gar entsetzlich,

das Männerl durch das Haus:

 

"Ha! Trommerl, He! Trommerl,

was lachst de, was klapperst so hohl,

Du treibst mir de Narrn

Und schneidst mer Fratzen wohl!"

 

"Verwünschtes Trommerl, das grinzt de,

das treibst de mer zur Schand',

Was klapperst, wenn i schlag'

Und was hängst de, wo i band!"

 

"Hab ich drum dich aus dem Holzstamm

zu 'ner Trommerl rauf gebracht,

Daß de's treibst so für dich,

als hättst's dich schön selber gemacht!"

 

"Sollst tanze, wenn i schlag'

und schlage, wenn i sing',

Sollst weine, wenn i lach'

Und lache, wenn i spring'!"

 

Das Männerl, das grinzt

auf de Trommerl in der Wuth,

Und donnernd zerschlägt er's

Und de Trommerl springt Blut.

 

Und's Trommerl hat kei Männerl

und es Männerl hat kei Trumm,

Und's Männerl geht in's Kloster

und es Männerl wird frumm.

 

Ein Subjekt träumt sich als Objekt, findet verdinglicht einen Peiniger, durch den es überhaupt entstanden ist und dann auch noch aus einem 'Holzstamm', der Quälgeist zerstört das Ding, als es autonom werden will, und bleibt zur Strafe mit einer gehörigen Portion Schuld zurück. Das waren Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat...

 

Einstweilen bietet sich nur "Des Verzweifelnden Gebet" als Trost an, eine romantisch-heroische Prometheus-Gebärde zwar, aber auch ein erneutes Kräftemessen mit dem Vater- wer, wenn nicht dieser, ist denn der 'Gott' in der Kindheit, in der Jugend:

 

Des Verzweifelnden Gebet

 

"Hat ein Gott mir alles hingerissen,

Fortgewälzt in Schicksalsfluch und Joch,

Seine Welten –alles – alles missen!

Eines blieb, die Rache blieb mir doch."

 

"An mir selber will ich stolz mich rächen,

An dem Wesen, das da oben thront,

Meine Kraft sei Flickwerk nur von Schwächen,

Und mein Gutes selbst sei unbelohnt!"

 

"Einen Thron will ich mir auferbauen,

Kalt und riesig soll sein Gipfel sein,

Bollwerk sei ihm übermenschlich Grauen,

Und sein Marschall sei die düst're Pein!"

 

"Wer hinaufschaut mit gesundem Auge,

Kehre todtenbleich und stumm zurück,

Angepackt vom blinden Todteshauche,

Grabe selbst die Grube sich sein Glück."

 

"Und des Höchsten Blitze sollen prallen

Von dem hohen, eisernen Gebäu,

Bricht er meine Mauern, meine Hallen,

Trotzend baut die Ewigkeit sie neu."

 

Nur verbal findet der Göttersturz statt: vor der Verwirklichung im Ewigkeits-Traum, in der Kunst steht als übermächtiges Hindernis auch weiterhin der Vater. Mit zahlreichen Briefen hält er den auswärts studierenden Sohn am Zügel. In ihnen kommen aber auch zum Ausdruck "die eigenen Wünsche des Vaters: Der Sohn soll das tun, was der Vater sich versagen mußte bzw. nicht vermochte. Dieser Wunsch aber verbirgt zugleich das Gegenteil: Der Sohn darf nicht mächtiger, nicht vollkommener werden, als der Vater es werden konnte. ...der dem Sohn aufgezwungene Beruf soll garantieren, daß der Vater nicht übertroffen wird. Auf dem gleichen Terrain hat der Ältere mit seinen größeren Erfahrungen noch lange einen Vorsprung" (Hillmann).

 

Am 18. November 1835 schreibt Heinrich Marx dem Sohn, mit welcher väterlichen Hypothek dieser zu leben hat: "Ich wünsche in Dir das zu sehn, was vielleicht aus mir geworden wäre, wenn ich unter ebenso günstigen Auspizien die Welt erblickt hätte. Meine schönsten Hoffnungen kannst Du erfüllen und zerstören."

In einem Brief vom 3. Februar 1837 meldet sich der rigide Utilitarist im Vater zu Worte: "Philosophisches oder Juristisches oder beides zusammen scheint wohl vorzüglich, um den Grund zu legen. Gediegene Poesie kann wohl den zweiten Rang einnehmen, und sie schadet dem Rufe nie, es wäre denn in den Augen einiger Pedanten. Die leichten Plänkler sind die nützlichsten, und mit einigen guten Namen, wenn sie original sind und neuen Zuschnitt haben, kannst Du anständig und gesichert eine Professur abwarten etc., etc., etc." Wie sehr das Denken des Vaters, der von Literatur nicht das Geringste begriffen hat und also auch nie seinen Sohn, dem sie Lebens-Mittel war, sich aufs Pragmatische reduziert, zeigen diese Sätze aus einem Brief vom 16. September 1837, der einen äußerst massiven Erpressungsversuch darstellt: "Indem Du indessen auf die praktische Bahn zurückkommst, warum sprichst Du gar nicht von Kameralia? Ich weiß nicht, ob ich mich irre, aber es scheint mir, die Dichtkunst und Literatur finde eher Gönner in der Verwaltung als in der Justiz, und ein singender Regierungsrat scheint mir natürlicher als ein singender Richter."

 

Günther Hillmann resümiert: "Der Vater ist böse, da er das phantasievolle, selbstbestimmte Leben und Tun des Sohnes auf das ihm als real möglich Erscheinende einschränken will; aber er ist zugleich gut, wenn er überreichlich Geld gibt und damit Lebensmöglichkeiten gewährt, und wenn er die ungewöhnlichen Kräfte des 'Glückskindes'... bestaunt. Die Doppeldeutigkeit der Beziehungen zum Vater und damit zu sich selbst..., das eindringliche Gebot, seine väterlichen Hoffnungen 'zu erfüllen oder zu zerstören'- die Katalysatoren und Widersprüche treiben Marx in die große Krise seiner Jugend. ...Es soll mit diesem Versuch einer Analyse aber nicht Marx' Vater als Scheusal hingestellt werden. Wenn es so scheint, so liegt das an seiner Vaterrolle, die er gespielt hat wie Millionen Väter vor und nach ihm."

 

Der Konflikt zwischen Vater und Sohn erreicht seinen Höhepunkt mit Karl Marxens Bekenntnisbrief vom 10. November 1837, der das bedeutsame Dokument einer Unterwerfung darstellt. Aufgrund der Nörgeleien, Sticheleien seines Vaters resigniert Karl Marx, revidiert seinen Lebensplan und verzichtet auf eine Laufbahn als 'Dichter'. Kann sich ein Vater einen besseren Sohn wünschen, der sich so einsichtig, vernünftig, selbstkritisch, ja, geradezu abgeklärt zeigt: "Die ganze Breite eines Sehens, das keine Grenze  sieht, schlägt sich in mancherlei Form und macht aus dem 'Dichten' ein 'Breiten'. Nun durfte und sollte die Poesie nur Begleitung sein; ich mußte  Jurisprudenz studieren und fühlte vor allem den Drang, mit der Philosophie zu ringen... Und dennoch sind diese letzten Gedichte die einzigen, in denen mir plötzlich, wie durch einen Zauberschlag -ach! der Schlag war im Beginn zerschmetternd- das Reich der wahren Poesie wie ein ferner Feenpalast entgegenblitzte und alle meine Schöpfungen in nichts zerfielen. Ein Vorhang war gefallen, mein Allerheiligstes zerrissen, und es mußten neue Götter hineingesetzt werden."

 

Der Vater kann zufrieden sein. Zu seinem Glück ahnt er ja noch nicht, daß er bereits einen Nachfolger auf dem Vaterthron hat, "neue Götter", und das sind für Karl Marx: Hegel und sein Kreis. Gleichwohl, was anfangs auch so entschieden-markig klang, der Abschied von der Jugend, fiel gar nicht so leicht. Die verstörte Psyche wehrt sich, und krank wird der Körper, in dem sie haust: "Aus Verdruß über Jennys Krankheit und meine vergeblichen, untergegangenen Geistesarbeiten, aus zehrendem Ärger, eine mir verhaßte Ansicht zu meinem Idol machen zu müssen, wurde ich krank, wie ich schon früher Dir, teurer Vater, geschrieben. Wiederhergestellt, verbrannte ich alle Gedichte und Anlagen zu Novellen etc., in dem Wahne, ich könne ganz davon ablassen, wovon ich bis jetzt allerdings noch keine Gegenbeweise geliefert."

 

Zwar dröselt Marx dichtend weiter, aber innerlich ist der Bruch mit der schönen Literatur bereits vollzogen. Was nicht bewältigt ist, wird einfach hinuntergeschluckt: "H. v. Chamisso hat mir einen höchst unbedeutenden Zettel zugeschickt, worin er mir meldet, 'er bedaure, daß der Almanach meine Beiträge nicht brauchen könne, weil er schon lange gedruckt ist'. Ich verschluckte ihn aus Ärger." Jetzt kann Marx ohne Rollendiffusion zur Tagesordnung übergehen: "Was nun die Frage hinsichtlich der kamaralistischen Karriere betrifft, mein teurer Vater, so habe ich kürzlich die Bekanntschaft eines Assessors Schmidthänner gemacht, der mir geraten, nach dem dritten juristischen Examen als Justitiarus dazu überzugehen, was mir um so eher zusagen würde, als ich wirklich die Jurisprudenz aller Verwaltungswissenschaft vorziehe."

 

Der Satz, mit dem Karl Marx den Brief an seinen Vater beschließt, übertrifft bei weitem die Höflichkeitsfloskeln seiner Zeit. Diesen unehrlichen, schleimigen Überschwang entschuldigen jedoch wohl Schuldgefühle gegenüber dem Vater, der sie provozierte. Im Klartext aber heißt der folgende Satz nichts anderes als das berühmte Götz-von-Berlichingen-Zitat: "In der Hoffnung, daß nach und nach die Wolken sich verziehen, die um unsere Familie sich lagern, daß es mir selbst vergönnt sei, mit Euch zu leiden und zu weinen und vielleicht in Eurer Nähe den tiefen, innigen Anteil, die unermeßliche Liebe zu beweisen, die ich oft so schlecht nur auszudrücken vermag, in der Hoffnung, daß auch Du, teurer, ewig geliebter Vater, die vielfach hin und her geworfene Gestaltung meines Gemüts erwägend, verzeihst, wo oft das Herz geirrt zu haben scheint, während der kämpfende Geist es übertäubte, daß Du bald wieder völlig hergestellt werdest, so daß ich selbst Dich an mein Herz pressen und mich ganz aussprechen kann

Dein Dich ewig liebender Sohn Karl."

 

Selbst wenn er, untergründig, noch Widerstand leistet, hat Karl Marx sich doch dem Vater unterworfen. Die Gipfelbesteigung über die Steilwand ist gescheitert, das Über-Ich hat seine Kontrollfunktion erfüllt; später wird eine mühevolle, äußerst langwierige Gratwanderung zum Gipfel führen.

 

Wie lebt es sich nun weiter, nach der Zerstörung des Traums vom Dichterleben? Marx beschränkt sich auf die Rezeption von Belletristik, kehrt ihr aber nicht beleidigt-abrupt den Rücken. Seinen Kindern liest er Homer, Cervantes, Shakespeare, Balzac und Fielding vor. Die eigene literarische Produktion in der Vergangenheit wird unwesentlich, je größer der zeitliche Abstand. So schreibt Laura Lafargue, inzwischen verheiratete Tochter von Karl Marx, an Franz Mehring, als sie dem Nachlaßverwalter ihres Vaters dessen Gedichthefte übersendet: "Ich muß Ihnen sagen, daß mein Vater diese Verse sehr respektlos behandelt hat; allemal, wenn meine Eltern darauf zu sprechen kamen, lachten sie herzlich über diese Jugendthorheiten."

 

Das bleibt dann also übrig, von frühem Höhenflug. Der Rest ist bekannt. Dieses aber noch: Nie hat eine Ablösung Karl Marxens vom Vater stattgefunden. Dafür steht das Faktum, daß Marx jr. lebenslang Briefe und ein (verschollenes) Bildnis von Marx sen. bei sich trug. Der äußere Bruch mit dem Vater wurde verhindert durch dessen Tod im Mai 1838; für die innere AuseinanderSetzung mit dem Vater brachte Karl Marx bis an sein Lebensende nicht die Kraft auf, verdrängte die persönliche Trauerarbeit zeitlebens. Günther Hillmann schreibt hierzu: "Wenn das Verhalten von Marx in dieser Hinsicht als neurotisch zu bezeichnen ist, was wohl zutreffen dürfte, so spricht das nicht gegen ihn, der diese Neurose in eine der größten individuellen Leistungen der Geschichte transportierte."

 

So brach der Vatergeschädigte auf, die Welt –und gleich die ganze- vom Väterlich-Autoritären zu befreien. Der Treppenwitz der Geschichte wollte es, daß er hierbei selbst zum Über-Vater wurde, was aber durchaus als logische Konsequenz seiner jugendlichen Psychostruktur erscheint.

(Gedruckt in: "psychologie heute", Nr. 8/ 1980)

Endstation London

*



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