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Sieh mehr, lies mehr, schreib nichts  

 

Mit der Geschichte ãHapworth 16, 1924Ò meldete sich J.D. Salinger im Juni 1965 das letzte Mal zu Wort

 

Von REINHARD HELLING

 

Nur wenige Schriftsteller kšnnen es sich erlauben, jahrzehntelang kein Buch zu veršffentlichen, ohne dabei in Vergessenheit zu geraten. Im Falle des Amerikaners Jerome David Salinger bewirkte sein všlliger RŸckzug aus der Welt sogar das Gegenteil: Er wurde fŸr seine Fans immer interessanter.

 

 

Am 1. Januar 1953, anderthalb Jahre nach dem Erscheinen seines einzigen Romans, ãThe Catcher in the RyeÓ, am 16. Juli 1951, entfloh er dem Rummel um seine Person, indem er sich aus dem geschŠftigen New York, wo er 1919 geboren wurde, in die Einsamkeit einer WaldhŸtte in Cornish, New Hampshire, zurŸckzog.

 

Keine Fotos, keine Lesungen

 

Mit gerade mal 34 Jahren hatte er beschlossen, dem Literaturbetrieb als Person nicht lŠnger zur VerfŸgung zu stehen. Folglich gab es keine Interviews, keine Fotos, keine Lesungen. Vertreten durch die Agentur Harold Ober Associates Inc. in New York, gingen AnwŠlte sogar juristisch gegen jeden Eingriff in seine PrivatsphŠre vor und lie§en dem unerwŸnschten britischen Biographen Ian Hamilton 1987 das Zitieren aus Salingers Briefen verbieten.

 

 Gleichwohl versorgte dieser die Leser des Magazins ãThe New YorkerÓ, bei dem er 1948 mit ãA Perfect Day for BananafishÒ debŸtiert hatte, weiter mit Geschichten, zeugte mit seiner Frau Allison Claire Douglas die Kinder Margaret Ann (geboren 1955) und Matthew Robert (geboren 1960) und veršffentlichte - wieder bei Little, Brown and Company in Boston - drei weitere BŸcher: ãNine StoriesÒ (1953), ãFranny and ZooeyÒ (1961) und ãRaise High the Roof Beam, Carpenters; and Seymour: An IntroductionÒ (1963). Auf deutsch erschienen die ãNeun ErzŠhlungenÓ, ãFranny und ZooeyÒ und ãHebt den Dachbalken hoch, Zimmerleute, und Seymour wird vorgestelltÒ bei Kiepenheuer & Witsch.

 

Lang anhaltendes Schweigen

 

Des Dichters Verstummen vor vierzig Jahren kam also nicht ohne Vorwarnung, letztlich aber doch unerwartet: Als Salingers Hausblatt ãThe New YorkerÒ in seiner Ausgabe vom 19. Juni 1965 die Novelle ãHapworth 16, 1924Ò aus dem Zyklus Ÿber die Glass-Familie abdruckte, ahnte niemand, da§ dies bis heute seine letzte literarische Wortmeldung sein sollte. Seitdem hšren wir aus Cornish nur noch ein lang anhaltendes Schweigen des heute sechsundachtzigjŠhrigen Autors.

 

ãIch schreibe nur noch zu meinem eigenen VergnŸgenÒ, gestand Salinger 1974 in einem seiner raren Statements gegenŸber Lacey Fosburgh von der ãNew York TimesÓ und brachte seinen Kummer Ÿber den Raubdruck seiner frŸhen Geschichten zum Ausdruck. ãIch wollte, da§ sie eines perfekten natŸrlichen Todes sterben.Ò Im TelefongesprŠch mit der Reporterin betonte er, da§ im Nichtveršffentlichen ãein wunderbarer FriedeÒ liege. Wie ein Niesen in der Kirche stšrten in den vergangenen Jahren allein seine Ex-Geliebte Joyce Maynard und seine Tochter Margaret Ann mit ErinnungsbŸchern Ÿber ihre Zeit mit dem Eremiten diese Ruhe.

 

Gespreizte Gedanken

 

Die Titelseite des ãNew YorkerÓ schmŸckte an jenem Samstag im Juni 1965 eine romantische hellblau-rosafarbene Zeichnung des Kinderbuchillustrators William Steig. Inmitten hŸfthoher Blumen lehnt ein verliebtes Paar an einem Baum. Der innige Ku§, den sich die beiden geben, lŠ§t sie die Welt ringsum vergessen. Auch der Autor scheint zu diesem Zeitpunkt - er ist jetzt 46 Jahre alt und seit 25 Jahren im GeschŠft - kaum mehr an seine Leser gedacht zu haben. Bei ãHapworthÒ handelt es sich um einen einzigen langen, kaum enden wollenden, abschweifenden Brief von Seymour Glass, ergŠnzt allein um eine kurze Vorbemerkung seines zwei Jahre jŸngeren Bruders Buddy. Von der saloppen Sprache Holden Caulfields aus dem ãFŠnger im RoggenÒ, der so gern fluchte, sind Seymours gespreizte Gedanken weit weg.

 

 ãHapworthÒ fŸllt fast das gesamte Heft aus und erstreckt sich Ÿber fŸnfzig Seiten. Angesichts der Textmenge von 26.000 Wšrtern, die das Magazin hier seinen Lesern zumutet, bekommt die Widmung, die Salinger ãFranny und ZooeyÒ vorangestellt hatte, eine ganz neue Bedeutung. Darin nannte er William Shawn, der 35 Jahre lang, von 1952 bis 1987, Chefredakteur des Intelligenzblattes war, seinen ãLektor, Mentor und - (Gott stehe ihm bei!) - engsten FreundÒ und lobte ihn als einen Mann, ãder das Weitgesteckte liebt, die Unergiebigen beschŸtzt, die Wortreichen verteidigtÒ. Der Abdruck von ãHapworthÒ war sicher Shawns kŸhnste Tat.

 

Ein Ÿberlanger Brief

 

Verfasser des Ÿberlangen Briefes ist also der siebenjŠhrige Seymour Glass, den dieser 1924 aus dem Ferienlager ãCamp Simon HapworthÓ in Maine an seine Familie - namentlich an die Eltern Bessie und Les, die Schwester Beatrice, genannt Boo Boo, und die Zwillinge Walter und Walker - geschrieben hat. (Die jŸngeren Geschwister Franny und Zooey Glass, denen Salinger je eine eigene Geschichte gewidmet hatte, wurden erst spŠter geboren; Seymours fŸnfjŠhriger Bruder Buddy ist mit in Maine.) Strenggenommen aber ist der Brief eine Wort-fŸr-Wort- und Komma-fŸr-Komma-Abschrift, ausgefŸhrt von Buddy Glass am 28. Mai 1965. Versehen mit einer doppelten zeitlichen RŸckwŠrtsschraube, fŸgt Salinger diesen vorerst letzten Baustein zu den ineinander verzahnten Geschichten seines Zyklus Ÿber die New Yorker Variete-Familie Glass, die neben den Caulfields seine zweite gro§e Schšpfung ist.

 

Von den sieben Kindern der hochintelligenten und ãetwas zu gro§ geratenenÓ Familie wurde Seymour, der Erstgeborene, der BerŸhmteste. Seinen ersten kurzen Auftritt hatte er 1948 in der Geschichte ãEin herrlicher Tag fŸr Bananen-FischÓ und wurde von seinem Erfinder gleich mit einem Knalleffekt ausgelšscht: Seymour setzte seinem Leben mit 31 Jahren auf seiner Hochzeitsreise in Florida mit einem Kopfschu§ ein Ende.

 

 Hochzeit ohne BrŠutigam

 

Doch damit war der Fall fŸr Salinger keineswegs erledigt. Er verschaffte Seymour - dabei in der Chronologie zurŸckgehend - weitere Auftritte: ãHebt den Dachbalken hoch, ZimmerleuteÒ schildert seine Hochzeit 1942 mit Muriel Fedder, bei der der BrŠutigam durch Abwesenheit glŠnzt, und am ausfŸhrlichsten 1959 in ãSeymour wird vorgestelltÒ. Verfasser war in beiden FŠllen Familienchronist Buddy, den man getrost als Alter ego von Salinger deuten darf: Beide sind 1919 geboren, haben keinen Schulabschlu§, waren im Zweiten Weltkrieg als Soldat in Europa, wurden Schriftsteller und Verfasser eines einzigen Romans, und beide stammen von einem jŸdischen Vater ab, der eine Irin geheiratet hat.

 

In ãHapworthÒ nun kommt Seymour, ãunser blaugestreiftes Einhorn, unser doppellinsiges Brennglas, unser beratendes Genie, unser transportables Gewissen (...), unser alleiniger und einziger VolkspoetÒ, wie Buddy seinen Bruder einmal charakterisiert hat, erstmals selbst zu Wort. Ausgehend von tiefempfundenem Trennungsschmerz, mischt er in seinen Bericht Ÿber das Essen im Lager und die anderen Kinder Assoziationen Ÿber die Liebe und den Tod, die Literatur und das Telefonieren.

 

 Das frŸhe Ende seines Lebens

 

Immer wieder gibt er Anweisungen, wie der Brief zu lesen ist. Au§erdem berichtet Seymour, da§ Buddy ãsechs neue, stellenweise ausgesprochen humorvolle Geschichten geschrieben hatÒ und er selbst ãfŸnfundzwanzig einigerma§en vernŸnftige Gedichte fertiggestelltÒ habe, ãdie ich nicht sehr hoch einschŠtze, gefolgt von zehn Gedichten, die einige VorzŸge habenÓ. SchŸchtern und ein wenig stolz gesteht er, auf Mrs. Happy, die schwangere Frau des Camp-Managers, Eindruck gemacht zu haben. Schlie§lich sagt er noch das frŸhe Ende seines Lebens voraus. Wie gesagt: Seymour ist sieben Jahre alt, als er all dies von sich gibt. Aber es kommt noch besser.

 

Man kšnne Seymours Namen auch ãsee-moreÒ schreiben, hie§ es in ãEin herrlicher Tag fŸr Bananen-FischÒ. Einer, der mehr sieht als andere. Er kšnnte aber auch Readmour hei§en, lies mehr. Das letzte Drittel von ãHapworthÓ besteht aus einer grotesk umfangreichen Liste von BŸchern, die die in der Stadt gebliebene Familie bei FrŠulein Overman von der New Yorker šffentlichen BŸcherei fŸr die beiden Jungs im Ferienlager zur Ausleihe bestellen soll. Darauf finden sich nicht nur die Namen von Tolstoi, Dickens, Eliot, Tackeray und Austen, sondern auch die der Franzosen Hugo, Flaubert, Balzac, Maupassant und Proust. Dazu fordert er ãjedes Buch Ÿber Gott von Autoren von H bis Z, um sicherzugehen auch die mit h, obwohl ich glaube, da§ ich die ziemlich vollstŠndig aufgesogen habeÒ.

 

 Schlu§punkt im doppelten Sinn

 

ãHapworthÓ markiert in der Entwicklung von Salingers Werk einen Schlu§punkt im doppelten Sinn: Waren die frŸhen Arbeiten vorwiegend dialogisch geprŠgt und trotz ernster Themen humorvoll aufbereitet, greift er bei den spŠteren, vom Zen-Buddhismus geprŠgten Geschichten zu immer statischeren ErzŠhlmustern mit dem fast gŠnzlichen Verzicht auf Spannung und Handlung, womit auch Salingers selbstgewŠhlte Isolation von der Gesellschaft zum Ausdruck kommt.

 

Gut drei§ig Jahre nach der Veršffentlichung von ãHapworthÒ im ãNew YorkerÒ, zur Jahreswende 1996/97, machte das GerŸcht die Runde, Salinger wŸrde ein neues Buch veršffentlichen. Doch schon bald stellte sich heraus, da§ der Autor mit Roger Lathbury, dem Chef des Kleinverlags Orchises Press in Alexandria, Virginia, lediglich Ÿbereingekommen war, seine letzte Magazingeschichte als Buch zu veršffentlichen. Eine harsche Vorabkritik in der ãNew York TimesÒ mag Salinger veranla§t haben, von dem Plan abzurŸcken. Chefkritikerin Michiko Kakutani ging im Februar 1997 mit ãHapworthÒ hart ins Gericht: Sie fragt, warum Salinger nach so langer Zeit eine alte Geschichte als Buch herausbringen will. ãWill er uns daran erinnern, da§ er noch lebt? Hat er Geldsorgen? FŠllt ihm nichts Neues ein?Ó

 

 Všllig reizlose Geschichte

 

Die Kritikerin konstatierte, da§ der Autor ãmit dem feinen Ohr fŸr gesprochene Sprache und der genauen Kenntnis von JugendlichenÓ mit ãHapworthÓ eine ãbittere, unlogische und - traurig, dies sagen zu mŸssen - všllig reizlose GeschichteÓ produziert habe. Auch wenn man anderer Meinung ist - wie etwa Eberhard Alsen, der mit seiner Studie ãSalinger's Glass Stories As a Composite NovelÒ 1983 die einzige umfassende und detaillierte Deutung von ãHapworthÓ geliefert hat -, mu§ man sich der Tatsache fŸgen: Bis heute ist ãHapworthÒ nicht in Buchform erschienen.

 

Wer die Novelle dennoch lesen mšchte, wird am ehesten im Internet fŸndig. Auf langen Fluren und in versteckten Kammern ist der komplette Text dieser und weiterer 21 nicht in Buchform veršffentlichter frŸher Salinger-Geschichten, die zwischen 1940 und 1948 in dem Magazin ãStoryÒ, der ãSaturday Evening PostÒ sowie in ãEsquireÒ und ãCosmopolitanÒ erschienen waren, hinterlegt. NatŸrlich versto§en die Betreiber der Internetseiten gegen das Urheberrecht und gegen Salingers Wunsch, diese Geschichten ãeines perfekten natŸrlichen Todes sterbenÒ zu lassen. Aber den Kampf gegen das Internet haben die Mitarbeiter von Harold Ober wohl aufgegeben.

 

Der an ãHapworthÒ Interessierte kann aber auch Japanisch lernen. Fast alle Geschichten von Salinger, sogar die nur in Zeitschriften veršffentlichten, sind ins Japanische Ÿbersetzt und in Buchform erschienen. Wer ausschlie§lich Deutsch versteht, geht leer aus. Es ist zu schade, da§ Eike Schšnfeld, der uns vor zwei Jahren eine erstklassige, erstmals auf dem Originaltext basierende †bersetzung des ãFŠngers im RoggenÓ geschenkt hat (siehe auch: ãDer FŠnger im RoggenÒ in neuer †bersetzung), sich nicht an ãHapworthÒ versuchen darf. Er wŠre der richtige Mann fŸr Salingers bislang letzte Worte.

 

Zuerst erschienen in: F.A.Z., 17.06.2005, Nr. 138 / Seite 42.

 

 

 © 2005 Reinhard Helling

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