Auferstanden aus dem ãRoggenÒ
Jerome David Salingers postume Karriere
Von
REINHARD HELLING
Seit Jerome David
Salinger (1919–2010) tot ist, wirkt der amerikanische Autor des unsterblichen
Romans ãThe Catcher in the RyeÒ von 1951
irgendwie viel lebendiger. Sein Name taucht jetzt hŠufiger in den Medien auf
als in den Jahren, in denen er in Cornish, New Hampshire,
mehr oder weniger ein Einsiedlerleben fŸhrte und kaum mehr von sich hšren lie§.
Derzeit steht sein erstes Haus im bewaldeten Hinterland von Boston, in dem er
bis 1979 mit seiner Familie gelebt hatte, zum Verkauf. Das ImmobilienbŸro Zillow hat 679.000 US-Dollar fŸr das 270 Quadratmeter gro§e
Haus nebst GrundstŸck in der Lang
Road 342 aufgerufen.
Im
Sommer 1965 hatte der Erfinder von Holden Caulfield
ja Schluss gemacht mit dem Veršffentlichen: ãHapworth 16, 1924Ò war seine letzte Wortmeldung, abgedruckt
auf 50 Seiten in seinem Hausblatt ãThe New YorkerÒ. Der 26.000 Wšrter
umfassende Brief, den der siebenjŠhrige Seymour Glass aus dem Feriencamp an die
Familie zu Hause schrieb, hŠtte 1996 noch einmal als Buch in der Orchises Press
von Roger Lathbury erscheinen sollen – der
Verleger hatte das Buch fertig und war nach einem persšnlichen Treffen in
Washington D.C. mit Salinger handelseinig geworden –, doch ein herber
Verriss von ãNew York TimesÒ-Chefkritikerin Michiko Kakutani
beendete das Vorhaben am 20. Februar 1997. Salinger zog seine Einwilligung zu
einer Wiederveršffentlichung der Geschichte zurŸck. Und das warÕs dann.
Wer
immer Ÿber Salinger schreibt (Wissenschaftler ausgenommen), gerŠt leicht in den
Verdacht, aus der PopularitŠt des Autors Kapital schlagen zu wollen. Zwei
sympathische neue BŸcher, die dem in aller Welt besonders von jugendlichen
Lesern verehrten Autor auf ganz unterschiedlichem Niveau zu Leibe rŸcken,
bilden da eine erfreuliche Ausnahme. Thomas Bellers Biografie ãThe
Escape ArtistÒ (New Harvest/Houghton
Mifflin Harcourt, 181 Seiten, 20 $) wirft einen Blick auf Salingers Jugendjahre
in New York. Grš§eres Aufsehen erregte aber natŸrlich Joanna Rakoff, die in ãMy Salinger YearsÒ (Alfred Knopf, 272 Seiten, 25,95
$) ihre Erlebnisse als Angestellte der Literaturagentur Harold Ober Associates
schildert, die Salingers PrivatsphŠre und sein Werk zu beschŸtzen half. ãEr war
kein SpinnerÒ, sagt die 42-jŠhrige Autorin. ãEr war freundlich, liebenswŸrdig,
geduldig und respektvoll. Das wollte ich zeigen.Ò
Schaut
man mit dem Blick eines Buchhalters auf sein schriftstellerisches Wirken, so
fŠllt die Bilanz karg aus: Ein Roman und 35 Kurzgeschichten – mehr hat
Salinger zu Lebzeiten nicht veršffentlicht. DafŸr wurde der bei uns als ãDer FŠnger im RoggenÒ gehandelte Roman
ein Weltbestseller mit einer Auflage von mehr als 60 Millionen Exemplaren,
Ÿbersetzt in drei Dutzend Sprachen. Von den Stories befand er nur dreizehn fŸr
gut genug, um sie nach ihrer Erstveršffentlichung in Zeitschriften noch einmal
in Buchform erscheinen zu lassen. Neben den ãNeun
ErzŠhlungenÒ (1953) sind das ãFranny und ZooeyÒ (1961)
sowie ãHebt
an den Dachbalken, Zimmerleute, und Seymour eine EinfŸhrungÒ (1963). 25
Jahren als Schriftsteller folgten 45 Jahre als Schweiger. Zumindest gegenŸber
der …ffentlichkeit.
Schon
kurz nach seinem Tod mehrten sich die Anzeichen, dass der Verstummte immer
weitergeschrieben hat – allerdings nur ãzu meinem eigenen VergnŸgenÒ.
Entgegen dem verbreitetem Bild hat er durchaus Kontakt zur Welt gehalten
– vor allem als flei§iger Briefschreiber. Einige davon liegen in den
Bibliotheken von Harvard und Princeton, mehr als 500
seiner Schreiben an Dorothy Olding dagegen hat seine
Agentin auf Salingers Wunsch schon 1970 vernichtet. DafŸr tauchten vor drei
Jahren rund 50 maschinengeschriebene Schreiben sowie Postkarten auf, die er
zwischen 1986 und 2002 an seinen britischen Freund Donald Hartog
adressiert hatte, den er aus gemeinsamen Tagen in Wien kannte, wo die beiden
1937 Deutschstunden nahmen. Die University of East Anglia hat die Schreiben unter ihre Fittiche genommen.
In
der New Yorker Morgan Library werden elf Briefe an den kanadischen Grafiker E.
Michael Mitchell verwahrt, der das feuerrote Karussellpferd auf dem Cover des
Klassikers gestaltet hatte und mit dem Salinger Ÿber fŸnf Jahrzehnte
korrespondierte hatte, desweiteren neun Briefe an
seinen Armeefreund Werner Kleeman aus den Jahren 1945
bis 1969. Im Vorjahr kamen die zŠrtlichen Zeilen aus neun Briefen hinzu, die die Kanadierin Marjorie Sheard
zwischen 1941 und 1943 von Salinger empfangen hatte. In Salingers Nachlass
dŸrften sich auch die 14 Briefe befinden, die seine zeitweilige Geliebte Joyce Maynard bei SothebyÕs versteigerte. Der vermšgende
Software-Unternehmer Peter Norton hatte sie 1999 fŸr das hŸbsche SŸmmchen von
156.500 Dollar ersteigert – und sie dem Autor nach Cornish
zurŸckgeschickt. Diese gute Tat wird den fanatisch weltscheuen Salinger mehr
als gerŸhrt haben.
Wie
verschiedene Quellen – allen voran Biograf Kenneth Slawenski – besagen, hat der Autor bis zu 15
Manuskripte in seinem legendŠren Tresor hinterlassen, von denen die ersten 2015
ans Tageslicht kommen kšnnten: neue Geschichten Ÿber seine literarischen Familien
Caulfield und Glass sowie Autobiografisches Ÿber
seine erste Ehefrau Sylvia Welter.
Schon
jetzt kšnnen sich Salinger-Fans hierzulande auf vier Neuerscheinungen freuen,
die im FrŸhjahr 2015 herauskommen: drei frŸhe Geschichten aus der Zeit vor dem ãFŠngerÒ, ein
Roman Ÿber Salingers Liebschaften, Rakoffs
Erinnerungen unter dem Titel ãLieber Mr. SalingerÒ (Knaus Verlag, ca. 300 Seiten, 19,99 Euro) sowie eine umfangreiche
Dokumentation mit zahlreichen bisher unbekannten Fotos.
Bei
den Geschichten in ãDie jungen LeuteÒ (Piper, 96 Seiten, 14,99 Euro)
handelt es sich um die deutsche Erstveršffentlichung von FrŸhwerken, die ein amerikanischer Kleinverlag – so die
vollmundige AnkŸndigung des deutschen Verlages – ãin literarischen Zeitschriften aus den
40er-Jahren entdecktÒ habe. TatsŠchlich waren sie lŠngst bekannt, seit zwei
Generationen von Literaturwissenschaftlern und Studenten untersucht und auch in
den ãComplete Uncollected Short Stories of J.D.
SalingerÒ enthalten. Die hatten Unbekannte gegen den Willen des Autors als
zweibŠndige gebundene Raubkopie auf den Markt gebracht, einige rare Exemplare
sind heute fŸr rund 500 Euro bei Internet-Antiquariaten zu finden. Salinger wollte
diese ãLockerungsŸbungenÒ eines natŸrlichen Todes sterben (ãI wanted them to
die a perfectly natural deathÒ) lassen, wie er 1974 der ãNew York TimesÒ sagte.
Nun
fanden Tom Graves und Darrin Devault
vom Verlag The Devault-Graves
Agency heraus, dass es der sonst so penible Autor versŠumt hatte, fŸr diese
Publikationen sein Copyright anzumelden. Und so konnten sie den schmalen Band
vor wenigen Monaten ganz legal unter dem Titel ãThree Early StoriesÒ herausbringen.
Diese von Salingers Erben, seiner Witwe Colleen
OÕNeill und seinem Sohn Matthew, unbeanstandete Publikation ist nicht zu
verwechseln mit den unveršffentlichten Geschichten ãThe Ocean Full of Bowling BallsÒ,
ãBirthday BoyÒ und ãPaulaÒ, die 2012 fŸr kurze Zeit im Internet illegal als
Download-PDF zur VerfŸgung standen.
Statt die wenigen Seiten der ãThree Early StoriesÒ mit Anmerkungen aufzufŸllen,
bestellten die Verleger aus Memphis bei der jungen Illustratorin Anna Rose Yoken
Schwarz-Wei§-Zeichnungen, wie sie frŸher
Salingers Geschichten im ãNew YorkerÒ
umrandet hatten. ãMir kam zugute,
dass in jeder der drei Geschichten eine junge Frau mit einer besonderen Haltung
und Persšnlichkeit auftauchtÒ, sagt die 23-jŠhrige KŸnstlerin aus Brooklyn. Die
unaufdringlichen Zeichnungen helfen dem Leser, sich in die 40er-Jahre zu
versetzen.
ãThe Young FolksÒ, Salingers erste
regulŠre Veršffentlichung, erschien im FrŸhjahr 1940 in dem von Whit Burnett herausgegebenen Magazin ãStoryÒ und gibt einen
Eindruck von einer Party in New York voller gelangweilter, ketterauchender
Teenager, darunter Edna Phillips und William Jameson, die von der Gastgeberin
miteinander bekannt gemacht werden, aber nichts miteinander anfangen kšnnen. ãWudga say?Ò raunen sie pupertŠr oder ãCÕmere a minuteÒ oder ãIÕll tell yaÒ. Der damals 21-jŠhrige Salinger war
SchŸler von Burnett an der Columbia University und bekam fŸr sein DebŸt 25
Dollar als Honorar.
Noch
im gleichen Jahr erschien in der ãUniversity of
Kansas City ReviewÒ die Geschichte ãGo
See EddieÒ, die ebenfalls fast nur aus Dialogen besteht. Bobby versucht
darin, seine Schwester Helen, eine arbeitslose TŠnzerin, zu einem bestimmten
Job in einer Show zu Ÿberreden und sich zwischen zwei Liebhabern zu
entscheiden.
ãOnce a Week WonÕt Kill YouÒ schlie§lich, 1944 wieder in ãStoryÒ erschienen,
erzŠhlt von einem jungen Mann, der im MŠrz 1944 nach Europa in den Krieg ziehen
soll. Vorher kŸmmert er sich darum, dass sich seine Frau um die vereinsamte
Tante Rena kŸmmert und sie mit ins Kino nimmt. Diese Geschichte hat Salinger
geschrieben, als er schon als Soldat im britischen Tiverton,
Devonshire, stationiert war.
Als
†bersetzer fŸr die 96 Seiten konnte der Piper Verlag, der 1999 ãTanzstundenÒ, die schwatzhaften
Erinnerungen von Joyce Maynard, veršffentliche hatte,
Eike Schšnfeld gewinnen. Der Hamburger hat sich mit seinen NeuŸbersetzungen von
Salingers vier bei Kiepenheuer
& Witsch verlegten BŸchern seit 2003 als adŠquate Stimme fŸr dessen
speziellen Sound erwiesen.
Der Roman Ÿber Salinger kommt aus
Frankreich. ãOona & SalingerÒ (Piper, 336 Seiten, 19,99 Euro)
stammt aus der Feder des bekennenden Salinger-Fans FrŽdŽric Beigbeder,
der einst den Werberroman ã39,90Ò schrieb und seit
einem Jahr Chefredakteur des Nackte-Frauen-Magazins ãLuiÒ ist. 2007 drehte Beigbeder, auf dessen
persšnlicher Top 100 der Weltliteratur der ãFŠngerÒ auf Platz sieben steht, die
TV-Dokumentation ãLÕAttrape-SalingerÒ, fŸr die er
nach Cornish reiste, um den Eremiten aufzuspŸren. In
seinem Roman nun phantasiert er – auf der
Basis von tatsŠchlichen Begebenheiten – Ÿber Salingers Neigung zu jungen
Frauen im Allgemeinen und zu Oona OÕNeill im
Besonderen. Die unerfŸllte Liebe zwischen ãJerryÒ und der Tochter
des Dichters Eugene OÕNeill beginnt im ãStork ClubÒ, einem
seit den 30er-Jahren beliebten New Yorker Nachtclub. Dort trifft der aufstrebende Literat 1941 die bildhŸbsche 16-JŠhrige. Sie verabreden sich mehrfach, er schickt ihr Briefe, doch zu einer
richtigen Beziehung kommt es nicht. Das Ende vom Liebeslied: Salinger zog in
den Krieg, Oona nach Hollywood. Selbst als seine Angebetete 1943 Charlie Chaplin geheiratet hatte, schrieb ihr Salinger weiter.
Zu guter
Letzt erscheint Anfang MŠrz ãSalinger. Ein LebenÒ (Droemer Knaur, 992
Seiten, 34 Euro), eine
deutsche Ausgabe des reich bebilderten 900-Seiten-Buches, das 2013 in Amerika
ergŠnzend zu der US-Filmdokumentation
ãSalingerÒ erschienen ist. Der Autor
Shane Salerno hat dafŸr, unterstŸtzt von David Shields, neun Jahre recherchiert
und angeblich zwei Millionen Dollar investiert. Die in der Tradition der Oral History montierte Dokumentation, in der literarische
Wegbegleiter wie Tom Wolfe, Gore Vidal oder E.L. Doctorow, aber auch Freunde
und Verwandte des Autors zu Wort kommen, vertritt eine Kernthese: ãDer Krieg
brachte Salinger als Mann um und machte ihn zu einem gro§en KŸnstler, in der
Nachkriegszeit bot ihm die Religion spirituellen Trost und tštete seine Kunst.Ò Film und Buch beleuchten
aber auch Salingers AffinitŠt zu jungen Frauen, so zu Jean Miller, einer
14-JŠhrigen, die er 1949 in Florida getroffen hatte und die ihm Anregung fŸr
das ChormŠdchen in der wunderbaren Geschichte ãFŸr EsmŽ
– in Liebe und ElendÒ gewesen
sein dŸrfte.
(Unveršffentlichtes
Manuskript. Abdruck nach RŸcksprache per Mail an helling.reinhard@gmail.com
mšglich.)
© 2014 Reinhard Helling