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Zu Lande, zu Wasser und in der Luft · Hörspiel








Niels Höpfner Zu Lande

 











Niels Höpfner
Zu Lande, zu Wasser und in der Luft


Hörspiel



STIMMEN:



VIKTOR (70)

ANNA (64)



1

Hotelzimmer



VIKTOR: Schläfst du schon?

ANNA: Nein.

VIKTOR: Ich kann auch nicht schlafen.

ANNA: Man fällt todmüde ins Bett und kann nicht schlafen.

VIKTOR: War der Tag sehr anstrengend für dich?

ANNA: Ja. Ziemlich.

VIKTOR: Für mich auch.

ANNA: Wir sind eben nicht mehr die Jüngsten.

VIKTOR: Damit werden wir uns wohl abfinden müssen...

ANNA: Ja.

VIKTOR: ...ich bin zwar müde, aber todmüde, das würde ich nicht sagen.

ANNA: Deine Konstitution ist eben unverwüstlich.

VIKTOR: Nebenan hustet einer schon die ganze Nacht. Schrecklich dieser Husten. Ich muß immer an Krebs denken.

ANNA: Du hörst Gespenster. Ich hab nicht das Geringste gehört.

VIKTOR: Als ob die Wände aus Pappe wärn…Krebskranke sollte man einsperren, anstatt sie frei herumlaufen zu lassen... sie sind eine Gefahr für die Allgemeinheit... Aber, auch wenn wir nicht mehr die Jüngsten sind, gehören wir längst nicht zum alten Eisen. Oder gehören wir schon zum alten Eisen, Anna?

ANNA: Nein, Viktor, noch lange nicht.

VIKTOR: Wir sind besser in Schuß als mancher, der fünfzig ist... oder vierzig...

ANNA: Ja, mein Schatz.

VIKTOR: Statistisch gesehen, müßte ich eigentlich längst tot sein. Aber Statistiken lügen, weil sie gefälscht sind, alle. Über Statistiken kann man nur lachen... obwohl... laut Statistik wirst du mich überleben, Anna. Willst du mich überleben?

ANNA: Ich habe keine Angst vor dem Sterben. Sterben ist nur schlimm, wenn man Angst davor hat. Die Angst ist das schlimmste.

VIKTOR: Aber ich will nicht, daß du mich überlebst. Das ganze Leben zusammen... zumindest die zweite Hälfte... da darf einer den anderen nicht im Stich lassen...

ANNA: Versuch jetzt zu schlafen...

VIKTOR: Das Bett ist unbequem wie ein... Sarg...

ANNA: Woher willst du wissen, wie unbequem Särge sind...

VIKTOR: Schau sie dir an... sie erinnern mich an Konservendosen. Als ich das erste Mal in meinem Leben einen Sarg sah, dachte ich im selben Augenblick: eine Konservendose... Oder war es umgekehrt? Ich weiß es nicht mehr genau. Der Vergleich hinkt natürlich. Eine Konservendose sollte ja gerade den Verfall aufhalten... sie hat etwas an sich von Unendlichkeit... zumindest einen Hauch von Unendlichkeit... aber das scheint j a nur so... oder kannst du dir vorstellen, daß eine heutige Konservendose im Jahr 2500 noch genießbar ist? Ich nicht. Aber wenn mir ein Sarg wie eine Konservendose vorkommt, dann meine ich diese Enge... die Verurteilung zur Bewegungslosigkeit... die gnadenlose Härte im Rücken.

ANNA: Was erwartest du von einem Hotelbett?

VIKTOR: Immerhin, es ist ein Fünf-Sterne-Hotel. Den niedrigsten Luxus wird man doch wohl erwarten dürfen: ein bequemes Bett... ANNA: Wenn man auf Reisen geht, muß man die Widrigkeiten in Kauf nehmen. Man muß Abstriche machen an der gewohnten Bequemlichkeit... ständig neues Personal... mit barbarischem Geschmack eingerichtete Zimmer...

VIKTOR: ... und unbequeme Betten! Wenn ich mir so überlege, wie viel Betten in den letzten Jahren erträglich waren... an einer Hand lassen sie sich abzählen.

ANNA: Das beste Hotel ersetzt nicht ein eigenes Haus. Viktor, ich möchte so gern wieder in eigenen Wänden wohnen... unter einem eigenen Dach...

VIKTOR: Du denkst immer nur an dich... immer denkst du nur an dich.

ANNA: Irgendwann müssen wir einmal zur Ruhe kommen.

VIKTOR: Das Wort Ruhe existiert nicht für mich, Anna. Und du weißt, warum. Du kennst doch die Konsequenzen. Warum fängst du denn immer wieder davon an? Oder wünschst du dir meinen Tod?

ANNA: Unsinn... aber für alte Bäume ist es nicht gut, wenn sie ständig umgepflanzt werden.

VIKTOR: Das Husten... schon wieder dieses ekelhafte Husten ... hast du es gehört, Anna?                                                                             

ANNA: ... heute hier und morgen irgendwo. Hunderttausend Kilometer im Jahr und mehr... und das seit Jahren... die Erde bereits 67mal umrundet, wenn ich richtig gezählt hab... kein unbekannter Winkel mehr... wir drehn uns nur noch im Kreis, Viktor...

VIKTOR: Anna, ich will davon nichts mehr hören. Nichts mehr. Hast du verstanden?

Ein Klavierthema von Chopin, das sich zwischen allen Szenen wiederholt.



2

Flugzeug



VIKTOR: Sag mir, was du siehst.

ANNA: Unter uns nur Wolken... nur Wolken... weiß wie Watte... als ob wir einen Spaziergang über Watte machen würden.

VIKTOR: Als Kind gehörten Wolken für mich zu den größten Wundern... weil sie nicht herunterfielen vom Himmel... wie von den Bäumen Äpfel und Birnen... Wolken machten das Gesetz der Schwerkraft lächerlich, das mir später in der Schule eingetrichtert wurde... Wenn ich sehr traurig war, und das Gesetz der Schwerkraft kann einen schon sehr traurig machen, dann beobachtete ich im Garten die Wolken, stundenlang ... keine ist wie die andere, jede ist nur sie selbst... und ich dachte mir, so willst du eines Tages auch sein: nur du selbst... was für ein Glück, daß die meisten Menschen nicht das Geheimnis der Wolken kennen... sonst würden sie nicht alles mit sich machen lassen, was man will.

ANNA: Es gibt auch Gesetze für Wolken, Viktor. Und ihre Lebenserwartung spottet jeder Beschreibung. Auch Wolken sterben... plötzlich macht es pffft... aus ist es... und nur blauer Himmel, wohin du siehst.

VIKTOR: Aber Wolken sterben leise... und außerdem: du kannst dir deine Bosheiten sparen. Auf diese Art von Unterhaltung verzichte ich. Ich kämpfe mit offenem Visier, aber du versetzt einem hinterrücks Nadelstiche. Zierlicher Gong. Frauenstimme:,, Meine Damen und Herren, es ist jetzt wieder gestattet zu rauchen. Wir möchten Sie aber bitten, angeschnallt zu bleiben, da wir in Kürze eine Schlechtwetterzone durchfliegen, wobei mit Turbulenzen gerechnet werden muß. Vielen Dank."

VIKTOR: Das hat gerade noch gefehlt. Alles hat sich gegen mich verschworen... wenn der Pilot nicht die Nerven behält. .. verändert sich nicht das Geräusch der Triebwerke? Es kommt mir vor, als ob es sich verändert... fallen wir schon?

ANNA: Kein Grund zur Aufregung, Viktor.

VIKTOR: Schnall mich los, Anna. Ich komm mir vor wie in einer Zwangsjacke.

ANNA: Es ist besser, wenn du angeschnallt bleibst. Falls die Maschine einen Hopser macht, hast du eine Beule am Kopf.

VIKTOR: Hopser... Hopser... wie oft hab ich im Radio gehört: „Aus dem Wrack wurden die verstümmelten Leichen der Passagiere geborgen, die noch angeschnallt auf ihren Sitzen saßen."

ANNA: Soll ich dir einen Whisky bestellen?

VIKTOR: Nein... Laß uns die Plätze wechseln, Anna. Die Plätze am Notausgang sind die besten... wenn es zu einer Panik kommt...

ANNA: Aber die Maschine ist doch vollbesetzt.

VIKTOR: So? Nach irgendeinem Plan stürzen immer nur vollbesetzte Maschinen ab... ein Ende im Massengrab... das hab ich nicht verdient.

ANNA: Nimm eine Tablette zur Beruhigung.

VIKTOR: Ich will keine Tablette. Tabletten machen alles nur noch schlimmer.

ANNA: Gib mir deine Hand, Viktor.

VIKTOR: Deine Hand ist so schön kühl...

ANNA: Fühlst du dich jetzt besser?

VIKTOR: Wenn ich dich nicht hätte, Anna... Wo, zum Teu­fel, nimmst du, den Tod vor Augen, diese Ruhe her?

ANNA: Es ist alles halb so schlimm.

VIKTOR: Gemeinsam sind wir stark, Anna, nicht wahr? Zusammen heben wir die Welt aus den Angeln, immer noch, oder?

ANNA: Ja, Viktor.

VIKTOR: Ich spüre richtig, wie du mir von deiner Kraft abgibst. .. wo ist denn meine eigene Kraft geblieben? Ich war doch nie ein Schwächling, oder?

ANNA: Du hast sie verloren bei dem langen Prozeß... in den Gefängnissen... auf der Flucht...

VIKTOR: Warum haben SIE mir eigentlich den Prozeß gemacht... diesen Schauprozeß... was hab ich denn getan? Gegen welche Gesetze hab ich denn verstoßen? Gegen wen bin ich schuldig geworden?

ANNA: Es gibt keine objektive Schuld. Schuld ist immer eine Frage der Definition.

VIKTOR: Anna, mir wird schlecht... der Magen... der Magen ... schnell die Tüte! Kotzgeräusche Nie wieder fliegen...



3

Auto



ANNA: Ein schöner Tag... endlich wieder Sonne nach dem vielen Regen... i-de-a-les Reisewetter... sollen wir nicht die Fenster herunterdrehn? .

VIKTOR: Damit mich die Zugluft umbringt...

ANNA: Es ist ganz lau... bei dem milden Wetter hättest du ein Hemd mit kurzen Ärmeln anziehn sollen...

VIKTOR: Schon der geringste Luftzug kann gefährlich werden. Du weißt genau, wie rasch ich erkältet bin. Und einen Schnupfen loszuwerden, dauert mindestens zwei Wochen. Mindestens. Wenn der Körper nicht genügend Abwehrstoffe hat, kann die Infektion sogar tödlich verlaufen. Ich möchte nicht wissen, wieviel Leute schon an Schnupfen gestorben sind... Niesend Siehst du, allein bei dem Gedanken an Schnupfen kitzelt es mir schon in der Nase.

ANNA: Die Seele steigt auf zum Himmel... durch die Nase...

VIKTOR: Es ist besser, man geht kein Risiko ein. Nicht das geringste Risiko... gestorben an Schnupfen, welch ein lächerlicher Tod... was hast du gerade gesagt?

ANNA: Ich sagte: die Seele steigt auf zum Himmel... durch die Nase...

VIKTOR: Wie kommst du auf diesen Satz?

ANNA: Was weiß ich, wie ich darauf gekommen bin. Einfach nur so. Warum wirst du denn ganz weiß im Gesicht?

VIKTOR: Der Satz klingt wie ein ... Kode ... War er für den Chauffeur bestimmt? Damit er schneller fahren soll? Fahren wir nicht plötzlich schneller?

ANNA: Das Tachometer zeigt neunzig wie bisher.

VIKTOR: Du willst mich nur nicht beunruhigen, Anna. Du hast im Rückspiegel einen Wagen gesehen, der uns verfolgt. Gib es zu. Du hast dem Chauffeur das Zeichen gegeben, daß er schneller fahren soll. Gib es zu. Keine falsche Rücksichtnahme, meinetwegen, Anna.

ANNA: Aber die Straße ist ganz leer... soweit man sehen kann... niemand vor uns und niemand hinter uns...

VIKTOR: Kein schwarzer Wagen? Wenn es ein schwarzer Wagen ist, dann sind SIE es... SIE fahren immer nur schwarze Wagen... wenn SIE im Morgengrauen kommen…

ANNA: Wir sind ganz allein auf weiter Flur...

VIKTOR: Den Chauffeur... hältst du für... zuverlässig und... fähig?

ANNA: Als ich den Wagen mietete, sagte man mir, er sei der Beste von allen... zwanzig Jahre Fahrpraxis... und: er hat Familie, Frau und sechs Kinder, das ist sehr wichtig.

VIKTOR: Du glaubst nicht, daß er leichtsinnig fährt?

ANNA: Aber er würde sich selbst in Gefahr bringen. Ein Mann mit Familie bringt sich nicht in Gefahr, auf keinen Fall.

VIKTOR: Glaubst du, daß er bestechlich ist?

ANNA: Wie meinst du das?

VIKTOR: Wenn SIE Straßensperren errichtet haben, wird er dann anhalten und das Kopfgeld kassieren?

ANNA: Der Mann macht einen ganz harmlosen Eindruck.

VIKTOR: Eine solche Schweinerei traust du ihm nicht zu, oder?

ANNA: Nein, niemals.

VIKTOR: Würde er den Durchbruch wagen?

ANNA: Ich denke schon. Ja.

VIKTOR: Wann werden wir ankommen?

ANNA: In drei, vier Stunden, schätze ich... Laß uns unterwegs noch ein Picknick machen, ja? Ich habe frisches Obst besorgt... Lachs und Schinken... sogar eine Dose Kaviar hab ich auf getrieben... wenn wir an einer schönen Wiese vorbeikommen, machen wir auf der rotkarierten Decke ein Picknick... wie früher...

VIKTOR: Auf einer Wiese! Möglichst noch am Waldesrand, nicht?

ANNA: Darauf freu ich mich schon den ganzen Tag.

VIKTOR: So. Du freust dich also darauf. Ich sage nur: Heckenschützen! Hast du denn nicht daran gedacht, daß in den Büschen überall Heckenschützen lauern können?

ANNA: Dann eben eine Wiese ohne Wald...

VIKTOR: Und SIE knallen mich von der Straße ab. Wenn du dich unbedingt zur Zielscheiben machen willst, ich nicht... Ein Knall, Bremsenquietschen, Motor im Leerlauf. Anna! Anna, was ist passiert?

ANNA: Ich glaub, wir haben eine Panne. Ein Reifen scheint geplatzt zu sein.

VIKTOR: Dann ist die Katastrophe ja fast perfekt.

ANNA: Auf diese Weise kommen wir wenigstens noch zu unserem Picknick.

VIKTOR: Kerl, konnten Sie nicht aufpassen? Wo haben Sie denn Ihre Augen? Trottel!

ANNA: Schrei ihn nicht an, Viktor. Er versteht unsere Sprache nicht. Außerdem ist er... taubstumm.




4

Schiff



VIKTOR rufend: Fall nicht über die Reeling, Anna...

ANNA rufend: Keine Sorge... ich paß schon auf... ich halt mich f e-est...

VIKTOR: Sag mir, was du sie-hist...

ANNA: Nur W a- asser... soweit das Auge reicht... grün-blau-es W a- asser...

VIKTOR: Schon Land in Sicht?

ANNA: Nei-en... um uns nur Wa-asser... Wieder bei Viktor So eine Seereise ist schon beeindruckend ... man versteht plötzlich, was es auf sich hat mit den Elementen... die See, jetzt ist sie, zum Glück, ruhig, aber wenn man sich überlegt, wie entfesselt sie toben kann... aus Büchern lassen sie sich nicht verstehn, die Elemente, man muß sie unmittelbar erleben... nur so kann man sie verstehen... ihre Gefährlichkeit. .. ihre Unberechenbarkeit... wir glauben, sie uns unterwerfen zu können... welch ein Irrtum, welch eine Selbstüberschätzung ... plötzlich schrumpft unsere Größe, und wir werden ganz klein... wie Zwerge...

VIKTOR: Das hast du schön gesagt, Anna. Wirklich sehr schön... Säuerlich: Ich bin ganz deiner Meinung... Welche Windstärke haben wir... hmm, was schätzt du?

ANNA: Höchstens drei... keine Wellenberge, keine Wellentäler ... freundliche Touristengesichter... vor dem Bug schwimmen Delphine... und die Möwen aus dem Hafen sind immer noch nicht müde...

VIKTOR: Sie krächzen eher wie Raben...

ANNA: Meer... Wind... Himmel... ich fühle mich wie neugeboren.

VIKTOR: Anna, es besteht kein Grund, übermütig zu werden.

ANNA: Erinnerst du dich noch an die kleine Anna... damals vor vierzig Jahren? An dieses unreife Ding, das dauernd kichern mußte, wenn du irgend etwas sagtest... irgend etwas Bedeutsames, natürlich... warum wolltest du mich eigentlich unbedingt heiraten? Warum hast du sie eigentlich geheiratet, die kleine Studentin... die in einem möblierten Zimmer hauste... die nichts hatte...

VIKTOR: Du warst sehr schön, und ich hatte mich in dich verliebt... so einfach ist das manchmal auf der Welt, Anna.

ANNA: Wie mein Leben wohl verlaufen war, ohne dich... wenn du dich nicht in mich verliebt hättest... vielleicht würde ich heute in einer Mietskaserne sitzen: ein Zimmer, Küche, Diele, Bad... und auf dem Balkon Geranien... und die elegante Dame von Welt hätte es in den Klatschspalten der Boulevardpresse nie gegeben... daß dir so was passieren konnte: dich in mich zu verlieben...

VIKTOR: Bist du nicht glücklich gewesen mit mir... die vielen Jahre?

ANNA: Ach, Viktor, was ist denn Glück...

VIKTOR: Hat es dir jemals an etwas gefehlt? Hab ich dich nicht geradezu überschüttet mit Liebe? Du hast alles gehabt, wovon andere Frauen nur träumen... ich gebe zu, augenblicklich sind die Verhältnisse etwas... schwierig... aber denk auch an die Vergangenheit, mit all dem Glanz und der Pracht... die Vergangenheit kann uns niemand nehmen... dieses Leben in Luxus, ich habe es dir ermöglicht... und du hast nicht nur Ansehen gehabt, sondern sogar Macht... weil ich Ansehen hatte und Macht... ohne mich, ja, wer wärst du denn ohne mich? Ich habe dich aus dem Dreck gezogen... durch mich bist du bedeutend geworden, vorher warst du ein Nichts... durch mich bist du erst ein Mensch geworden ...

ANNA: Mir ging so oft durch den Kopf, daß du mich überhaupt nicht gefragt hast: Willst du meine Frau werden?... Das war für dich ganz selbstverständlich... du hast mich einfach genommen... und ich hab 's mir gefallen lassen...

VIKTOR: So seid ihr alle: undankbar... erst die Kinder, die sich vom Vater lossagen, nachdem ihre Hirne in den Bibliotheken vergiftet wurden... und dann noch die eigene Frau!... Undankbarkeit ist der Welt Lohn... ja, ihr habt mich immer nur ausgenutzt... alle haben mich immer nur ausgenutzt... ausgebeutet, wie das heute heißt...weil ich zu gutmütig war... ja, das ist mein entscheidender Fehler gewesen: ich war immer zu gutmütig. Mit allem und jedem hatte ich Mitleid. Erinnerst du dich, wie ich in London einer Toilettenfrau hundert Pfund Trinkgeld gab? Erinnerst du dich, wie in einem der Gärten ein Dutzend Palmen einging? Ich habe die salzigsten Tränen meines Lebens geweint. So was tut kein Tyrann, für den die ganze Welt mich gehalten hat und immer noch hält. Ich erfüllte immer nur meine Pflicht als Familienvater... als Oberhaupt einer großen Familie... und waren wir nicht alle eine einzige große Familie? Anna, hab ich mich jemals als Despot aufgeführt?

ANNA: Du hast Geschichte gemacht, Viktor.

VIKTOR: Aber jetzt glauben alle, mir etwas am Zeug flicken zu können... wo ich niemanden mehr zur Rechenschaft ziehen kann, weil ich wehrlos bin... „Blutsauger des Volkes", das muß aus den Geschichtsbüchern getilgt werden... wie steh ich denn da, vor der Geschichte... ich werde internationale Gerichte anrufen und klagen wegen Beleidigung... wegen übler Nachrede... noch gibt es Richter, noch ist es möglich, zu seinem Recht zu kommen... ich werde um mein Recht kämpfen... mein guter Name besudelt! Hinterhältiges Machwerk von Schmutzfinken... aber ich werde mein Recht erhalten... noch liegt nicht alles in Schutt und Asche... noch ist nicht alles verloren... noch gibt es eine Zukunft...

ANNA: Der Kapitän hat uns zum Essen gebeten.

VIKTOR: So. Der Kapitän hat uns zum Essen gebeten! Der Kerl soll lieber aufpassen, daß sein Kahn auf Kurs bleibt... daß wir nicht auflaufen auf ein Riff... oder zusammenstoßen mit einem Eisberg... bestimmt gibt es Eisberge hier in der Gegend... Anna, glaubst du, daß ein Eisberg das Schiff zum Untergang bringen kann?

ANNA: Dazu ist es viel zu riesig, Viktor. Wie zu einem Kind Außerdem haben wir Radar an Bord, und wenn so ein böser Eisberg auftaucht, machen wir einfach einen großen Bogen um ihn herum.

VIKTOR: Und... was passiert, wenn der Eisberg unter Wasser liegt? Dann reißt er in diesen Seelenverkäufer ein Leck.,, denk an den Untergang der Titanic, Anna... ich habe keine Lust, mit einem Halleluja auf den Lippen in den Fluten zu versinken... jetzt nimmt auch noch der Wind zu... wenn das kein böses Omen ist... und der Herr Kapitän bittet zum Essen! Außerdem: ebenso kann Feuer an Bord ausbrechen. Feuer ist der schlimmste Feind an Bord, das weiß jeder Leichtmatrose... Zähl die Rettungsboote; Anna... und sieh in der Kabine nach, ob da Schwimmwesten sind... zur Not schwimmen wir eben an Land...

ANNA: Aber es wimmelt von Haien, Viktor.




ANNA (Karin Eickelbaum) VIKTOR (Hans Caninenberg)


5

 Hotelzimmer



ANNA: Wieder sind wir allein...

VIKTOR: Endlich wieder festen Boden unter den Füßen... und nicht mehr dieses Schaukeln... und die Angst vor dem Untergang...

ANNA: Du siehst abgespannt aus.

VIKTOR: Ich fühl mich erschöpft... wie ein leerer Brunnen...

ANNA: Laß uns ein paar Tage hier bleiben. Du brauchst unbedingt Ruhe.

VIKTOR: Glaubst du, daß wir hier in Sicherheit sind?

ANNA: Bestimmt, Viktor, ganz bestimmt.

VIKTOR: Haben die Leute von dem Hotel einen zuverlässigen Eindruck gemacht?

ANNA: Wir sind ganz einfach Gäste... wie alle ändern auch.

VIKTOR: Hat man uns nicht angestarrt, Anna?

ANNA: Nein, keineswegs. Man war nett, höflich und freundlich.

VIKTOR: Hat man uns auch nicht... nachgestarrt?

ANNA: Nicht, daß ich wüßte. Aufgefallen ist es mir jedenfalls nicht.

VIKTOR: Du willst es mir nur nicht sagen... man hat uns nachgestarrt!

ANNA: Nein. Glaub mir: ganz gewiß nicht.

VIKTOR: Aber ich fühlte, wie die Blicke in meinem Nacken brannten... wie sie mich durchbohrten... wie die Pfeile den heiligen Sebastian...

ANNA: Das hast du dir alles nur eingebildet... es besteht nicht der geringste Grund zur Angst.

VIKTOR: Wie weich das Bett ist... und wie frisch es duftet…

ANNA: Morgen wirst du dich von den Strapazen der letzten Zeit erholt haben.

VIKTOR: Richtig keusch duftet es... wie vor sechzig Jahren ... in meinem Kinderzimmer... das Mädchen mußte täglich die Betten neu beziehn, täglich... weil Mutter es so wollte... der geringste Schmutz war ihr ein Greuel... die Welt wird eines Tages im Dreck ersticken, sagte sie immer... die Menschen ersticken an sich selbst, weil auch sie nur Dreck sind... alles mußte sauber sein, wie in einem Krankenhaus... staublos und keimfrei... eine absolute Klarheit... für 32 Zimmer 8 Leute Personal... auf jedes Zimmer kam ein Viertel Mensch Personal oder... l Mensch Personal auf 4 Zimmer. .. du siehst, Anna, mein mathematisches Hirn funktioniert noch... noch bin ich nicht hinüber... noch nicht...

ANNA: Als ob das jemals einer behauptet hätte...

VIKTOR: Doch, doch... als man mich in Pension schickte... als ich entmachtet wurde... aber beim Aushandeln der Rente funktionierte mein mathematisches Hirn immer noch ganz tadellos...

ANNA: Es ist wunderbar, Viktor, wenn man nichts entbehren muß...

VIKTOR: Man dachte sich: den Tattergreis, den haun wir übers Ohr, den legen wir aufs Kreuz... gehustet! Ich hab die ganze Bande übers Ohr gehaun und aufs Kreuz gelegt. In weiser Voraussicht Transaktionen auf geheime Konten im Ausland... wenn man nicht selber für sich sorgt, wer sorgt dann schon für einen? Habenichtse sind selbst schuld an ihrem Elend. Einem Mann wie mir, mit der Position, die ich einmal hatte, kann man nicht zumuten, im Alter betteln zu gehn.

ANNA: Das hast du wirklich großartig gemacht, Viktor. Ich bin dir ja so dankbar, daß wir nie auf einer Parkbank übernachten müssen oder in einer Klo-a-ke, möglicherweise... wenn man schon nicht mehr ein eignes Dach hat überm Kopf... und stell dir vor, Viktor, wir müßten in stinkenden Abfallkübeln wühlen, vor Hunger... obwohl: Hunger soll irgendwie romantisch sein, hab ich jedenfalls gelesen...

VIKTOR: Ich will nicht, daß du liest. Lesen ruiniert die Augen. Der Schmutz der Welt, der ruiniert die Augen. Und du brauchst sie noch. Du brauchst sie für uns beide... Anna, bist du absolut sicher, daß uns vorhin keiner angestarrt hat... oder nachgestarrt hat?

ANNA: Ja, Viktor. Absolut.

VIKTOR: Wir haben kein Aufsehen erregt?

ANNA: Nein, Viktor.

VIKTOR: Aber... eine Frau mit einem blinden Mann... die erregen immer Aufsehen!

ANN A: Wie soll man wissen, daß du blind bist ? Nur, weil du eine Sonnenbrille trägst? Sonnenbrillen tragen viele Leute... und dann noch zu dieser Jahreszeit... und du bewegst dich vollkommen sicher wie jeder andere, der sehen kann. Auf diese häßliche Armbinde haben wir verzichtet, und mit einem weißen Stock taperst du auch nicht herum. Als ob du ein ordinärer Blinder wärst...

VIKTOR: Vielleicht hängt schon von mir ein Steckbrief im Hotel: Gesucht wird... l, 85m groß, schlank, graues Haar... besonderes Kennzeichen: BLIND. Reist in Begleitung seines Blindenhunds Anna... bei Ergreifung des Verbrechers hohe Belohnung... zehn Millionen, hundert Millionen... Sachdienliche Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.

ANNA: Das ist eine Lüge, wenn jemand behauptet, daß du ein Verbrecher bist. Du! Ausgerechnet du, der du keiner Fliege was zuleide tun kannst. Mein armer Schatz... VIKTOR: SIE haben meinen Steckbrief in der ganzen Welt verteilt... SIE jagen mich erbarmungslos... bis SIE mich zur Strecke gebracht haben... aber es wird IHNEN nicht gelingen ... nie... nie, nie, nie...

ANNA: Du mußt dich schonen…

Leise das Chopin-Thema: Übungen eines Klavierschülers.

VIKTOR: Verfluchte Krankheit... wenn meine Augen mich nicht im Stich gelassen hätten, dann stünde die Partie jetzt unentschieden ... dann könnten wir mit gleichen Waffen kämpfen...

ANNA: Feiglinge sind das, die eine Hetzjagd machen auf einen alten blinden Mann.

VlKTOR flüsternd: Wahrscheinlich haben SIE die Professoren, die mich operierten, bestochen... wahrscheinlich stecken SIE mit denen unter einer Decke... ein lächerliches Glaukom führt doch nicht, mir nichts, dir nichts, zum Erblinden ... warum war die Netzhautübertragung ausgerechnet bei mir erfolglos? Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu... bestochen haben SIE alle Kapazitäten, die wir konsultierten ... weil SIE nicht wollen, daß ich IHNEN in die Karten gucke, daß ich hinter IHRE Schliche komme... Schließ bitte das Fenster, Anna.

ANNA: Es ist so stickig im Zimmer.

VIKTOR: Schließ das Fenster... bitte... ich ertrag dieses Klavierspielen nicht. Du weißt doch, ich konnte Musik nie leiden... und dann diese Stümperei auf dem Klavier...

ANNA: Ein kleiner Junge im Haus gegenüber...

Musik zu Ende.

VIKTOR: Wozu braucht man Musik? Als ob es nicht schon genug Lärm auf der Welt gibt.

ANNA: Es ist Zeit für den Tee. Sollen wir ihn hier trinken oder lieber in der Halle?

VIKTOR: In aller Öffentlichkeit? Bist du wahnsinnig? Wo jeder lauscht, was am Nebentisch geredet wird? Obwohl ... auch hier im Zimmer können wir abgehört werden ... überall wird abgehört in letzter Zeit... du mußt das Zimmer nach versteckten Mikrofonen durchsuchen, Anna... irgendwo sind bestimmt Mi-kro-fo-ne versteckt... Bestell Tee in einer Thermosflasche. Dann gehen wir in den Wald...





6

Eisenbahn



VIKTOR: Ich habe mir immer ein Leben gewünscht ohne Zwischenfälle... ohne diese ständigen Aufregungen... ich hätte so gern das Leben eines Durchschnittsmenschen geführt... im Grunde meines Herzens bin ich einfach und schlicht... Aber was hätte ich denn machen sollen, in meiner Situation: wenn einem die Macht, gewissermaßen, in die Wiege gelegt wird... Hätte ich sagen sollen:, ,Nein, danke!" ? Das wäre... Frevel gewesen... maßloser Frevel... so kann man die Vorsehung nicht verspotten... denn sie hat mich gelenkt, von Anfang an: die Vorsehung... und ich habe die Bürde meiner Ämter auf mich genommen... leicht ist mir das keineswegs gefallen... auf was habe ich nicht alles verzichten müssen... auf das abendliche Bier in der Kneipe an der Ecke... auf verbeulte Cordhosen und ausgefranste Pullover. .. wie gern hätte ich einmal in einer Garküche Hamburgers mit Ketchup gegessen... stattdessen immer eingezwängt in weiße Hemdkragen, verurteilt zur Bügelfaltenexistenz... unters Volk mich begeben konnte ich nur in einem Wagen mit Panzerglas... die kugelsichere Weste wie eine zweite Haut... selbst die Verkleidungskünste eines Harun al Raschid hätten mich nicht in den göttlichen Zustand der Anonymität versetzen können... die beste Tarnkappe ist und bleibt Durchschnittlichkeit... dann ist man sicher vor denen, die Gewalt für das Passepartout halten, das alle Schlösser öffnet. .. Anna, ich habe für alles einen Preis bezahlen müssen, einen hohen Preis... ich habe mit meiner Freiheit bezahlt!

ANNA: Du sprichst von dir. Immer nur von dir.

VIKTOR: Wenn ich Ich sage, meine ich natürlich Wir.

ANNA: Ich bin für dich immer nur ein Anhängsel gewesen. Ein notwendiges Anhängsel, zugegeben. Aber trotzdem: ein Anhängsel. Ebensogut hättest du eine Schönheitskönigin heiraten können, irgend so ein Dummchen, so ein Flittchen... Hauptsache, du hast die Erwartungen der Öffentlichkeit erfüllt.

VIKTOR: Wie kannst du so was sagen, Anna.

ANNA: Weil's die Wahrheit ist. Ich war für dich die Galionsfigur... das Maskottchen... ein Aktivposten in der Bilanz ... Aber die Galionsfigur... das Maskottchen... der Aktivposten will nicht mehr... wenn wir das nächste Mal halten, steige ich aus.

VIKTOR: Ich werde den Schaffner rufen und verbieten, daß der Zug vor der Endstation irgendwo anhält.

ANNA: Dann zieh ich die Notbremse...

VIKTOR: Was ist die nächste Station?

ANNA: Nach dem Fahrplan: Gütersloh.

VIKTOR: Was willst du, zum Teufel, in Gü-ters-loh?

ANNA: Aussteigen. Mehr nicht.

VIKTOR: Gütersloh ist das Ende der Welt.

ANNA: Ich steig aus und verkauf meine Memoiren an eine Illustrierte...

VIKTOR: Mutterseelenallein in Gütersloh...

ANN A: Ich such mir einen Liebhaber, der 25 ist und nicht so ein Schlappschwanz wie du...

VIKTOR: Ich gestehe Versäumnisse ein, aber eine emanzipierte Frau wie du muß dafür Verständnis haben...

ANNA: Du verstehst mich nicht, weil du mich anscheinend nicht verstehen willst... du mußt dich, mir gegenüber, nicht bestätigen als Bock... und du hast ja auch deine Pflicht getan, zum Erhalt der Dynastie, nein, du verstehst mich eben nicht... ich meine diese Fremdheit zwischen uns... diese Lieblosigkeit... diese Kälte...

VIKTOR: Anna... Anna, verlaß mich nicht... sag mir, was du siehst... Kein Funkenflug an den Rädern? Sind die Weichen richtig gestellt? Stehn alle Signale auf Grün?

ANNA: Viktor, du schaffst es immer wieder, daß ich Mitleid mit dir habe. Wie schaffst du das nur?... Wenn die' Liebe vorbei ist, was bleibt übrig? Mitleid. Im besten Fall: Mitleid.

VIKTOR: Im schlimmsten Fall, Anna. Im schlimmsten ...

ANNA: Es war einmal ein reicher Mann... der hatte so viel Macht, daß Köpfe rollten, wenn er nur mit dem Daumen nach unten zeigte... es war einmal ein reicher Mann, der kriegte Gicht in seinen Händen und konnte die Finger nicht mehr bewegen... es war einmal ein reicher Mann, der setzte sich auf den Schoß von seiner Frau... und seine Frau, die fing zu singen an: Hoppe, hoppe, Reiter... wenn er fällt, dann schreit er... fällt er in den Graben, fressen ihn die Raben...



7

Flugzeug


VIKTOR: Man schwört sich: Nie wieder... und tut's trotzdem... weil die Macht der Verhältnisse stärker ist... sag mir, was du siehst...

ANNA: Unter uns nur Wolken... nur Wolken... weiß wie Watte... als ob wir einen Spaziergang über Watte machen würden.

VIKTOR: Keine wimmelnden Ameisen? Kein tobender Mob?

ANNA: Sein Lärm dringt nicht durch die Wolken, Viktor.

VIKTOR: Was, wenn die ganze Menschheit sich zu einem Sprechchor zusammentut?

ANNA: Na, wenn schon... du stellst dich taub, ganz einfach...

VIKTOR: Und die Posaunen von Jericho?

ANNA: Nur eine Legende... Zweckpropaganda.

VIKTOR: Und die umgestürzten Denkmäler?

ANNA: Ach die... die warn schon immer morsch...

VIKTOR: Ja, ja, wenn Kinder schreien, brauchen sie ein Spielzeug.

ANNA: Bravo, Viktor... dafür kriegst du eine Eins... du bist der Klassenbeste... in Geschichte...

VIKTOR: Ich hasse Geschichte... nur Verwesung... Moder...

ANNA: .. in Geschichte kannst du es noch weit bringen, Viktor.. .

Gong. Frauenstimme: ,, Meine Damen und Herren, wir werden in wenigen Minuten landen und bitten Sie, sich wieder anzuschnallen. Danke sehr. "

VIKTOR: Was ist das größte Risiko beim Fliegen? Start und Landung . . . dabei passieren die meisten Unfälle, das weiß jedes Kind . . . ich merke wieder, wie mir der Schweiß ausbricht... mein Hemd klebt auf der Haut... meine Hände werden feucht. . . vielleicht haben SIE die Landebahn blockiert… oder sie haben Helfershelfer an Bord geschleust, die in letzter Sekunde die Landung noch verhindern . . .

ANNA: Ich brauch unbedingt ein paar neue Kleider. . . ich werde mich in Paris von Kopf bis Fuß neu einkleiden . . .

VIKTOR: . . . vielleicht schon eine Pistole an der Schläfe des Piloten. . . und der Kurswechsel bereits befohlen. . . und wir landen in irgendeinem gottverlassenen Wüstenkaff. . .

ANNA: . . . nach der neuesten Mode. . . ich hab kaum noch etwas anzuziehen . . . man verschleißt soviel auf Reisen .

VIKTOR flüsternd: . . . vielleicht sitzen die Entführer mitten unter uns . . . aber warum sind SIE nicht gleich nach dem Star t gekommen? Gewöhnlich kommen SIE doch immer gleich nach dem Start. . .

ANNA: Ich finde, ich sollte wieder mehr Hüte tragen. Ich bin im besten Hutalter. . .

VIKTOR: . . . wahrscheinlich wollten SIE sich erst weiden an meiner Angst. . . auf ein verabredetes Zeichen springen SIE plötzlich auf, Granaten in den Händen . . .

ANNA: Hüte, so groß wie Wagenräder. . .

VIKTOR: ... und die Gesichter haßverzerrt und unrasiert. . .

ANNA: . . . Hüte geben einer Frau in einem gewissen Alter so etwas . . . Geheimnisvolles . . .

Gong. Frauenstimme: ,, Meine Damen und Herren, wir bit­ten Sie, jetzt auch das Rauchen einzustellen. Vielen Dank."

VIKTOR: Handschellen, Anna, Handschellen . . . wenn man allen, die unrasiert sind, Handschellen anlegt, dann gäbe es für uns eine Chance, Anna . . . eine winzige, aber reelle Chance…





8

Schiff



VIKTOR: Einen Vorteil hat das Fliegen unbestreitbar, auch wenn es immer noch gräßlich genug bleibt: Man ist in Sicherheit vor Erdbeben oder... Seebeben... Kommt es mir nur so vor, Anna, oder schlingert das Schiff tatsächlich mehr als sonst?

ANNA: Ganz glatt ist sie nicht, die See. Wir haben Passat, sagte der Kapitän...

VIKTOR: Passat, Passat... verdammte Nußschale... plötzlich heißt es: Frauen und Kinder zuerst in die Boote... du hast es gut, Anna, weil du eine Frau bist.

ANNA: Ich würde meinen Platz an dich abtreten.

VIKTOR: Anna, dieses Opfer würdest du für mich bringen?

ANNA: Ja, Viktor.

VIKTOR: Meine Frau! Wer hat eine Frau wie ich? Ich bin stolz auf dich, Anna.

ANNA: Aber ich würde doch nur meine Pflicht tun, Viktor.

VIKTOR: Deine Pflicht, natürlich, was sonst?... Beobachte den Himmel, Anna... sag mir, was du siehst... gibt es etwas Verdächtiges? Zyklone... Taifune?

ANNA: Keine besonderen Vorkommnisse...

VIKTOR: Bei einem Seebeben sollen die Wellen die Höhe von Wolkenkratzern erreichen... das Schiff wird emporgehoben wie von einer Riesenfaust und in den Abgrund geschmettert ...

ANNA: Seebeben kommen äußerst selten vor, sagte der Kapitän ...

VIKTOR: Einer, der verfolgt wird vom Unglück wie ich, muß jederzeit mit dem Schlimmsten rechnen... und die Tücken des Bermuda-Dreiecks kennt jedes Kind, Anna... und wenn wir den Naturgewalten entrinnen, sind wir noch längst nicht denen entronnen, die eine Hetzjagd machen auf meinen Kopf... vielleicht schicken SIE uns IHRE Flotte hinterher... Kanonenboote... Zerstörer... U-Boote... oder SIE greifen aus der Luft an... starten von einem Flugzeugträger IHRE Bomber... Angriff im Tiefflug... Volltreffer... melde gehorsamst: Versenkt!

ANNA singt : Häschen in der Grube... armer armer Bube...hat ohne Not... Angst vorm Tod... Häschen in der Grube... Warum lernen die Menschen nicht, daß sie... eines Tages... sterben müssen? Das ist doch das Wichtigste, was wir lernen müßten... aber dafür gibt es keine Lehrer und keine Schule...

VIKTOR: Ich will nicht sterben... und ich werde nicht sterben, weil ich nicht sterben will... ich bin unsterblich, Anna... unsterblich...

ANNA: Wir... wir sind alle nur... Krümel auf dem Teppich.

VIKTOR: Das ist De-fä-tis-mus, Anna... darauf steht Standgericht... ich klage an wegen Wehrkraftzersetzung... Feigheit vor dem Feind... Kommando zur Exekution angetreten?. .. F-e-u-e-r!





9

Hotelzimmer


VIKTOR: Was dauert das denn so lange?

ANNA: Ich hab Angst, daß ein Knopf zerbricht. Dein Hemd ist steif wie ein Brett.

VIKTOR: Ich mag keine gestärkten Hemden. Das weißt du genau.

ANNA: Ich hab zu dem Zimmermädchen gesagt, daß die Hemden nicht gestärkt werden sollen.

VIKTOR: Wie ein Leichenhemd fühlt es sich an.

ANNA: Ich hab es ihr extra gesagt. Aber die Wäscherei...

VIKTOR: Verdammte Wäscherei.

ANNA: So... Fertig! Welche Krawatte soll ich dir umbinden?

VIKTOR: Eine, die möglichst unauffällig ist. Am besten ganz kleingemustert.

ANNA: Und welche Farbe?

VIKTOR: Darauf kommt es nicht an. Sie darf nur nicht zu grell sein. Um Himmels willen nicht auffallen.

ANNA: Nehmen wir also die dunkelgrüne... Warum tragt ihr Männer bloß Krawatten? Ihr müßt euch doch vorkommen, als ob ihr einen Strick um den Hals tragt.

VIKTOR: Sprich es nicht aus... sprich es nicht aus!... Oder willst du mich wieder quälen?

ANNA: Ich quäle dich nie, Viktor. Leise Du quälst dich immer nur selbst.

VIKTOR: Meine Weste!

ANNA: Augenblick, der Kragen sitzt noch nicht richtig... so, das hätten wir.

VIKTOR: Wann kommt endlich das Frühstück?

ANNA: Dein Jackett...

VIKTOR: Oder hast du vergessen, es aufs Zimmer zu bestellen?

ANNA: Es steht auf dem Tisch... warte, hier hast du noch eine Fluse... dabei habe ich das Jackett abgebürstet...

VIKTOR: Aber ich hab überhaupt nicht gehört, daß jemand gekommen ist...

ANNA: Es wurde gebracht, als du im Bad warst.

VIKTOR: Warum schleicht man denn hier so herum? Warum klopft man nicht laut an die Tür und wartet ein „Herein!" ab?

ANNA: Du hast es nur nicht gehört. Das Wasser lief gerade in die Wanne ein. Es wurde an die Tür geklopft, und ich rief: „Herein!"

VIKTOR: Hast du dich vorher vergewissert, daß es auch tatsächlich der Etagenkellner war, der an die Tür klopfte?

ANNA: Aber ja, mein Schatz. Ich hab durchs Schlüsselloch gesehn, bevor ich den Riegel beiseiteschob.

VIKTOR: Kein Kerl mit einem Eispickel?

ANNA: Nein, mein Schatz.

VIKTOR: Wenn schon die Kellner auf Zehenspitzen gehen, jawohl, auf Zehenspitzen, wie lautlos und unhörbar wer­den dann erst SIE kommen...

ANNA: Reg dich nicht auf, Viktor. Denk an deine Gesundheit ...

VIKTOR: Uäääh, der Kaffee ist lauwarm... und abgestanden schmeckt er... und irgendwie seltsam bitter... Zyankali, Anna... Arsenik... Rattengift... jetzt haben SIE schon IHRE Agenten in den Hotelküchen... du mußt alles, was ich esse, vorher probieren, Anna... und alles, was ich trinke... ich will es so, ich bestehe darauf... oder ich trete in einen Hungerstreik... und in einen Durststreik...

ANNA: Ich werde vorher alles probieren, mein Schatz... iß jetzt deinen Toast...

VIKTOR: Ich ahne schon, wie der Toast sein wird...

ANNA: Ich hab ihn doch probiert...

VIKTOR: Na bitte, was hab ich denn gesagt? Zäh wie Pappe... und schon wieder diese bittere Orangenmarmelade. Immer müssen sie einem in den Hotels diese widerliche Orangenmarmelade vorsetzen. Als ob es auf der ganzen Welt nur Orangenmarmelade gäbe. Und das Ei, das Ei, natürlich, wieder knochenhart... wir reisen ab, Anna.

ANNA: Ja. Wie du willst.

VIKTOR: Auf der Stelle, Anna.

ANNA: Ja, Viktor.

VIKTOR: Pack sofort die Koffer.

ANNA: Ich hab sie schon gepackt.

VIKTOR: Du bist mein guter Engel. Ja, das bist du, Anna. Was würde ich ohne dich anfangen? Ohne meinen guten Blindenhund Anna?

ANNA: Wenn wir doch wieder unter einem eigenen Dach leben könnten... dein Toast morgens wäre immer schön heiß und knusprig... du könntest wählen zwischen... zwanzig Marmeladentöpfen... und das Frühstücksei... ich würde es viereinhalb Minuten kochen... Kichernd Und du würdest dich wieder jedesmal bekleckern... sollen wir nicht ein neues Haus kaufen?

VIKTOR: Bist du wahnsinnig, Anna?

ANNA: Ein Haus... irgendwo... ganz versteckt...

VIKTOR: Aber SIE finden es... SIE würden es finden ...

ANNA: Am Ende der Welt...

VIKTOR: Auch da spüren SIE uns auf... wenn wir einen festen Wohnsitz haben, dann werden SIE uns finden... dann hätten wir eine Adresse,und SIE würden uns finden... denn SIE besitzen sämtliche Adreßbücher der Erde... wenn wir mobil sind, in Bewegung, gibt es eine Chance... uraltes Geheimdienstrezept ...

ANNA: Wir machen aus unserem Haus eine Festung... wir werden uns verbarrikadieren... wir halten uns eine Privatarmee! Wir verteidigen uns bis zum letzten Bluts-trop-fen... jeder Mensch hat die Pflicht zum Glück... wir haben sie auch, Viktor, wir auch...

VIKTOR: Ein verlorener Krieg, von vornherein... unnötige Materialschlacht... wenn der Sieger feststeht, von vornherein... Sieger würden SIE sein: SIE... laß uns im Untergrund bleiben, Anna... unsere einzige Rettung ist der Guerillakampf... Hast du schon die Rechnung bezahlt?

ANNA: Ja.

VIKTOR: Und die Flüge... sind die Flüge bestellt?

ANNA: Ja.

VIKTOR: Bei diesem Wichtigtuer von der Rezeption?

ANNA: Ja.

VIKTOR: Zweimal... Rio?

ANNA: Ja.

VIKTOR: Gut... gut so... dann nehmen wir das Schiff nach Tokio... wir können dann in aller Ruhe das Schiff nach Tokio nehmen.

ANNA: Ja.

VIKTOR: Hauptsache, wir haben unsere Spuren verwischt ... wir müssen SIE abhängen... und wir werden SIE abhängen...

ANNA: Ja, Viktor.



Köln, Januar 1979



(Gedruckt in: Niels Höpfner, Die Hintertreppe der Südsee. Köln: Braun 1979; Ursendung: 23.10.1979 / Sender Freies Berlin)



© by the Author, 2005



VOM SELBEN VERFASSER:


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