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6. September 2003,   Neue Zürcher Zeitung

«Eine sehr denkwürdige Lection der Menschheit»

Wie aus dem Fälscher Thomas Chatterton eine Legende wurde

Er war ein Fälscher, ein Schwindler und ein Dichter. Er schrieb als Schulknabe mittelalterliche Gedichte, die er als Entdeckungen ausgab. Noch keine 18 Jahre alt, vergiftete er sich in London mit Arsen. Thomas Chattertons Schicksal ist seit der Romantik immer wieder als Tragödie eines jungen, verkannten Genies verklärt worden.

Von Jürgen Heizmann

Am Abend des 12. Februar 1835 haben sich alle Berühmtheiten der Pariser Kulturszene im Théâtre-Français versammelt. George Sand, Balzac, de Musset, Lamartine, Sainte-Beuve, Berlioz, der erst dreizehnjährige Maxime du Camp: Alle sind sie da. In den vier Ehrenlogen die gesamte Julimonarchie, im Parterre die langhaarige, bleichgesichtige und exaltierte Jugend, berauscht von Kunst, Leidenschaft, Poesie.

Es ist die Zeit, in der sich auch auf den französischen Bühnen die Romantik gegen die erstarrten Formen der Pseudoklassik durchzusetzen beginnt. Gegeben wird an diesem Abend das neueste Stück Alfred de Vignys: die auf wahren Begebenheiten fussende Tragödie eines englischen Dichters, Thomas Chatterton, der, blutjung und bettelarm, in einer engen, schäbigen Dachstube hausend, an der Ignoranz seiner Zeit verzweifelt und sich mit Arsenikpulver vergiftet.

Die letzte Szene: Kitty, die junge Frau des hartherzigen, für alles Geistige unempfänglichen Industriellen John Bell, bei dem Chatterton zur Miete wohnt, entdeckt den toten Dichterjüngling. Schrecken und Schmerz spiegeln sich in ihrem dem Publikum zugewandten Gesicht. Mit einem Aufschrei, die Hände um das Geländer gekrallt, gleitet, wankt, taumelt sie die Treppe hinunter und stürzt tot zu Boden. Erstickende Stille im Saal. Dann bricht stürmischer Beifall los, die Frauen schwenken ihre verheulten mouchoirs, aus einer der Königslogen wird ein Blumenbukett geworfen. Als in dem frenetischen Lärm der Name des Autors ausgerufen wird, reisst es alle von den Plätzen. Zehnminütige stehende Ovationen setzen ein, das Théâtre-Français tobt.

Mit seinem «Chatterton» triumphiert de Vigny endlich auf der Bühne. Unvorstellbar die Reaktionen, die das Schicksal des verkannten englischen Dichters beim französischen Publikum auslöst. Mit Tränen im Gesicht verlässt George Sand das Théâtre-Français; allein, da sie zu aufgewühlt ist, um mit jemandem zu sprechen. Kaum anders geht es ihrem Ex-Geliebten Alfred de Musset, der nach der Aufführung in einem Brief schreibt: So verdorben, so blasiert, so abgestumpft sie seien, de Vigny habe ihnen gezeigt, dass sie noch weinen könnten. Der Jüngling Maxime du Camp ist von der Aufführung so ergriffen, dass er in Ohnmacht fällt. Du Camps Jugendgenosse Flaubert, so berichtet dessen Geliebte Louise Colet in ihren Memoiren, habe auf dem angesehenen Collège Royal in Rouen ständig einen Dolch unter dem Hemd getragen «für den Fall, dass er sich entschliessen würde, Chattertons visionärem Weg in einen frühen Tod zu folgen».

De Vigny gab mit seinem Drama (dem er kein weiteres folgen liess) der Imago vom idealistischen, hungernden Mansardenkünstler in einer rohen Welt konzisen Ausdruck und verhalf dem englischen Poeten damit zu internationalem Ruhm. Bis heute kennen nur sehr wenige Menschen auch nur ein einziges Gedicht von Chatterton, sein Leben, umgeschrieben zum archetypischen romantischen Mythos, stellt sein Schaffen ganz in den Schatten, wurde zu seinem grössten Kunstwerk. Leben und Tod Chattertons sind tatsächlich ausserordentlich, sie geben das verhängnisvolle Modell des romantischen Dichters ab: jung, arm und stolz, ein halb wahnsinniges, verkanntes und im Selbstmord endendes Genie.

Fundstücke aus dem Mittelalter

Thomas Chatterton wurde 1752 in Bristol geboren, wo er ohne Vater in elenden Verhältnissen aufwuchs. Schon als Kind faszinierte ihn der gotische Dom St. Mary Redcliffe, zu dem die Familie Chatterton (der Vater war Küster gewesen) freien Zutritt hatte. Einige im Archivraum der Kirche gefundene alte Schriftstücke regten den Zehnjährigen an, sich in das Studium der Vergangenheit zu stürzen, insbesondere der Geschichte Bristols. Er las aber auch Shakespeare, Milton und Chaucer, oft im entrückenden Dämmerlicht des Domes. Noch während er die Armenschule Colston Hospital besuchte, begann er selbst Gedichte und Satiren zu schreiben. Während seiner öden Lehrzeit als Schreibhilfe in einer Rechtskanzlei verfasste er in einer aus Literaturkenntnis und Phantasie kreierten eigenen, altenglisch wirkenden Sprache Urkunden und Gedichte, die er angeblich in der Kirche St. Mary Redcliffe entdeckt hatte. Es gelang ihm, manches davon zu veröffentlichen und Kontakt zu einigen Bürgern Bristols herzustellen, dilettierenden, ruhmsüchtigen Altertumsforschern, die den Knaben für seine «mittelalterlichen Fundstücke» mit Trinkgeldern abspeisten. Im Alter von fünfzehn Jahren erfand er Thomas Rowley, einen Mönch des 15. Jahrhunderts, den er zum Freund und protegierten Hauspoeten einer historischen Figur machte: William Canynge, wohlhabender Kaufherr und fünfmaliger Bürgermeister Bristols, der in St. Mary Redcliffe mit zwei imposanten Monumenten verewigt ist. In eigener Sprache und eigenem Versmass schuf Chatterton in Gedichten, Epen und Briefen um Rowley und Canynge einen Sagenkreis, eine Architektur und eine heroische Vergangenheit «Bristowes». Seine Gönner gingen dieser Geschichtskonstruktion gern auf den Leim. Der Jüngling verfasste auch blutrünstige rhapsodische Gesänge in Form und Manier Ossians: eine andere berühmte Fälschung des 18. Jahrhunderts.

Auf der Suche nach Patronage schickte Chatterton im März 1769 einige Texte Rowleys an den als mittelaltersüchtig bekannten Horace Walpole. Man wusste, dass Walpole alte Kunstwerke sammelte und seit 1751 seine Villa Strawberry Hill in einem märchenhaften Stil umbauen liess, den er für «gothic» hielt. 1764 hatte Walpole, hinter der Maske eines vorgeblichen Übersetzers, den Roman «The Castle of Otranto» herausgebracht, den er mit folgender Vorrede einleitete: «Das folgende Werk fand sich in der Büchersammlung eines alten katholischen Geschlechts, im nördlichen Teile Englands. Es ward im Jahr 1529 in Mönchsschrift in Neapel gedruckt. Wie viel früher es geschrieben worden, ersieht man nicht.» Da sich die Geschichte um ein unheimliches Schloss mit unterirdischen Gängen, wandelnden Gerippen und aus Bildern steigenden Rittern als äusserst erfolgreich erwies, gab sich Walpole in der zweiten Auflage als Autor zu erkennen. Mit diesem Werk wurde das Genre der gothic novel geboren.

Walpole reagierte auf Chattertons erste Sendung begeistert, wobei er einräumte, Schwierigkeiten mit der alten Sprache zu haben. Als Walpoles Berater jedoch die nächsten Rowley-Manuskripte als Fälschungen entlarvten, der Autor und Sammler zudem erfuhr, bei dem Absender handle es sich um einen sechzehnjährigen Lehrburschen, liess er Chatterton sofort fallen.

Dieser fand bei seinen Gönnern in Bristol hingegen keine Anerkennung als Autor (sie glaubten bis zuletzt an den Mönch Rowley) und nahm Ende April 1770 die Tageskutsche nach London, um dort literarische Karriere zu machen. Zwar gelang es ihm, einige Burlesken und politische Satiren zu veröffentlichen, aber seine hochfliegenden Pläne liessen sich offenbar nicht verwirklichen. Am 24. August 1770 vergiftete er sich mit Arsenikpulver in jener schäbigen Dachkammer, die er in der Brooke Street 39 im verrufenen Stadtteil Holborn bewohnte. Er war noch nicht einmal achtzehn Jahre alt. Als man ihn am nächsten Nachmittag fand, war der Fussboden mit Fetzen zerrissener Manuskriptseiten übersät. Es wurde nicht eindeutig geklärt, ob es sich um einen Selbstmord handelte oder um eine versehentliche Überdosis bei dem Versuch, eine Geschlechtskrankheit zu kurieren. Chattertons Leichnam wurde in einem gemauerten Loch auf dem Begräbnisplatz eines Arbeitshauses beigesetzt und möglicherweise kurz darauf einem Leichenhändler übergeben. Junges Fleisch war damals in den Anatomietheatern eine begehrte Ware. Die mysteriösen Umstände seines Todes sollten wesentlich zur Mythisierung des «Barden aus Bristol» beitragen.

Hilfe, oder ich töte mich!

Chattertons Leben wurde einem grösseren Publikum zuerst bekannt durch Herbert Crofts 1780 erschienenes und heute völlig vergessenes Buch «Love and Madness», ein auf der sensationellen Erfolgswelle von Goethes «Werther» mitschwimmender Briefroman, der sich den Liebesmord des Pfarrers James Hackman an der populären Schauspielerin Martha Reay zum Thema nahm. Croft hatte für eineinhalb Guineen der Schwester und der Mutter Chattertons dessen Briefe aus London abgeluchst, in der Metropole weitere Nachforschungen angestellt und fügte seinem Opus eine 120-seitige Passage über Chattertons Tage in London bei. Literarisch motiviert war das kaum, aber alle folgenden Biographien stützten sich auf diese Quelle, und indirekt war Chatterton nun auch mit dem unglücklichen Werther in Verbindung gebracht.

Kaum überraschend, dass die gegen Ende des 18. Jahrhunderts entstehende romantische Bewegung in England den Jüngling aus Bristol sofort adoptierte. Er wurde nun zum genialen, aber unverstandenen Musensohn, der sein Leben für die Kunst opferte. Coleridge¹ errichtete ihm 1794 ein Denkmal mit seiner «Monody on the Death of Chatterton», seinem ersten veröffentlichten Gedicht überhaupt, das er sein ganzes Leben hindurch überarbeitete. Wordsworth verherrlichte ihn als «den Wunderknaben / die ruhelose Seele, die starb in ihrem Stolz». Keats, selbst eine tragische Künstlerfigur, widmete seine im Wettstreit mit Shelley entstandene Verserzählung «Endymion» dem Andenken Chattertons, und kurz vor seinem eigenen Tod, im Alter von sechsundzwanzig, beklagte er das frühe Ende Chattertons:

O Chatterton! Wie wehmütig dein Los! Du Sorgenkind - du lieber Unglückssohn!

Alfred de Vigny wurde mit Chattertons Schicksal durch Charles Nodier bekannt, der von 1809 bis 1811 Herbert Crofts Sekretär gewesen war. De Vigny gestaltete den Stoff zuerst in dem philosophischen Roman «Stello», der anhand dreier Dichterschicksale (Chatterton stellt den zweiten Fall dar) den ewigen Gegensatz zwischen Künstler und Gesellschaft zu zeichnen versucht. Der Roman blieb ohne grosses Echo. Das Drama hingegen wurde wohl deshalb zum Erfolg, weil de Vigny den Engländer zu einem äusserst noblen, ja heiligen Charakter modellierte und eine frei erfundene Liebesgeschichte zwischen dem Poeten und der jungen Ehefrau Kitty Bell einbaute. Das Aufsehen, das de Vignys «Chatterton» erregte, ist mit dem des «Werther» vergleichbar. Wie Goethe wurde der Franzose der Verherrlichung des Selbstmords beschuldigt. Nach der Premiere gab es tatsächlich Selbstmordfälle, die die Tendenz des Dramas zu bestätigen schienen. Der Innenminister Thiers erhielt täglich Briefe von verkannten Genies mit dem Inhalt: Hilfe, oder ich töte mich! Den Herzog Landry bewog das Stück, zur Unterstützung junger Dichter alle zwei Jahre einen Preis von 1500 Francs zu vergeben. Auch die Oper entdeckte Chatterton. Leoncavallo, der 1892 mit «I Pagliacci» von Turin aus einen Siegeszug um die Welt antrat, nahm de Vignys Stück als Vorlage für sein erstes, 1876 entstandenes, aber erst 1896 in Rom aufgeführtes Musikdrama.

Die Figur Chatterton blieb nachhaltig verbunden mit der Vorstellung vom verkannten, an den Rand der Gesellschaft gedrängten Dichter. So versicherte Albert Camus 1957 in seiner Nobelpreisrede, Chatterton sei die beste Illustration für das Thema des poète maudit in einer kapitalistischen Gesellschaft. Auch in die Gefilde der Popmusik drang diese Reputation vor. Das Enfant terrible Serge Gainsbourg² nahm 1967 in den Londoner Chappell Studios, es war die Zeit der Carnaby Street und neuer proletarischer Dandys wie Ray Davis und Brian Jones, den Song «Chatterton» auf, in dem er den Dichter in eine Reihe mit van Gogh, Nietzsche und Goya stellt. Mick Harvey, Mitglied der Post-Punk-Gruppe Bad Seeds, spielte den Song 1995 ein.

Schattenland

Modernistische Klangwelten tun sich in Matthias Pintschers 1998 an der Dresdener Semperoper uraufgeführtem Musikdrama «Thomas Chatterton» auf. Den Komponisten interessierte an dem Stoff nach eigener Aussage «das Scheitern eines überproduktiven jungen kreativen Menschen, der seine Kräfte und Begabungen nicht zu kanalisieren vermochte und durch die Flucht in seine zweite, selbst geschaffene Bewusstseinsebene, die mit der Realität zunehmend unvereinbarer wird, schliesslich zu Fall kommt». Das Changieren zwischen Wirklichkeit und Imagination drückt sich in einer Musik aus, in der kahle, lang ausschwingende Klangfelder mit plötzlich ausbrechenden Stakkati, dunkel brodelnde Tuttiblöcke mit lichten Streicherpassagen abwechseln.

Als Vorlage diente Pintscher Hans Henny Jahnns Tragödie «Thomas Chatterton», die am 26. April 1956 am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg unter der Regie von Gustaf Gründgens uraufgeführt wurde. Die Lebenschronik des englischen Dichters brachte Jahnn, dessen Stücke nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch selten zu sehen waren, einen Achtungserfolg. Sie ist auch das spielbarste Drama Jahnns: keine Kastrationen, keine Foltern, keine Sodomie, und die homosexuellen Szenen erscheinen im Milieu englischer Lehranstalten, wo die Knaben oft zu zweit und zu dritt in einem Bett schlafen mussten, weniger aufgesetzt als in den avantgardistischen Rasereien früherer Stücke des Hamburger Autors. Eine Grundkonstellation in Jahnns ÂŒuvre scheint dennoch auch in diesem Spätwerk durch: der Traum von einer Gegenwelt, die von jungen Menschen errichtet wird. Im Gegensatz zu de Vigny und den sentimentalen Biographen zeichnet Jahnn seinen Helden als faszinierenden und genialischen, aber auch egoistischen und grausamen Menschen. Das Erhabene suchend, zerstört Chatterton das Menschliche. Er bricht Freundschaften ab, wird seiner Mutter ein Fremder. Das Leben, so zeigt das Stück, ist für Kreative und Begabte nicht lebbar. Im Todeskampf schreit Chatterton: «Die Schmerzen - unaushaltbare Schmerzen - wer hat die Schmerzen erfunden? Wer hat diese höllische Wirklichkeit gemacht?»

Angeregt durch Jahnns Drama, schrieb der DDR-Autor Johannes Bobrowski 1955 eine Ode auf Chatterton. In fast allen seinen Texten beschwört Bobrowski seine verlorene Heimat im europäischen Nordosten, die Landschaft zwischen Weichsel und Don, das antike Sarmatien. Der Begriff «Schattenland» im Titel des Bandes, der das Widmungsgedicht enthält, verweist auf die geisterhafte Fortexistenz der untergegangenen Welt in Versen. Chatterton ist für den ostdeutschen Dichter ein Geistesverwandter, denn auch der Engländer besang ein Schattenland, sein erträumtes «Bristowe». Richtig beginnt die Ode denn auch mit der feierlichen Beschreibung von St. Mary Redcliffe, denn an dieser Kirche entzündete sich die Phantasie des Knaben, sie ist Zeugin der Vergangenheit. Das Gedicht ist aber auch Klage um die Vergeblichkeit dieser Art dichterischen Schaffens: «Nie mehr nahte, da er es rief, das Alte.»

Dass Chatterton in Deutschland erst im 20. Jahrhundert zum Thema ernsthafter künstlerischer Werke avancierte, ist überraschend. Immerhin schenkte Herder bereits 1800 in seiner Rezension einer Anthologie englischer Literatur dem «Mozart der Dichtkunst» seine besondere Sympathie: «O dass der kalte Horaz Walpole, der den Jüngling bey seiner vorhabenden Täuschung des Publikums vornehm von sich stiess, genealischer gefühlt, ihn bey der Hand ergriffen und gefahrloser in die Welt eingeführt hätte! Dadurch wäre ein Genie gerettet worden . . . Nun ist Chatterton eine poetische Rakete, die glänzend emporstieg, um schnell zu sinken; sein Leben aber bleibt eine sehr denkwürdige Lection der Menschheit.»

Eine Lektion, die im 19. Jahrhundert, abgesehen von England und Frankreich, in Italien, Polen, den Niederlanden und Portugal als künstlerischer Stoff aufgegriffen wurde, in Deutschland jedoch erst 1928 in Ernst Penzoldts Roman «Der arme Chatterton» literarische Gestalt bekam. Chatterton erscheint in dem Roman als Schelm und träumendes Wunderkind in einer Welt schrulliger, biederer und selbstherrlicher Bürger. Wie bei manchen Figuren Thomas Manns hat Chattertons Künstlertum etwas Fragwürdiges, Clowneskes, doch zeigt Penzoldt zugleich die Komödie, die wir uns alle im Leben vorspielen, nicht nur den anderen, auch uns selbst. Für Chattertons Versuche in London, sich durch Zeitungsarbeiten sein Brot zu verdienen, zeigt der Erzähler wenig Interesse, denn was vorher Spiel und Wunder war, soll nun Ernst und Erwerb werden. Mit dem Verstummen der Stimme Rowleys, so die romantische Suggestion des Romans, verliert Chatterton seine kindliche Begabung.

Eine schöne Leiche

Die letzte grössere literarische Veröffentlichung zum Thema ist der 1987 erschienene Roman «Chatterton» des Briten Peter Ackroyd: ein Werk, das als Musterbeispiel für Intertextualität dienen könnte, denn es vereint verschiedene, anspielungsreiche Geschichten und bekannte Zitate um die Figur Chatterton und das Thema «Fälschung». Der Roman wurde in Verbindung mit dem Poststrukturalismus gebracht, weil er herkömmliche Vorstellungen von Authentizität und historischer Wahrheit in Frage stellt und geschichtliche Erinnerung ebenso wie die Gegenwart als ein Reich der Imitationen und Täuschungen präsentiert.

Eine wichtige Rolle in Ackroyds Roman spielt Henry Wallis' Gemälde des toten Chatterton. Wallis' heute in der Tate Gallery hängendes Bild wirkt, dank der Verführungskraft des Visuellen, von den inzwischen in die Hunderte gehenden künstlerischen Adaptionen des Chatterton-Stoffes am nachhaltigsten. Das 1856 vollendete Ölgemälde zeigt den auf seinem Bett ausgestreckten toten Dichter in seiner Dachstube, auf dem Boden zerfetzte Manuskriptseiten und die Giftampulle. Aus dem von Krämpfen verzerrten Chatterton, den man am 25. August 1770 in der Brooke Street 39 fand, wurde die schöne Leiche eines engelhaften Jünglings, eine literarische Pietà. Dass Wallis, für den als Maler der präraffaelitischen Schule Wahrhaftigkeit sehr wichtig war, sein Bild - wie oft behauptet wird - in Chattertons Dachstube gemalt hat, ist höchstwahrscheinlich eine weitere der vielen Romantisierungen in dieser Geschichte. Da es von Thomas Chatterton kein Porträt zu Lebzeiten gibt, hat sich im kollektiven Gedächtnis die Figur auf dem Gemälde als Abbildung des Dichters bewahrt. In Wahrheit lag dem Maler George Meredith Modell, seinerzeit selbst ein gegen Armut und Erfolglosigkeit ankämpfender Autor. Obwohl Meredith gegen Ende seines Lebens doch noch Anerkennung als Schriftsteller fand, verblasste sein Ruhm sehr schnell. Als Darsteller des toten Chatterton wird er jedoch noch lange in Erinnerung bleiben. Das Verwirrspiel von Legende und Wirklichkeit erreicht mit diesem Bild seinen Höhepunkt. Meredith dient als Modell für die Gestaltung Chattertons als Modell des tragischen Genies. «Der grösste Realismus», heisst es in Ackroyds Roman, als Meredith seine Pose einnimmt und der um Echtheit bemühte Wallis Papierfetzen auf dem Boden verstreut, «ist gleichzeitig die grösste Fälschung.»




¹Samuel Taylor Coleridge

Monody on the Death of Chatterton

 

1790

[first version, in Christ's Hospital book - 1790]

 

      Cold penury repress'd his noble rage,

      And froze the genial current of his soul.

 

Now prompts the Muse poetic lays,

And high my bosom beats with love of Praise!

But Chatterton! methinks I hear thy name,

For cold my Fancy grows, and dead each Hope of Fame.

 

When Want and cold Neglect had chill'd thy soul,

Athirst for Death I see thee drench the bowl!

Thy corpse of many a livid hue

On the bare ground I view,

Whilst various passions all my mind engage;

Now is my breast distended with a sigh,

And now a flash of Rage

Darts through the tear, that glistens in my eye.

 

Is this the land of liberal Hearts!

Is this the land, where Genius ne'er in vain

Pour'd forth her soul-enchanting strain?

Ah me! yet Butler 'gainst the bigot foe

Well-skill'd to aim keen Humour's dart,

Yet Butler felt Want's poignant sting;

And Otway, Master of the Tragic art,

Whom Pity's self had taught to sing,

Sank beneath a load of Woe;

This ever can the generous Briton hear,

And starts not in his eye th'  indignant Tear?

 

Elate of Heart and confident of Fame,

From vales where Avon sports, the Minstrel came,

Gay as the Poet hastes along

He meditates the future song,

How aella battled with his country's foes,

And whilst Fancy in the air

Paints him many a vision fair

His eyes dance rapture and his bosom glows.

With generous joy he views th'  ideal gold:

He listens to many a Widow's prayers,

And many an Orphan's thanks he hears;

He soothes to peace the care-worn breast,  

  

He bids the Debtor's eyes know rest,

And Liberty and Bliss behold:

And now he punishes the heart of steel,

And her own iron rod he makes Oppression feel.

 

Fated to heave sad Disappointment's sigh,

To feel the Hope now rais'd, and now deprest,

To feel the burnings of an injur'd breast,

From all thy Fate's deep sorrow keen

In vain, O Youth, I turn th'  affrighted eye;

For powerful Fancy evernigh

 

The hateful picture forces on my sight.

There, Death of every dear delight,

Frowns Poverty of Giant mien!

In vain I seek the charms of youthful grace,

Thy sunken eye, thy haggard cheeks it shews,

The quick emotions struggling in the Face

Faint index of thy mental Throes,

When each strong Passion spurn'd controll,

And not a Friend was nigh to calm thy stormy soul.

 

Such was the sad and gloomy hour

When anguish'd Care of sullen brow

Prepared the Poison's death-cold power.

Already to thy lips was rais'd the bowl,

When filial Pity stood thee by,

Thy fixéd eyes she bade thee roll

On scenes that well might melt thy soul -

Thy native cot she held to view,

Thy native cot, where Peace ere long

Had listen'd to thy evening song;

Thy sister's shrieks she bade thee hear,

And mark thy mother's thrilling tear,

She made thee feel her deep-drawn sigh,

And all her silent agony of Woe.

 

And from thy Fate shall such distress ensue?

Ah! dash the poison'd chalice from thy hand!

And thou had'st dash'd it at her soft command;

But that Despair and Indignation rose,

And told again the story of thy Woes,

Told the keen insult of th' unfeeling Heart,

The dread dependence on the low-born mind,

Told every Woe, for which thy breast might smart,

Neglect and grinning scorn and Want combin'd -

Recoiling back, thou sent'st the friend of Pain

To roll a tide of Death thro' every freezing vein.

 

O Spirit blest!

Whether th'  eternal Throne around,

Amidst the blaze of Cherubim,

Thou pourest forth the grateful hymn,

Or, soaring through the blest Domain,

Enraptur'st Angels with thy strain, -

Grant me, like thee, the lyre to sound,

Like thee, with fire divine to glow -

But ah! when rage the Waves of Woe,

Grant me with firmer breast t'oppose their hate,

And soar beyond the storms with upright eye elate!

  


²Serge Gainsbourg

Chatterton


Chatterton suicidé
Hannibal suicidé
Démosthène suicidé
Nietzsche fou à lier
Quant à moi
Quant à moi
Ça ne va plus très bien

Chatterton suicidé
Cléopatre suicidé
Isocrate suicidé
Goya fou à lier
Quant à moi
Quant à moi
Ça ne va plus très bien

Chatterton suicidé
Marc-Antoine suicidé
Van Gogh suicidé
Schumann fou à lier
Quant à moi
Quant à moi
Ça ne va plus très bien