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ZSCHOKKE- Ein sanfter Rebell. Die singende Kommissarin

Die singende Kommissarin



Früher, etwa in den späten Siebzigern, hatte sie als "Die singende Kommissarin mit ihren swingenden Vopos" Kultstatus und feierte Riesenerfolge. Die Band jedoch löste sich auf -aus welchen Gründen auch immer- und verschwand aus der Berliner Clubszene. Was blieb, sind Erinnerungen.

Silvesterabend. Die ehemalige singende Kommissarin Vera Bergfeld hat Stallwache im Berliner Polzeirevier/ Abschnitt 32. Ein lokaler Rundfunksender strahlt heute von hier seine Live-Sendung "Ohr vor Ort" aus. Der unsichtbare Radiomoderator animiert die Kommissarin, zu singen und zu erzählen. Dafür ist der Raum reichlich mit Mikrophonen ausgestattet worden, was die Protagonistin anfangs ziemlich irritiert: "Erzählen?... Was soll ich Ihnen sagen? Da ist nichts. Um diese Zeit. Da ist es immer eher ruhig, ganz besonders ruhig."

Und es bleibt den ganzen Abend ruhig, bis auf zwei kleinere Störungen durch den "Abschnittsgeschäftsführer", der Probleme mit den "Gleitzeiterfassungsbögen" hat, und einen Betrunkenen. Viel Zeit für die Kommissarin zum Nachdenken über sich, übers Leben. Allmählich geht die Realität über in einen (Alp-)Traum, ihre Lieder von damals tauchen auf... Eher monologisierend beginnt die Kommissarin zu erzählen, auch seltsame Schnurren, mit denen sie wohl kaum die Erwartungen des Radiopublikums erfüllt:

 

Judy Winter & Gerd Wameling in der Berliner Uraufführung

 

"Was will ich auf dem Land?! Das habe ich mich während der ganzen Rückreise gefragt. Ich liebe das Berliner Abwassersystem, wie ich das Berliner Trinkwassersystem liebe. Ich liebe die Bäume hier, die mir vom Leib bleiben, schön und einsam und hochgewachsen, jeder einzelne mit Namen, hier eine Platane, dort eine Linde, da eine Kastanie, nein, sicher, es war zauberhaft, traumhaft, der See so klar und jugendschön, das Ufer, an das kichernd die Wellen schlugen, herrlich in der Erinnerung, aber entsetzlich, wenn ich daran denke, dorthin zurück zu müssen. Schön, eine Sehnsucht zu haben, aber ich bleibe wirklich lieber hier. Ich liebe die Busse und die Bahnen, die hier verkehren, ich verstehe hier die Sprache des Alltags, manchmal scheint sogar die Sonne, die Straßen sind breit und die Bürgersteige verläßlich, der Mond leuchtet durch die Nächte wie anderswo, die Straßenlaternen sind hell, wir haben elektrischen Strom und Gas, die Krematorien verbrennen rückstandsfrei, die Konditoren backen bißfest - was will ich auf dem Land?! Ich brauche die Stadt, hier ist mir wohl, hier weiß ich, wie ich über die Straßen komme, hier habe ich Bekannte, mit denen ich mich treffe einmal wöchentlich bei unserem Italiener, Franco, dann sitzen wir da, über dem Tisch der Luftabzug für die Küche, es stinkt nach altem Öl, manchmal wird einem von uns schlecht, draußen am Fenster ziehen die Einwanderer vorbei, müde, aber noch ganz... Wir reden über Politik, übers Leben, über Liebe, über Geld, über den Grund aller Dinge, wobei es regelmäßig demjenigen, der das Wort ergreift, mitten im Satz die Rede verschlägt; dann winkt er ab, voller Verachtung, weil er den Gedanken, den er eben noch im Kopf hatte, nicht mehr in Worte fassen kann; wir trinken Wein, Soave oder Valpolicella, sauer und bitter, wunderbar. Manfred ist beim Finanzamt. Er sinkt Abend für Abend in sich zusammen am Tisch, sitzt tief nach vorne gebeugt über dem Teller, wird fahl im Gesicht, die Bartstoppeln über der Lippe glitzern, wunderschön. Er ist dick geworden in letzter Zeit. Wir umarmen uns jeden Abend zur Begrüßung und zum Abschied. Dazu fassen wir uns um die Hüften. Darum weiß ich, wie dick er ist. Ich fasse ihn gern dort an, die Wülste lösen in mir das warme Gefühl von Geborgenheit aus, und er faßt mich auch dort an, und ich erstarre. Es geht das Gerücht, wir seien Versager. Ich hoffe, das ist nichts Schlimmes. Wir sitzen einfach da, halten die entblößten, faltigen Hälse ins Neonlicht und warten darauf, daß sie aufgebissen werden. Franco kennt uns. Er bringt unaufgefordert das Übliche. Ein abscheulicher Ort: kleine Mückchen fliegen das ganze Jahr über um den Wein - im Sommer kommen Wespen hinzu. Die Küche ist schändlich. Wenn's geht, esse ich Rührei - das müssen sie frisch machen - aber immer Rührei, das ist widerwärtig. Einige Male machten wir den Versuch, das Lokal zu wechseln - nichts als infame Umstände. Wir kamen immer zurück. Es liegt günstig für uns, und das Publikum, das dort verkehrt, stößt sich nicht daran, wenn wir nachlässig gekleidet sind. Wir haben uns in der Garderobenfrage für die Bequemlichkeit entschieden - das steht nicht jedem. Wir sitzen einfach da, einmal die Woche, trinken und essen - man muß Kontakte pflegen - unbedingt -, manchmal erzählt einer etwas, wir Versuchen zuzuhören oder doch so zu wirken; wir gucken so interessiert wir können, was uns anstrengt; wenn uns die Pausen lang vorkommen, rufen wir: Nein! Sowas! und wir vermeiden es, uns gegenseitig zu lang in die Augen zu schauen. Irmchen ist Schauspielerin. Die mit der Computergeschichte. Letztes Jahr hat sie eine Rolle in Karlsruhe gespielt. Es muß fürchterlich gewesen sein für sie. Lange hat sie überhaupt nicht davon gesprochen. Nur in Andeutungen. Nie mehr Körperkontakt mit Kollegen! sagte sie, oder: Am besten überhaupt keinen Kontakt mit Theaterleuten, keine Proben, nichts! Offenbar hatte man sie gezwungen, sich ein Haarteil zwischen die Augenbrauen zu kleben, damit es so aussah, als seien sie zusammengewachsen, ohne Erklärung, nur weil es dem Direktor so gefiel. Außerdem scheint ihr Partner entsetzlich gestunken zu haben. Angstschweiß, sagten wir. Sie beharrte darauf, er sei ungewaschen gewesen. Und darum in den Vertrag: Maximalnähe zum Partner neunzig Zentimeter! Bühnenkleidung aus dem Privatbesitz! Darauf bestehen! Dieses modrige, ungewaschene Schmuddelzeug - Kostüme, wie sie es nennen - verweigern! Vor jedem Auftritt einen Knaben mit Parfümzerstäuber über die Bühne jagen! In den Vertrag! Parfümmarke festlegen - sie haben keinen Geschmack -, Kostenübernahme durchs Theater! Rein in den Vertrag! Unglaublich, wie das stinkt! Ihr macht euch keine Vorstellung: Schauspielerschweiß aus dritter und vierter Generation in den Schmierlumpen!

Die Kommissarin mit Feuerwerk: Schlußtableau der Berliner Uraufführung


Sogenannter Bühnengeruch, von verstorbenen Kollegen! Todesschweiß! Leichengeruch! Und sie strengen sich so furchtbar an, sie pressen so, ihr macht euch keine Vorstellung, wie das heute zugeht auf Bühnen! Fratzenreißer! Krampfzustände! Wenn sie sich ruckartig bewegen, werdet ihr vollgespritzt von Schweiß! Sie triefen! Abstand in die Verträge! Bei Proben noch schlimmer, unbeschreiblich! Da kennen sie überhaupt keine Hemmungen mehr, die Kollegen, fallen über dich her, ziehen und zerren an dir rum, spucken und lecken! Ausprobieren nennen sie das! Methode! Alle Scheu abwerfen voreinander! Angstfrei ausloten! Mal sehen, was sich ergibt! Nichts ergibt sich, nichts! Wie im Leben, nichts! Wenn man sich an einen wildfremden Menschen ranschmeißt, ergibt sich nichts, eins aufs Maul ergibt sich. Widerwärtige Schamlosigkeit, als Freiheit deklariert! - Abstand, Ruhe, Freiraum in den Vertrag! Einsamkeit, Unbehelligtsein! Schutz vor den schmierigen Frotteuren, die sich an ihren Kollegen reiben, wenn keiner hinguckt! Überhaupt: Nie mehr Bühne! Es ist unwürdig! Mit zusammengeklebten Augenbrauen! Ich bitte euch! Was sind das für Menschen, die das veranstalten! Sogenannte Intendanten! Verpflichten ein paar Hungerleider, ihnen die Zeit zu vertreiben. Fühlen sich einsam und leisten sich darum persönliche Unterhalter, vom Staat bezahlt! Rein in den Vertrag: Regieanweisungen schriftlich, per Kurier zugestellt! Ausweichen den Schwätzern! Probezeit nur noch für technische Abläufe!... Sie war ganz schmal geworden, eindeutig, und wenn nur das Wort Karlsruhe fällt, kriegt sie heute noch weiße Flecken im Gesicht und Gänsehaut. Es muß grauenvoll gewesen sein für sie, das Inferno..."

Um Mitternacht dann draußen Feuerwerk & Glockenläuten. Am Fenster schiebt sich, aufgespießt auf einer Stange, ein abgeschlagener Frauenkopf empor, der dem der Kommissarin verblüffend ähnelt: ein rüder Scherz der Kollegen. In der zahmen Berliner Uraufführung wurde er gestrichen und durch ein opulentes Schattenrißbild der Kommissarin vor Feuerwerk ersetzt.

Assoziativ & mäandernd fließt der Stream of consciousness. Nicht selten gefrieren die Erzählungen der Kommissarin zu einer existentiellen Beichte der eigenen erschreckenden Durchschnittlichkeit und des eigenen grausamen Mittelmaßes, was sich durchaus ins Allgemeine verlängern läßt. Und trotzdem schwebt eine seltsame Heiterkeit über allem Elend. Dieses Kunststück gelingt dank der artifiziellen Diskrepanz zwischen einer ungewöhnlich hohen Sprachkultur und der Banalität von Alltäglichkeiten, in deren Dienst sie steht und die sie auf höchst poetische Weise zum Leuchten bringt.


Die singende Kommissarin ist keine sozialkritische Studie, die ein Polizeigewerkschaftsführer, der Franz Xaver Kroetz heißen könnte, geschrieben hat. Zschokke hat den mikroskopischen Blick aufs Mikrokosmische: hat die selten gewordene Gabe, im Unauffälligen, Unscheinbaren und sonst Übersehenen metaphysisch Elend oder Glück aufblitzen zu lassen- eine Gabe, die nur noch DICHTER besitzen. Und naturgemäß haben diese es immer schwerer in der heutigen Zeit, die verlernt hat, Metaphern zu lesen und einen Subtext raunen zu hören: ABC wird sklavisch-stumpf als ABC buchstabiert und nicht poetisch begriffen als ABZ(schokke).

Der Autor macht kein Hehl daraus, daß er für seinen (Fast-) Monolog (an dem er, mit Unterbrechungen, seit 1998 arbeitete) ausgesuchte Motive & Textpassagen aus eigener Prosa (vor allem aus seinem Roman Der dicke Dichter) in einer eigenwilligen Tour d'horizon neu montiert hat. Obendrein grüßt die singende Kommissarin einen englischen Vetter:The Singing Detective- so wird der Titelheld genannt in einer britischen TV-Serie (die auch im deutschen Fernsehen lief).

Martine Paschoud als Kommissarin in Zschokkes eigener Genfer Inszenierung


Kann ein solches Mixtum compositum gelingen, kann diese postmoderne Collage einen eigenen künstlerischen Mehrwert gewinnen- eine neue Qualität? Aber ja doch! Denn der Plot ist originär & äußerst originell und bietet eine Bombenrolle für die aussterbende Spezies großer Theaterdiven.