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ZSCHOKKE- Ein sanfter Rebell. Die Exzentrischen

Die Exzentrischen



...es ist diese radikal tiefe Oberflächlichkeit, die jene Souveränität der Exzentrischen ausmacht,
jene durch Lebenserfahrung gewonnene, durch Ausstieg und Absprung erklommene kritisch-
subversive Kompetenz gegenüber der Hohlheit von scheinbarer Tiefe im Allerweltsgeschnorre.
Christiaan L. Hart Nibbrig

Der Spielort ist ein Bahnhofsrestaurant erster Klasse- irgendwo, in einer Kleinstadt. Erste Szene: „Abendsonne scheint herein."; zweite Szene: „Später. Die Sonne geht unter."; dritte Szene: „Draußen ist Nacht. Der Mond geht auf."; vierte Szene: „Der Mond ist weg."

Sechs Personen suchen einen Autor und finden ihn in Matthias Zschokke. Ihre Rollennamen: Baronne - Frieda Graf - Förster - Herzog - Richter - Kellner. Eine distinguierte Gesellschaft, deren Heimat ein besserer Stammtisch ist. Die sich hier immer wieder versammeln -einige von ihnen vermutlich bereits seit Jahrzehnten-, nennt Zschokke im Titel Die Exzentrischen. Sie existieren „ex centro", außerhalb eines Lebens-Zentrums, sind Randständige, Unbehauste- im Grunde ziemlich „normale" Zeitgenossen, die sich nur bedingt im herkömmlichen Wortsinn als „exzentrisch" bezeichnen lassen.

Klaus Völker schrieb in diesem Zusammenhang: „Matthias Zschokke hält es mit den ‘Piraten’, den Freibeutern des Lebens, menschenfreundlichen Käuzen und Sonderlingen, mit den Phantasieerfüllten, den nicht fanatisch auf Rentabilität Bedachten. Exzentriks sind akrobatisch geschickte Komiker, mit Übertreibungen arbeitende Varieté-Künstler. Die Exzentrischen, die Menschen, die er in seinem Stück in einem Bahnhofsrestaurant eines abgelegenen Orts zusammenkommen läßt, sind ganz unauffällige Leute, allenfalls leicht absonderlich, verstiegen und überspannt, Melancholiker, Unvernünftige, vom Leben Enttäuschte, mit etwas verschobenem Mittelpunkt. Alle haben ihre Hypochondrien, misanthropischen Zustände, Herzensängste, Sehnsüchte und Schwächen. Der Irrsinn der Freundlichkeiten, Bosheiten, der Scherze und Sticheleien breitet sich aus, aber es ist dieser von der Abendsonne milde beschienene Alltag, der das Leben ausmacht und das Glück enthält, von dem alle doch träumen."

Der „von der Abendsonne milde beschienene Alltag" dürfte dann doch wohl eine Zwangsharmonie-Phantasie sein. Zschokkes Die Exzentrischen sind ein schwarzes Endspiel mit komischen Tupfen. Ohne Becketts plumpe Mülltonnen mit dem Aha-Effekt für die ungebildeten Stände.

Geschlossene Gesellschaft à la Sartre- jedoch sehr diesseitig. Ein existentielles Konversationsstück. Ein Redestück mit wunderbarer Rhetorik- manchmal seitenlange Monologe: und sie ermüden nicht, denn sie besitzen eine enorme innere Spannung. Innere Spannung durchs W o r t. Innere Spannung durch Emotionen. Äußerlich ereignet sich kaum etwas. Ein No-Action-Play. Vielmehr: ein modernes Seelendrama- von einem heutigen Arthur Schnitzler. Den Part der heftigen (und trotzdem zarten) ältlichen Baronne könnte man sich durchaus besetzt denken mit einer Adele Sandrock, und die Herren allesamt als todmüde Wiener Dekadenzlinge, und Frieda als das einst so „süße Mädel", mittlerweile etwas entstellt durch Frustrationen, die sie sich schauspielernd eingehandelt hat, und Hans Moser als kellnerndes Faktotum. Berlin grüßt Wien.


Am Schluß sagt Frieda, sie sei „restlos glücklich", und das meint natürlich: restlos unglücklich. Und das sind sie alle in Zschokkes Stück: einsame Menschen, restlos unglücklich.

Matthias Zschokke äußerte selbst zu seinem Stück, den harmlosen Naiven spielend (wie so gern und wie so oft): „Die Exzentrischen sind Menschen, die versuchen, miteinander einen Abend zu verbringen.

Sie sitzen in einem Restaurant. Entfernt steht ein Kellner. Sie sind entsetzlich müde. Am liebsten würden sie sich auf der Stelle hinlegen und schlafen- dagegen reden sie an; das ist Würde. Viele Moden sind schon über sie hinweggefegt und haben sie übel zugerichtet. Was für Narben. Was für Flecken. Was für wunde Stellen. Trotzdem halten sie immer weiter an sich fest. Stolze Komiker, die sich weigern, Grimassen zu schneiden; die wissen, daß Lüge und Verrat nur fürs kleine, tägliche Leben taugen, nicht für sie. Am Ende ist es spät geworden, und sie gehen nach Hause."

Im Theaterverlagskatalog findet sich zu den Exzentrischen lakonisch die dramaturgisch-technische Anmerkung : 2 D[amen] - 4 H[erren] - 1 Dek[oration]. Anscheinend also müßte sich das Stück mit minimalem Aufwand auf der Bühne realisieren lassen. Aber dieser Eindruck täuscht. Zschokkes Drama Die Exzentrischen ist einer der am schwierigsten zu inszenierenden Theatertexte der Gegenwart und blieb darum bislang auch unaufgeführt: nur Altmeistern wie Peter Stein, Luc Bondy oder Klaus Michael Grüber † könnte dieses Kunst-Stück gelingen- und nur mit einem hochkarätigen Schauspielerensemble, das für diese Regisseure obligat ist.

Eine mittelmäßige Inszenierung eines mittelmäßigen Regisseurs mit mittelmäßigen „Darstellern" in der sogenannten „Provinz" würde Zschokkes Stück für immer vernichten, wie es sich bereits in einer Hörspielfassung des „Saarländischen Rundfunks" andeutete: Schauspieler, die für eine schnelle Mark ihren Text bloß aufsagten, mehr oder weniger „kunstfertig" rezitierten, weil sie ihn nicht begriffen hatten, hineingestellt in einen schalltoten Raum- und kein Intercity raste vorbei im Ohrenkino.


Was ist denn die so große Crux bei dem Zschokke-Stück? Es erfordert von den Schauspielern absolute Stanislawskij-Fähigkeiten, ein Vergessen von Rolle & Bühne, totale Identifikation, nicht das geringste stilisierende Mogeln mehr, um die Zuschauer gnadenlos in eine peinsame Voyeur-Situation zu zwingen, die von den lustvoll-quälenden Wortorgasmen der Figuren evoziert wird.

Naturgemäß können das durchschnittliche (Stadttheater-) Schauspieler nicht leisten, die Frieda Graf so charakterisiert: „Ekelhaft, meine Kollegen. Prall gefüllt, zum Zerplatzen, entsetzlich. Man braucht bloß aus Versehen an sie zu stoßen, in der Kantine, und schon ergießt sich ihr ganzer Erlebnisbrei über einen. Kommen mir vor wie der Unhold neulich in der Zeitung, habt ihr gelesen?, der in Parterrewohnungen zu älteren Damen einsteigt und sich dort entblößt, wobei das schmächtige Männchen -als solcher war er beschrieben- eine noch nie gesehene Erregung vorweise, so drückte sich eine der belästigten Frauen aus, eine für sie unvorstellbare Erregung, nämlich ein Glied von der Größe einer Weinflasche - so kommen mir meine Kollegen manchmal vor, wie prall gefüllte Erzählpimmel, die steil in die Luft ragen und nur darauf brennen, daß einer sie streift, um losspritzen zu können, schäumend, zuckend, pulsierend, und alles zu überschwemmen mit ihrer Vergangenheit, mit Reisen, mit fremden Speisen, mit erotischen Verirrungen, in einer Weise, daß sie auch den trockensten Zeitgenossen mit sich reißen, in ihrem Erzählstrom, wir hängen an ihren Lippen, aus denen es brodelt und dampft, und wir möchten uns ebenfalls an den Spanierinnen reiben, in die französischen Poulets hineinbeißen, den italienischen Wein trinken, in die heißen, isländischen Quellen springen..."

Vielleicht sollte der Stammtisch der Exzentrischen im Bahnhofsrestaurant erster Klasse auf einer Drehbühne stehen, die sich im Robert-Wilson-Zeitlupentempo während der Aufführung einmal um 360° dreht... erbarmungslosester Weltstillstand im Schneckenkreis: täglich, immer wieder- und also das Grauen pur, das bereits im Hals das Lachen erstickt.



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Manche meinen, diese Einfachheit [der Handlung] sei ein Zeichen geringer Erfindungsgabe. Sie bedenken nicht, daß im Gegenteil alle Erfindung darin besteht, aus nichts etwas zu machen, und daß jene Anhäufung von Geschehnissen von jeher die Zuflucht der Poeten war, die in ihrem Geiste weder Fülle noch Kraft genug fühlten, um ihre Zuschauer fünf Aufzüge lang durch eine einfache Handlung zu fesseln, die getragen ist von der Heftigkeit der Leidenschaften, der Schönheit der Empfindungen und dem Adel des Ausdrucks. Racine, Vorwort zu Bérénice




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