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Auf Reisen





Von Berlin reist einer los, nicht ohne uns hintersinnig seine Stadt zu empfehlen, bricht auf in die verführerischen Landschaften und Metropolen Europas, landet in Amman und bereist Jordanien, um letztlich auch Big Apple seine Aufwartung zu machen. Vom Essen, Trinken und Schlafen ist die Rede, von der Pekunia, die dafür aufgewendet werden muß, und vom Rausch eines Staunenden ob der Köstlichkeiten und unerwarteten Ereignisse, aber auch von der angestauten Wut eines Enttäuschten, wenn er sich geneppt fühlt. Ein herzerfrischendes, lebendiges und informatives Buch, eine Verführung zum Reisen, an die Tische und in die Betten, die an den verwunschensten Orten auf uns warten.







Schon im Flugzeug begannen meine festgefügten Bilder zu wanken. Ich kam neben einen jungen, schmalen Äthiopier zu sitzen, so einen, wie sie in Berlin jeweils die Marathonläufe gewinnen. Hinter und vor mir ließen sich Männer in schwarzen Bratenröcken nieder, mit Hüten und Schläfenlocken. Kaum war das Flugzeug in der Luft, fing einer von ihnen vor meiner Nase an zu beten. So etwas hatte ich vorher noch nie gesehen. Er stand auf, drehte sich zu mir, befestigte ein schwarzes Klötzchen mit einer endlos langen Schnur an seinem rechten Oberarm, ein anderes auf seinem Kopf, dann versteckte er sich unter einem Tuch, wippte vor und zurück, in sehr schnellem Rhythmus, dann machte er dies, dann das, alles wirkte vollkommen willkürlich, verworren, unbegreiflich. Zwischendurch schaute er mich lachend an, als mache er das alles nur, um mir ein Vergnügen zu bereiten. Dann las er laut murmelnd rückwärts in einem Buch, während hinter mir die anderen ebenfalls vor sich hin schnurrten, halb deutsch, halb englisch. Ein unvorstellbarer akustischer Wirrwarr. Rechts knisterte eine filigrane, goldbehangene Mumie mit streng nach hinten und nach oben gespannter Pergamenthaut im Gesicht. Auf dem Kopf trug sie einen fahlblonden griechischen Kriegshelm. Das waren ihre Haare. Ein paar Reihen weiter hinten schnarchte ein afghanisches Greisenpaar in staubigen Gewändern. Weiter vorne saß ein alter steifer Herr im Seidenjackett, der alle halben Stunden aufs Klo gehen mußte, was er vollkommen gelassen und würdevoll hinter sich brachte. Insgesamt war es eine so bunt zusammengewürfelte Reisegesellschaft, daß ich neun Stunden lang nur immer hingucken mußte und zu nichts anderem kam. Zu meiner Überraschung fanden die Passagiere sich selbst offenbar vollkommen alltäglich und schenkten einander keinerlei Beachtung. Worauf ich mich zu fragen begann, weswegen ich sie nicht ebenfalls als alltäglich empfand, was mich mehr und mehr zu irritieren begann: Es scheint, ich habe gegen besseres Wissen nach wie vor mein altes Sonntagsschulweltbild im Kopf, auf dem Schwarze, Indianer, Araber, Chinesen, Inder, Buddhisten, Muslime, Heiden und so weiter schön brav irgendwo am Rand drapiert sind und der christliche Abendländer mittendrin, in einem kleinen Abstand zu allen, leicht erhöht, in mattem Glanz vor sich hinstrahlt.

 

Am John F. Kennedy Flughafen wurde mein Paß von einem sommersprossigen, rothaarigen jungen Mann geprüft, einem jener Amerikaner, wie man sie von Kriegsfotos kennt, wo sie schwer bepackt und mit angsteinflößend dicken Nacken durch Wüstensand und gleißende Hitze stapfen. Verblüffenderweise benahm er sich mir gegenüber jedoch nicht grob oder einschüchternd, sondern machte vergnügte Bemerkungen, die ich leider nicht verstehen konnte, was er mir aber überhaupt nicht übelnahm. Geduldig erklärte er mir, wo ich die Zeigefinger für die Abdrücke hinlegen müsse und wo die Kamera stand, in die ich schauen solle, damit ein Einreisefoto von mir gemacht werden könne.

Meine Reisekoffer wiederum wurden von einem schwarzen Hünen charmant lächelnd durchgewinkt. Er würdigte sie noch nicht einmal eines Blicks. Und ich hatte befürchtet, nun gehe diese entwürdigende Befragung und Durchsuchung los, die man dem Vernehmen nach bei der Einreise nach Amerika über sich zu ergehen lassen habe. Der schwarze Riese schaute mir nur ins Gesicht, lachte, sagte gutmütig  »just calm down«  und ließ mich passieren. Draußen empfing mich ein eiskalter Wind, der mir die Tränen in die Augen trieb und eine Art Juchzer oder eher Fiepen aus der Brust preßte: Es war wie früher, als ich in den Schweizer Bergen Skifahren ging, wo manchmal der Wind so kalt blies, daß ich mir einzubilden vermochte, ich sei ein Nordpolforscher mit nassen Füssen, steifen Fingern und glühenden Ohren, aus dessen Nase Dampfwolken entwichen wie aus den Nüstern seiner zu Tode erschöpften Pferde.

Die großen gelben Ford-Taxis, die angefahren kamen, waren größer und gelber, als ich sie aus dem Kino kannte. Der Taxifahrer, an den ich geriet, war ein alter, schartiger Haudegen aus Mexiko, älter und schartiger, als ich ihn aus dem Kino kannte. Der Doorman im Apartmenthaus an der Bleecker Street, der mir den Schlüssel überreichte, war ein zerfetzter Veteran aus Portugal, zerfetzter, als ich ihn aus dem Kino kannte... Ich fürchte, ich werde meine Vorstellungen von Amerika beträchtlich auf/stocken und meine Welt neu ordnen — oder eher: meine alte Ordnung  neu überdenken — müssen.

Aus: Matthias Zschokke, Auf Reisen. Zürich: Ammann 2oo8, S. 103ff.

 



Kopfreiseführer

Matthias Zschokke Auf Reisen Von Berlin über Weimar und Liestal nach New York – und immer ein Heft und einen Stift dabei: Matthias Zschokke erzählt vom Reisen.

Eva Bachmann

Da fügt einer seine Erlebnisse als Stipendiat in Amman, Budapest und New York mit seinen Reisefeuilletons zusammen und verkauft uns das als Buch. Kritiker der angeblich totsubentionierten Schweizer Literatur, die nur noch um den eigenen Bauchnabel kreise, werden hier Futter für ihre Häme finden. Denn tatsächlich kreist Zschokke um seinen Magen, seine Haut, sein Befinden – es wird viel und gut gegessen in diesem Buch, wohlig in Thermalwasser gebadet und sogar die Qualität von Matratzen kann zum Thema werden. Nur: Die radikale Subjektivität macht gerade den Reiz dieser Prosa aus.

Im Abseits

Matthias Zschokke sträubt sich schon immer gegen den Roman als grosse Erzählung. Das bedeutungsschwere Ereignis interessiert ihn nicht. Erst die Ziellosigkeit, das Fehlen von einer Aufgabe und Agenda befreit ihn dazu, loszugehen und etwas zu sehen. Zum Beispiel in Budapest beim Baden im Rudás, einer «Mischung aus Schlachthof, Weinkeller und Moschee»: «Das Zentrum bildet ein grosses Becken, eine Art Teich, in dem etwa ein Dutzend Männer liegen, ganz ruhig, wie Wasserbüffel im Schlamm während der Mittagshitze.»

Eine besondere Vorliebe hat dieser Reisende für unscheinbare Orte. Er reist nach Grenchen, um sich in einer Konfrontationstherapie vom Leiden an der überflüssigen Verzögerung beim Zugshalt in Grenchen Nord bzw. Grenchen Süd zu befreien. Oder er fährt ins Maderanertal und wird Opfer der «Gebirgssolidarität» der Hüttenfinken-Träger und ihrem «ungezwungensten Bergvagabundentum». In Rotterdam versteht er beim Trotten unter Normalnull, «warum die Holländer jahrhundertelang die Weltmeere unsicher gemacht haben: Sie hielten es zu Hause nicht aus». Und wenn er sich dann doch einmal von den hunderttausend anderen nach Ascona locken lässt, findet er: «Für solch grosses, gelassenes Sterben sind die berühmten Orte berühmt, und das zu Recht.»

Links, rechts, vorwärts oder…

Die kürzeren Texte über Schaffhausen, Guggisberg, Porto etc. sind überarbeitete Zeitungsartikel und geben Empfehlungen zu Hotels, Restaurants und Sehenswürdigkeiten. Dieses «Sie sollten sich im … einquartieren» oder «suchen Sie nicht herauszufinden, warum…» ermüdet etwas. Immerhin erweist sich der Autor bei Lob und Tadel als sehr erfinderisch. Und er legt seine Messlatte nicht ohne Selbstironie: In Weimar geht er ins «Elephant», zuerst in die Bar, «dann auf die Toilette, eine marmorne Fürstengruft, deren Strenge mich so begeisterte, dass ich entschied, zu bleiben».

In Amman, Budapest und New York sind die Aufenthalte länger, die Eindrücke tiefer. Insbesondere von New York, das den Spezialisten des Ereignislosen überwältigt. «Obwohl ich über sämtliche Kanäle, Max-Frisch-, Jürg-Federspiel- und Uwe-Johnson-gefiltert, mit New-York-Abziehbildern und -Erzählungen bombardiert worden bin, konnte ich mir die Stadt doch nicht vorstellen. Alles in ihr ist zwar genau so, wie alle sagen, nur ist alles um mehrere Dimensionen mehr so, als alle sagen.» So kommt es, dass er die ersten Tage vor das Haus tritt, überlegt «will ich links, rechts, vorwärts oder rückwärts», schliesslich über die Strasse zum Kaffee geht und danach – unentschlossen – heim.

Mit seinen Augen

Natürlich stehen irgendwann doch das MoMA, die Met, Ellis Island und Ground Zero an. Doch viel lieber lässt Zschokke sich tragen von «der vagen Hoffnung, das Gewöhnliche sei letztendlich fremder als das Aussergewöhnliche». Ergiebiger sind denn auch die Schilderungen etwa von den Masken-Gesichtern mit Hundebetreuern und Kelly Bags in der Madison Avenue, von Rolltreppen in U-Bahn-Schächten oder vom Drama der ersten Schneeflocke: Sofort wird schweres Geschütz aufgefahren und der Schnee bekämpft, «als sei er der letzte praktizierende Kommunist».

Als Leser sehen wir New York und all die anderen Orte stets mit den Augen des Autors, wir erleben mit ihm und folgen seiner reflektierenden Phantasie. Ob seinem Urteil zu trauen ist, weiss er allerdings selber nicht. «Welche Überwindung es ganz allgemein kostet, Dinge aufzuschreiben, die man erfahren oder gedacht hat (…), und von denen man mit dementsprechend grosser Gewissheit sagen kann, dass sie keinen Pfifferling wert sind – wären sie etwas wert, hätte sich ja sonst etwas verändert in dem Moment, in dem man sie erkannt hat, aber nur ein weiterer Irrtum gesellte sich zu den übrigen.»

Es mag sein, dass Matthias Zschokke mit seinen Irrtümern beim Lesen weitere irrtümliche Assoziationen provoziert. Umso besser. Das ist Literatur. Und diese hier handelt zwar von realen Orten, erhebt aber keinen Anspruch auf Realität. Umso schöner kann man mit diesem Führer Kopfreisen unternehmen.

"St. Galler Tagblatt", 17.11.2oo8







Das Glück ist immer anderswo

«Auf Reisen» – Matthias Zschokke erzählt von Berlin und der Welt

Sibylle Saxer

Reiseerlebnisse «in erzählter Form», «bunt und schön», präsentiert Matthias Zschokke in seinem eben erschienenen Buch «Auf Reisen». Als moderner Flaneur gibt sich der Ich-Erzähler, der in diesem Fall ungeniert mit dem Autor Zschokke kurzgeschlossen werden darf. Dies legt bereits die schwarz-weisse Umschlagsfotografie nahe, die den Autor mit einem Köfferchen auf einem Bahnsteig zeigt. Dieses Bild besagt vieles: In Zschokkes «Auf Reisen» stehen der Autor und sein Erleben im Zentrum. Es ist ein realitätsnaher Reisender, der von einer Destination zur anderen hüpft, von Berlin aus unter anderem nach Amman, Weimar, Budapest oder New York, aber auch nach so unscheinbaren Orten wie Grenchen oder Liestal, und wieder zurück nach Berlin. Assoziativ wechselt Zschokke, und mit ihm der Leser, von einem Ort zum anderen. Die einzelnen Reiseerlebnisse, die meisten davon sind bereits je für sich publiziert worden, hat Zschokke nun zu einer Erzählung verflochten, in der nicht der Weg das Ziel ist, sondern der jeweilige Ort: Nicht wie Zschokke hinkommt, ist das Thema, sondern was er dort erlebt.

«Berlin», «Hasliberg» – so beginnen die einzelnen Kapitel. Und über die verschiedenen Reiseziele bekommen zumindest jene Leser durchaus handfeste «Tipps», die «sich nicht davor scheuen, Tipps einem Buch zu entnehmen». So erfährt der Leser etwa, dass das Carlton Hotel in Porto unbedingt eine Reise wert ist oder dass das Hotel Bad Schauenburg selbst einen Aufenthalt im unspektakulären Liestal zum Erlebnis werden lässt. An den jeweiligen Destinationen ist Zschokke ganz Flaneur, der, Robert Walser nicht unähnlich, versucht, das Spazieren nicht «zum Trott» werden zu lassen, sondern als «Talent» zu pflegen. Er geniesst auf diese Weise den maroden Konzertsaal in Budapest genauso wie das endlose, fliegenumschwirrte Warten in der Wüste Jordaniens oder die «gespenstischen Momente» in New York, wo man als gewöhnlicher Passant «nicht einmal ignoriert», sondern «schlicht nicht wahrgenommen» wird. Er begeistert sich einerseits, zivilisationsmüde, für «ganz und gar archaische Eindrücke» im Balkan oder «die bei uns in Vergessenheit geratene poetische Welt des Durch-die-Blume- und Zwischen-den-Zeilen-Sprechens» der arabischen Welt, um sich andererseits von der amerikanischen oder genauer: new-yorkschen «<I can>-Philosophie» mitreissen zu lassen.

Das mutet alles sehr gefällig, dabei jedoch auch etwas oberflächlich an. Dieses Buch «ahnt» nicht nur, «dass es gefallen sollte», ohne genau zu wissen, wem und wie (wie es einmal heisst); dieses Buch will unverhohlen gefallen – und das tut es auch. Zschokke-Freunde werden es zu Recht für seine elegante Sprache lieben. In dieser Eleganz liegt aber auch eine gefährliche Verführungskraft. Das Problem, das sich bereits mit Zschokkes letztem Roman, «Maurice mit Huhn», stellte, taucht hier in akzentuierter Form auf: Die elegante, oft humorige Oberfläche droht die Zwischentöne zu verdecken, die sich besonders an Orten ausmachen lassen, die Zschokke gut kennt, vor allem Berlin und Umgebung.

Wenn im Kapitel zu Weimar die «ungeheure Gedenkstätte» Buchenwald gleichsam in einem Atemzug mit den «reizenden Menschen» genannt wird, die in jener Gegend leben, dann eröffnet das einen Gedankenraum, der mehr Platz verdiente, als ihm eingeräumt wird. Hetzt doch der Text an den nächsten Schauplatz und unterläuft damit die Einsicht, dass es oft «nirgends besser ist als da, wo ich mich gerade aufhalte», dass eine Befreiung darin liegen könnte, «die ewige Angst zu verdrängen, das Glück sei dort, wo ich nicht bin», und also zu versuchen, «das Schöne im Grauen zu entdecken». Wobei mit «Grauen» an dieser Stelle primär das Grau des Alltags gemeint ist, der Doppelsinn aber dennoch mitschwingt.

Solche Spannung erzeugende Mehrdeutigkeiten sind auf die Berlin-Kapitel beschränkt, die Prosa des Reisealltags jedoch bleibt eindimensional und damit hinter der meisterhaften Poesie des Alltags zurück. Sosehr die Reiseerlebnisse das Unscheinbare in den Blick nehmen, so sehr verführt die Sprache durch ihre Eleganz, der Oberfläche verhaftet zu bleiben. Die Gedankenräume, die untergründig und andeutungsweise eröffnet werden, drohen so unterzugehen. Wer sich jedoch die Zeit nimmt, sich auf diesen doppelten Boden einzulassen, dem werden die Kopfreisen aus Zschokkes neustem Buch ein «Gefühl grenzenloser Offenheit und tiefen Glücks» bescheren.

"Neue Zürcher Zeitung", 19.11.2oo8

 







Sehnsucht nach dem anderen

Charles Cornu

In Guggisberg ist er gewesen und in Amman und in New York, in Hotelpalästen abgestiegen und in Gasthöfen. Freudig erregt war er oft und gelegentlich verärgert: der in Berlin lebende Schweizer Schriftsteller und Filmemacher Matthias Zschokke. In seiner Erzählung «Auf Reisen» ist er unterwegs in Städten und Landschaften.

Da, wo nichts passiert, da, wo keine Sehenswürdigkeiten zu absolvieren sind, da findet Matthias Zschokke im Schreiben ganz zu sich selbst. Das Banale beginnt dann – für ihn zuerst, für die Lesenden sodann in der sprachlichen Umsetzung – festlich zu leuchten, das Alltägliche wird erinnerungswürdiges Ereignis. In der Ausdrucksweise spiegeln sich jeweils (die Feststellung ist nicht neu) so etwas wie eine Seelen- und eine Sprachverwandtschaft mit der Melancholie und Spiegelfechterei des jungen Robert Walser. Der 1954 in Bern geborene, im Seeland aufgewachsene, in Berlin jedoch längst zum Grossstädter gewordene Matthias Zschokke scheut sich nicht, innere Gestimmtheiten preiszugeben und so schöne, beinahe vergessene, jedenfalls von der Moderne überrollte Wörter wie Anmut, Glückseligkeit oder süsse Traurigkeit zu verwenden. Solche kleine Köstlichkeiten zarter Formulierungskunst treten am ehesten dann ein, wenn der Autor im Abseits einer Landschaft, eines Orts, eines Stadtquartiers verweilt oder flanierend sich bewegt.

Sanfter Spott

Aber Zschokke, ein talentierter, will heissen: ein neugieriger und weitgehend vorurteilsfreier Reisender, ist im Laufe der Jahre nicht nur zum Beispiel im Maderanertal, auf dem Hasliberg, in Guggisberg, in Grenchen gewesen, sondern auch in Budapest, in New York, in Genf und in Zürich. Da wird er denn, rückblickend, jeweils eher zum soliden Schilderer, zum Reiseführer, zum Tippgeber fürs Essen und fürs Logieren. Das hat für die Lesenden auch seinen Reiz, zumal es jeweils nicht an sanftem Spott und ebenso sanfter Selbstironie fehlt, doch der Zauber poetischer Eigenart ist in diesen Zusammenhängen weniger zu spüren.

Kleinere Seelenkrisen

Eingestreut in die Reiseskizzen und -erzählungen (die zum Teil zuvor in der Reisebeilage des «Tages-Anzeigers» erschienen sind), tauchen im Buch ein paar Kindheitserinnerungen auf, auch kleinere Seelenkrisen suchen den Autor gelegentlich heim, wenn er, fast immer allein, durch die Strassen New Yorks streunt bzw. in der Betriebsamkeit gemächlich zu streunen versucht. Gedanken übers Älterwerden, zum Leben überhaupt, stellen sich dann und wann unwillkürlich ein; die Sehnsucht nach dem anderen, die zum Reisen antreiben mag, führt, gar nicht immer auf erwünschte Weise, zurück zum eigenen Selbst.

Zschokke ist zu seinen Reisen jeweils von Berlin aus aufgebrochen; nach einem längeren Aufenthalt in New York ist er in die Wahlheimat zurückgekehrt. Die Wiederbegegnung mit seinem Lebensort stimmt ihn aber – so jedenfalls gemäss dem letzten Text des Buches – nicht heiter, sondern ausgesprochen missvergnügt. Schade. Jedoch, so viel scheint sicher, diese Grämlichkeit wird er auch wieder abstreifen. Er wird neuerlich aufbrechen, um – wie beispielsweise damals im Weiler Saint Luc im Wallis – ganz für sich allein eine «grandiose Verlorenheit» zu erleben.  

 „Der Bund“, Bern, 24.11.2oo8

 

 





Matthias Zschokke
 

Unerkannt auf Kanapee
 

VON HANSJÖRG GRAF

Nach Romanen, Erzählungen und Theaterstücken hat Matthias Zschokke jetzt ein Reisebuch der besonderen Art veröffentlicht. In seiner Eigenschaft als Autor, der sich auch dem Neuen vom Tage nicht verschließt, und als writer-in-residence war er in 23 Orten zu Besuch, wobei auffällt, dass "Kindheit" in der Namenliste auch als Topos rangiert. Die Verbindung zur Schweiz, wo Zschokke aufgewachsen ist, reißt nicht ab; sie ist für den seit 1980 in Berlin Ansässigen evident; was aber nicht ausschließt, dass Zschokkes Aufzeichnung Schwerpunkte hat, die nicht nur auf längere Aufenthalte an Ort und Stelle zurückzuführen sind. Es hat aber mit alternativen Lebensformen der arabischen Welt und des amerikanischen way of life zu tun, dass Zschokke aus diesen Begegnungen Lektionen für sich und seine Leser zieht.

In jedem Text dieses literarischen Lokalaugenscheins stellt ein Stichwort den Anschluss an eine neue Ortserkundung her, sodass in der Vielfalt eine Einheit sichtbar wird - auch ein roter Faden, der kühne Krümmungen hat, doch stets der Verknüpfung von Gedanken und Erinnerungsbildern dient. So gelingt par exemple der Sprung vom schweizerischen Guggisberg zum portugiesischen Porto: Während dort der Erzähler sich einbildet, einen Fado in der Luft zu hören, wird das Lied hier analog gesungen.

Die Frage, welche Dinge denn nun als "wesentlich" gelten können, taucht wörtlich oder sinngemäß in den meisten dieser Miniaturen auf; Zschokkes Antwort hat die Reisenden im Visier, die um Buspackungen und Ballermannstrände einen großen Bogen machen. "Bislang begeistert mich fast alles, obwohl eigentlich wenig dazu angetan ist, einen zu begeistern." Wie Zschokke seinen Aufenthalt in Amman auf den Punkt bringt, spiegelt eine Grundhaltung, die, mutatis mutandis, dieses Reisetagebuch von anderen Beispielen einer literarischen Topographie unterscheidet.

Zschokke kommt es darauf an, der Physiognomie eines Ortes oder einer Landschaft habhaft zu werden; da spielt das Resultat dieser Erkundungen keine Rolle. Ob es nun Lustgewinn oder Verstörung bedeutet: Es zählen die Erfahrung und die Einsicht, nicht das Wohlbehagen, das die Prospekte mit einem Unwort verheißen. Wo aber "Raum und Ruhe" geboten werden, ist der Genuss des Reisenden perfekt; daraus macht Zschokke auch nie ein Hehl. Doch will er alles wissen und geht den Dingen auf den Grund. Aber: "Einfach die Zeit verstreichen lassen. Alttestamentarisch. Nur ruhiges Gefühl der Gegenwart ist Glück."

Doch das ist ein weites Feld. Was aber Zschokke betreibt, ist eine Art Grundlagenforschung, die auch Daten und Fakten nicht ausschließt. Gerade im irdischen Genuss, der auch fundamentale Bedürfnisse wie Essen und Schlafen mit einbezieht, sieht er die Voraussetzung für Höhere Studien.

Wo Zschokke sich mit einem Zwischenhalt begnügen kann, haben seine Reports die Funktion einer Fußnote; sie gönnt dem mitreisenden Leser eine Atempause vor größeren Unternehmungen, wie sie sich in den Texten über Budapest, Amman und New York spiegeln. Die Metropole am Hudson River erscheint in Zschokkes Buch als der Angelpunkt aller Exkursionen, sozusagen das Maß, an dem das limitierte Leben in der Fremde gemessen wird. Was hält ihn dort wach?

Nicht etwa das "falsche Essen", sondern "die wachsende Einsicht in die Dinge"; und das hat für den um den Schlaf Geprellten die Konsequenz, dass "die Seele alles betrübt, sobald sie anfängt, darüber nachzudenken". Es ist unerlässlich, gerade auf solche vereinzelte Passagen aufmerksam zu machen, weil sie imstande sind, mögliche Missverständnisse über einen Autor auszuräumen, der sich immer wieder als Melancholiker zu erkennen gibt, allem Genießen zum Trotz. Zschokkes Einschätzung von Existenz führt zu radikalen Schlussfolgerungen: "Zuletzt werde ich es ablehnen, am Leben überhaupt noch in irgendeiner Weise teilzunehmen, weil dieses, wie die Erfahrung lehrt, schlechter ist, als es sein müsste…" Doch was den Anschein von Weltverweigerung hat, ist letzten Endes die ultima ratio von Welterfahrung: "Unerkannt auf Kanapees wesentliche Momente der Welt betrachten…"

Diese Quintessenz von Zschokkes Roman "ErSieEs" (1986) liefert auch den Schlüssel zum Gesamtwerk des Autors; "Auf Reisen" ist keine Ausnahme. Im Gegenteil: Hier erlebt Zschokke vollmundig, was Gegenwart ist; der ursprünglichen Bedeutung dieses Zeitbegriffs - "Anwesenheit", "Nähe" - wird jede Seite dieses Logbuchs gerecht. Sein Autor schaut weder zurück, noch verschwendet er einen Gedanken daran, "dass etwas anders werde". Kein Wunder, dass Zschokke in diesem Kontext ein schönes Paradoxon findet: "Hoffnungslos zu sein, wie erholsam." Das hat weder mit Resignation noch mit Fatalismus zu tun; doch sehr viel mit Vernunft und einem jenseits aller beschilderten Routen stattfindenden Umgang mit dem Wirklichen.

In New York verfügt der Gast über genügend Zeit, um den divergierenden Ansichten der "Riesenstadt" Farbe und Kontur zu geben. Zschokke, der Theatermann, kommt in Manhattan voll auf seine Rechnung; er macht kein Hehl daraus, dass er, was Bühnenpraxis und Darstellung angeht, hier am Broadway in seinem Element ist. "Die Möglichkeiten sind so vielfältig, dass ich nicht weiß, wo anfangen." Dass aus diesem Geständnis ein reizvolles New Yorker Quodlibet entstanden ist, bedarf keines weiteren Kommentars.

Was Zschokke mit diesem kleinen Zyklus von Aufzeichnungen, die permanent von anderen Reiseprotokollen unterbrochen werden, präsentiert, ist letzten Endes die Hommage eines Europamüden, der in Berlin den Wunsch verspürt, "endlich alles fallenlassen zu dürfen", an eine Stadt, wo ihm unvermittelt "die Lebenslust in Knochen und Adern … schießt". Überhaupt: Die Lust und der Überdruss halten sich in diesem Buch die Waage. Zschokkes Fazit: "Es ist … ratsam, ab einem gewissen Alter am Leben zu bleiben. Auch wenn man nicht versteht, was einen daran hält."

Diese Zitate machen es evident, dass Zschokkes Aufzeichnungen auch Teil einer kritischen "Selberlebensbeschreibung" sind. Es sind nicht zuletzt diese Passagen, von denen sich der Leser direkt angesprochen fühlt. So bin ich im Verlauf der Lektüre unwillkürlich an die Maximen und Gedanken von Nicolas Chamfort erinnert worden, wohl auch deshalb, weil dieser Moralist über den "Geschmack am einsamen Leben" geschrieben hat, einer Tendenz, der auch Zschokke von Mal zu Mal folgt, ohne das dialogische Leben zu vernachlässigen. Ein Hauch aus dem 18. Jahrhundert der Franzosen weht uns an.

So erzielt der Reisende einen Doppeleffekt: Seine Prosa hat hier und dort und gar nicht selten einen doppelten Boden, der den Scherz, die Ironie und deren tiefere Bedeutung ahnen lässt, aber auch der Poesie seinen Tribut zollt. Keine Frage: Wer sich Zschokkes Spuren anvertraut, ist gut bedient. Die Versuchung, mehrere Proben aufs Exempel zu machen und sich der Magie einiger Orte zu überlassen, ist groß.

„Frankfurter Rundschau“, 27.1.2oo9


 








Von Guggisberg nach Amman und New York

Marco Guetg

Seit 1980 lebt der Schriftsteller Matthias Zschokke in Berlin. Aus wirtschaftlichen Gründen sei er damals in die deutsche Metropole gezogen, hat Zschokke vor zwei Jahren der MZ in einem Interview gesagt, denn «die eingeschlossene Stadt war hoch subventioniert. Alles war günstiger als überall sonst in Deutschland. Das war für einen freischaffenden Künstler natürlich anziehend.»

Die Situation hat sich bekanntlich ziemlich verändert. Die Mauer ist weg und Berlin wieder Deutschlands Hauptstadt; Boom-Jahre, die Preise stiegen auf Hauptstadtniveau, und die Subventionen fliessen nur noch harzig . . . Und was macht Zschokke? «Ich kann es mir eigentlich nicht mehr leisten und müsste längst wegziehen.» Er blieb.

Berlin verlassen und die Welt bereisen: Das allerdings lässt sich der 1954 in Bern geborene Schriftsteller nicht nehmen. Wohin ihn seine Trips geführt haben, erfahren wir aus seinem neuen Buch mit dem programmatischen Titel «Auf Reisen». Es sind Miniaturen, mit denen Zschokke seine Leser durch Städte wie Budapest, Amman, Rotterdam oder New York führt. Dass er dabei auch durch sein Berlin flaniert, liegt auf der Hand.

Doch nicht allein die weltmännische Geste macht Zschokkes Erzählungen so spannend und unterhaltsam. Der Berner sieht auch das vermeintlich Vertraute immer wieder mit besonderem Blick › zum Beispiel wenn er in Schaffhausen, Ascona oder Chur nächtigt, sich in Guggisberg umsieht oder ins Maderanertal hinaufkeucht.

Zschokke beschreibt. So kommt es vor, dass er sich über die Qualität der Hotel-Matratze auslässt. In Porto zelebriert er mit Worten, wie das Kaffeetrinken zelebriert wird. Immer wieder entpuppt er sich als auch Feinschmecker, häufig lesen wir lakonische Sätze voller Ironie. Wie wars, zum Beispiel, in Guggisberg? «Um halb neun geht man in sein Zimmer. Da es nichts zu versäumen gibt, legt man sich ins Bett und schläft ein. Am nächsten Morgen erwacht man, der Brunnen plätschert, man kann weiterhin nichts versäumen, schläft also noch einmal ein.»

Dieses Reisen ist keine lineare Angelegenheit. Zschokke gruppiert die Texte so, dass sie sich hier und dort thematisch verknüpfen. Aufs Maderanertal folgt Weimar, nach Baden-Baden flieht der Autor nach Amman (Vorsicht: Wer diese Passagen gelesen hat, bucht sich gleich ein Ticket in die jordanische Hauptstadt!), um dann über Budapest wieder in Amman zu landen, oder er springt von New York gleich nach Chur.

Wir erfahren, wie Orte und Landschaften beschaffen sind; dann wiederum vermittelt Zschokke Erfahrungen und Einsichten. Zentral aber bleibt die Frage nach dem Wesentlichen oder was als wesentlich gelten könnte. Wer so fragt, muss neugierig sein › und Zschokke ist ein überaus neugieriger Autor, der genau hinschaut und überraschende Sichtweisen vermittelt; ein Autor, der sich empören kann, Humor hat und weiss, dass Schauen auf das Fremde immer auch den Blick fürs Vertraute schärft.

„Aargauer Zeitung“/ „Mittelland Zeitung“, Aarau, 10.2.2oo9

 









Tatsache, man kann das Leben auch genießen

 

MEIKE FESSMANN

Was ist denn das? Eine Sammlung von Reisereportagen? Muss denn wirklich alles zwischen zwei Buchdeckel, was einem Autor mal hier, mal da aus der Feder geflossen ist? „Auf Reisen” beginnt mit einem Porträt Berlins, wo der 1954 in Bern geborene Schriftsteller seit fünfundzwanzig Jahren lebt: „Was man gesehen haben muss? Nichts. Berlin ist keine Attraktion. Im Sommer trägt es kurze Hosen, fleischwurstbraune Socken und Sandalen. Seine Beine sind lang, weiß und teigig. Im Winter trägt es einen senfgelbgesprenkelten Anorak. Nach dem Fall der Mauer ist die Stadt zudem noch ausgelaufen. Seither fängt sie überhaupt nirgends mehr an, hört nirgends mehr auf, und eine Mitte, ein Zentrum hat sie schon gar nicht.”

Auf dem Cover des Buches, das Reiseartikel, die zwischen 1999 und 2005 im Reiseblatt des Zürcher Tages-Anzeiger erschienen sind, zusammenfasst, posiert der Autor recht putzig als Handlungsreisender in Sachen Literatur, irgendwo auf einem Provinzbahnhof. Wenn er aber ins Erzählen kommt, werden nicht nur Städte und Landschaften kenntlich, man erfährt auch viel über das Innenleben eines äußerst skrupulösen Reisenden. Das ist bisweilen komisch, oft traurig, aber auch liebenswert und wahrhaftig. Und manchmal schlichtweg exemplarisch: Für den fernwehsüchtigen Mitteleuropäer mit intellektueller Statur, der sich vom gemeinen Touristen unterscheiden will und nicht umhin kann, sein Verhalten zu reflektieren.

Es handelt sich tatsächlich, wie der Untertitel verspricht, um eine Erzählung. Immer lustvoller begibt man sich auf Entdeckungsreise zu skurrilen Orten der Erfahrung. Da suhlt man sich in den Thermen Baden-Badens, „alles dampft, schwitzt und ächzt”, oder in denen Budapests, wo es „zart nach faulen Eiern” riecht, da kraxelt man in den Bergen herum und frisst sich einmal quer durchs Elsass. All dies wird erträglich, weil es zwischendrin nach Jordanien oder New York geht. Es sind die Levitationsorte dieser Prosa. Dort verflüchtigt sich alles Dumpfe, alles Schwere, die ganze Melancholie und Skepsis. Eleganz und Leichtigkeit halten Einzug.

Die Verblüffung des Autors, dass man das Leben auch genießen kann, überträgt sich wie ein Glücksversprechen auf den Leser. Man möchte fast an das Gute im Menschen glauben. „In Reiseführern steht viel über die arabische Gastfreundschaft und das legendäre Glas Tee, zu dem man eingeladen werde. Ich dachte immer, wie schrecklich! Was um alles in der Welt soll ich bloß machen, wenn ich von einem Beduinen in sein Zelt gezerrt werde und ein Glas Tee trinken soll, ohne Sprache – und außerdem mit nichts, das mir zu sagen einfällt. . . Jetzt, wo ich solchen Situationen tatsächlich dann und wann ausgesetzt bin, begeistern sie mich. Es ist ganz einfach: Man schweigt und freut sich. Dann geht man weiter und staunt darüber, wie anrührend und schön so eine Begegnung sein kann.”

„Auf Reisen” erzählt auch von der Lebenskrise eines Autors, der sich als Selbstverkleinerungskünstler in der Tradition Robert Walsers einen Namen gemacht hat. Dass ein solches Image zum Korsett werden kann, wird spürbar. Die Abwehr allen Bombasts ist nicht gefahrlos. Eine solche Haltung kassiert die Anlässe für große Aufschwünge, jene Treibriemen, die das Leben von Zeit zu Zeit in Schwung bringen. „In Berlin überfiel mich in letzter Zeit oft ohne Anlass der Überdruss. Ich hatte den Eindruck, mit mir gehe es bergab. . . In New York ergeht es mir anders. Die Stadt hat etwas wohltuend Schamloses. Ungeniert erfüllt sie sämtliche Klischees, die man von ihr im Kopf hat, und lässt sie gleichzeitig mitsamt allen Vorurteilen, die man gegen sie, die Amerikaner, das Amerikanische hegt, über sich hinausschießen und ins Leere laufen.”

Zur Einübung von Eleganz, Stil und Distanz nach Arabien reisen oder sich von der Lebenslust New Yorks anstecken lassen: das ist vielleicht gar keine dumme Idee. Dass man „unterwegs ein anderer” wird, ist gewiss – wie auch die Tatsache, dass man sich nach der Rückkehr ziemlich schnell wieder „ähnlich” wird.

„Süddeutsche Zeitung“, München, 2.3.2oo9

 





 

Der große Hauch

TILMANN LAHME



Von Weimar über Porto nach New York: Der Schweizer Schriftsteller Matthias Zschokke zog aus, um die Welt, vor allem aber sich selbst zu entdecken.

Ein Schriftsteller, der ein Buch von 230 Seiten vorlegt und es als "Erzählung" bezeichnet, ist eine Rarität. Üblicherweise nennen Autor oder Verlag alles, was die Länge einer Kurzgeschichte knapp überschreitet, "Roman". Verkauft sich wohl besser. Insofern ist "Auf Reisen" von Matthias Zschokke zu loben, bevor auch nur ein Satz über seinen Inhalt gesagt ist: "Erzählung" also, nicht Roman. Doch bei näherer Kontaktaufnahme mit dem Buch kommen Zweifel, ob es sich hier nicht um einen ähnlichen Etikettenschwindel handelt. Hier reist einer durch die Welt, von Berlin aus, wo der Schweizer Schriftsteller seit fünfundzwanzig Jahren lebt, und schreibt auf, was er sieht, was er von den Hotels hält, in denen er absteigt, was zu den Sehenswürdigkeiten, den Menschen und vor allem zum kulinarischen Angebot zu sagen ist. Ein Großteil dieser Reiseeindrücke erschien bereits im Zürcher "Tages-Anzeiger". Nun also als Buch, neu arrangiert und ergänzt durch ein paar zusätzliche Reisen und einen längeren Aufenthalt in New York. Erzählung?

Das Befremden erhält neue Nahrung. Der Autor Zschokke, der einen vom Buchcover clochardhaft-verschmitzt mit offenem Mantel und Reiseköfferchen zulächelt und sich problemlos als identisch mit der erzählenden Stimme des Buches erkennen lässt, scheint selbst nicht recht zu wissen, ob seine Prosa nicht auch einen nüchternen Zweck haben soll. Und so wandert er mit dem Leser durch Berlin und erteilt beflissen Ratschläge eines Reiseführers für Individualtouristen: "Verlassen Sie das Museum halbgesehen"; "kaufen Sie sich eine Tages- oder eine Wochenkarte (für die öffentlichen Verkehrsmittel), das lohnt sich immer"; die Friedrichstraße: "Suchen Sie nicht herauszufinden, warum die berühmt ist. Gehen Sie ein wenig auf und ab, als sei da etwas." Der missglückte Versuch also, aus ein paar Reiseskizzen etwas zu machen, das man als "Erzählung" zwischen zwei Buchdeckel bringen kann?

Weit gefehlt. Matthias Zschokke ist kein (wenn auch besonders beobachtungsbegabter) Reiseführer - und seine Tipps (auch wenn viele zu beherzigen sein dürften) nur eine raffinierte Methode, den Leser in einer scheinbar plauderhaften Sicherheit zu wiegen, sie mitzunehmen in etwas, das sich als harmlos ausgibt. Sanft, unaufdringlich knüpft Zschokke seinen erzählerischen Faden, springt durch die Welt, ist weit weg und gleich wieder in der Nähe, lädt ein zu seinen Erkundigungen eines eher ziellos Reisenden, bezaubert mit seiner Beobachtungsgabe: Man sitzt und friert mit ihm im ungeheizten königlichen Theater S. João in Porto und freut sich am respektvollen, wenn auch etwas uneingeweihten Publikum; man fährt mit ihm nach Weimar, zum Urort deutscher Schwermut, "melancholisch zum Umarmen"; man begleitet ihn nach Jordanien, lässt sich von seiner Schwärmerei für das ungehetzte, freundliche Miteinander der arabischen Welt und ihre Sehenswürdigkeiten ("wohltuend schlecht ausgebeutet") anstecken, so dass die gedämpft kritischen Töne umso stärker hervortreten. Subtil-funkelnde Polemiken gegen misslungene Mahlzeiten, überteuerte Hotels und unfreundliche Behandlung setzen den Kontrapunkt für die Begeisterung eines reisenden Schriftstellers, der allem Neuen aufgeschlossen gegenübertritt, schon weil es ihm, wenn nicht den Tag verschönt, so doch einen Erzählimpuls liefert.

Der Höhepunkt des Buches: die New Yorker Passagen, das Staunen eines Mannes, der klischeebeladen eintrifft und diese Bilder bald bestätigt und widerlegt sieht, vor allem aber: der eine bebende Welt findet, die ihn selbst verändert und mitreißt. Spätestens hier wird klar, dass es in "Auf Reisen" nur auch, fast nebenher, um Orte geht, die bereist werden. Das Buch erzählt in fulminanter Schnörkellosigkeit von einem Melancholiker, der wegfährt, um sich neu zu entdecken. Was auch gelingt. Jedenfalls für die Zeit der Reise. Danach, zurück in Berlin, "kam ich mir wieder ziemlich ähnlich vor". Doch der vermeintlich "alte Trott" wird von einem neuen Ton grundiert: Leidenschaftlich wettert der Weitgereiste gegen die Berliner Restaurants ("zum Speien") und gegen die virtuose Ehrgeizlosigkeit ihrer Betreiber. Wer von magersüchtigen Modelschönheiten in Manhattan das Gefühl vermittelt bekam, nicht existent zu sein, und dies als Reise zum Kinderwunsch nach einer Tarnkappe erlebt, lässt sich - zumindest schriftlich - nicht mehr alles gefallen, schon gar nicht von Berliner Köchen.

Zschokkes Erzählreise gleicht seinem Aufenthalt in Neuchâtel. "Ernüchternd" war die Ankunft im Hotel: das Zimmer ohne Seeblick, obwohl er dies eigens gebucht hatte, und im Übernachtungspreis des Grandhotels das Frühstück nicht inbegriffen, eine "Saumode", wie Zschokke schimpft: "Wie soll einer ... einschlafen können, ohne Aussicht auf Kaffee?!" Wenig später, den Erwartungen zuwiderlaufend, folgt das überaus beglückte Fazit des Aufenthalts, mit einer liebevollen Reverenz an den "Lieblingsautomaten", "l'écrivain", der im Neuenburger Kunstmuseum auf Knopfdruck "schöne Sachen" auf Papier schreibt, zum Beispiel: "Der große Hauch". Er weht durch Zschokkes Buch.

"Frankfurter Allgemeine Zeitung", 24.6.2oo9






Andere Luft, anderes Licht

        

Bernd Berke

              

Unter dem schlichten Titel „Auf Reisen“ versammelt Matthias Zschokke (geboren 1954 in Bern, seit 25 Jahren vorwiegend in Berlin wohnend) Skizzen aus wechselnden Gegenden. Das Buch firmiert als „Erzählung“, als bestehe es aus Erfundenem. Dabei handelt es doch von unterwegs Vorgefundenem. Von anderer Luft, anderem Licht, anderem Sein.

Fast schon erheiternder namentlicher Anklang: Ein besonderer Schwerpunkt des im Zürcher Ammann-Verlag erschienenen Buches sind Impressionen aus Amman (Jordanien). Zschokke schildert (jenseits aller politischen Konflikte) diese stets auf Würde bedachte Kultur als immense Bereicherung. Allein schon die althergebrachten Rituale öffentlichen Rauchens könnten Lockung genug sein. Auch verstreiche die Zeit in jenen Breiten ganz anders als bei uns. Gerade fürs unendlich gelassene Dahindämmern an den Rändern zu einer vollkommenen Stille hat Zschokke ein empfängliches Sensorium.

Die orientalischen Aufenthalte gipfeln in einem Zitat mit Goldrand: „Jeder Europäer sollte dringend dann und wann nach Arabien, um sich daran zu erinnern, wie Menschen miteinander umgehen können, wenn sie nur wollen.“ Wir lassen das mal so stehen. Freimütig gesteht der Autor, Schattenseiten auszublenden, denn: „An Schlechtes zu denken tötet das Vergnügen und verdirbt die Laune.“

Jeder aufgesuchte Ort erhält hier – mitunter in wenigen Absätzen – sein spezifisches Gewicht. Man spürt in manchen Passagen, was eine Stadt tatsächlich unterscheidet, im besten Falle einzigartig macht. Die etwas mutwillig erscheinende Abfolge im Buch sorgt zuweilen für Wirrnis, dann aber auch für erhellende Kontraste. Gerade eben noch ist man in Berlin aufgebrochen, dann flugs im beschaulichen Baden-Baden gewesen, schon findet man sich in Budapest mit seiner unnachahmlichen Patina, seinem abgeblätterten Charme wieder. Hier wie dort sucht der allzeit (auch gastronomisch) genussgeneigte Autor die Stätten traditioneller, reich entfalteter Badekultur auf. Sein spezielles Vergnügen. Auch in Porto (seltsam melancholisch), Rotterdam (eher langweilig) oder im Elsaß (entgegen dem Ruf: vielfach mieses Essen) macht er Station. Bei Abstechern in Gegenden der heimischen, doch gelegentlich sehr fremdartigen Schweiz (Zürich, Genf, Ascona, Chur, Hasliberg) sucht sich Zschokke offenbar seiner Herkunft zu versichern. Schließlich gibt es ein paar passende Exkurse ins Land der eigenen Kindheit, dessen geheimnisvolle „Geographie“ ja jeder späteren Reise zugrunde liegt.

Die meisten Episoden und Einsprengsel betreffen freilich Zschokkes Erfahrungen in New York, wo er eine Zeit lang gelebt hat. Dieses Inbild einer Metropole erhält hier etwas vom alten Glanz zurück. Die Stadt erscheint als weltweit wandelbarster, immer noch sturzvitaler Schauplatz andernorts ungeahnter Konzentrate, kühnster Lebensentwürfe. Wo, wenn nicht hier? Nirgendwo mehr Gegenwart, mehr Möglichkeiten, mehr Toleranz. Im Vergleich kommt ihm Berlin grau, still und fast menschenleer vor. Zschokke scheint sich da hart am Rande altbekannter Klischees zu bewegen, und doch kommt einem frisch und lebendig vor, was er gleichsam atemlos zu berichten hat. Übrigens plädiert der Autor keineswegs für „exklusive“, exotische Ziele, sondern gerade für viel besuchte Stätten. Aus albernem Abgrenzungs-Bedürfnis heraus versäume man sonst viel. Zitat: „Wir umfahren Venedig, meiden die Pyramiden, wenden uns ab vom Schloß Neuschwanstein, um dafür Livorno, Ouagadougou und Schloß Thun aufzusuchen.“
In diesem Buch kann man mancherlei anregende Lebenswürze nachschmecken. Es könnte Gelüste wecken, wieder einmal ausgiebig unterwegs zu sein. Woher und wohin auch immer.

 http://www.westropolis.de, Essen, 1.5.2oo9






Interview mit Matthias Zschokke über Auf Reisen


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TV-Interview mit Matthias Zschokke über Circulations