JOHANN GOTTLIEB FICHTE

ÜBER BELEBUNG UND ERHÖHUNG DES

REINEN INTERESSES AN WAHRHEIT



Der Text folgt der Ausgabe „Sämmtliche Werke“, Berlin 1846. Orthographie und Interpunktion wurden behutsam der modernen Schreibweise angepasst. © edition aspasia, Winterthur 1993; © Manfred Spalinger 2003




Vergebens erwartet man, durch irgendein glückliches Ungefähr die Wahrheit zu finden, wenn man sich nicht von einem lebhaften Interesse begeistert fühlt, mit Verleugnung alles anderen ausser ihr, sie zu suchen. Es ist demnach eine wichtige Frage für jeden, der die Würde der Vernunft in sich behaupten will: Was habe ich zu tun, um reines Interesse für Wahrheit in mir zu erwecken, oder wenigstens dasselbe zu erhalten, zu erhöhen und zu beleben?

Wie jedes Interesse überhaupt, so gründet sich auch das Interesse an der Wahrheit auf einen ursprünglich in uns liegenden Trieb. Unter unseren reinen Trieben aber ist auch ein Trieb nach Wahrheit. Niemand will irren, und jeder Irrende hält seinen Irrtum für Wahrheit. Könnte man ihm auf eine für ihn überzeugende Art dartun, dass er irre, so würde er sogleich den Irrtum aufgeben und statt desselben die entgegengesetzte Wahrheit ergreifen.

Kommt etwas hinzu, das sich auf diesen Trieb bezieht, entdeckt man in unserem Fall eine Wahrheit als solche oder erkennt einen Irrtum für einen Irrtum, so entsteht notwendig ein Gefühl des Beifalls für die erstere, eine Abneigung gegen den letztern, und beides völlig unabhängig von dem Inhalte und den Folgen jener Wahrheit und dieses Irrtums. Aus wiederholten Gefühlen der gleichen Art entsteht ein Interesse für Wahrheit überhaupt. Ein solches Interesse lässt sich daher nicht hervorbringen; es gründet sich der Anlage nach auf das Wesen der Vernunft und wird seinen Äusserungen nach in der Erfahrung durch die Welt ausser uns ohne unser wissentliches Zutun geweckt; aber man kann dieses Interesse erhöhen.

Dies geschieht durch Freiheit, wie jede sittliche Handlung. Aber alle Regeln für Anwendung der Freiheit setzen die Anwendung derselben schon voraus; und man kann vernünftigerweise nur demjenigen zurufen: Gebrauche deine Freiheit, der dieselbe schon gebraucht hat. Dieser erste Akt der Freiheit, dieses Losreissen aus den Ketten der Notwendigkeit geschieht, ohne dass wir selbst wissen wie. So wenig wir uns des ersten Schrittes in das Reich des Bewusstseins überhaupt bewusst werden, ebensowenig werden wir uns unseres Übertrittes in das Reich der Moralität bewusst. Irgend woher fällt ein Feuerfunke in unsere Seele, der vielleicht lange in heimlichem Dunkel glüht. Er erhebt sich, er greift umher, er wird zur Flamme, bis er endlich die ganze Seele entzündet.

Jedes praktische Interesse im Menschen erhält und belebt sich selbst, darin besteht sein Wesen. Jede Befriedigung verstärkt es, erneuert es, hebt es mehr hervor im Bewusstsein. Gefühl des erweiterten Bedürfnisses ist der einzige Genuss für das endliche Wesen. Die Hauptvorschrift zur Erhöhung jeden Interesses im Menschen, mithin auch des Interesses für Wahrheit, heisst demnach: Befriedige deinen Trieb! - woraus für den gegenwärtigen Fall sich folgende zwei Regeln ergeben: Entferne jedes Interesse, das dem reinen Interesse für Wahrheit entgegen ist, und suche jeden Genuss, der das reine Interesse für Wahrheit befördert!

Man nehme keinen Anstoss an der sonst mit Recht verdächtigen Empfehlung des Genusses. Dass durch den Genuss - und allein durch diesen - jeder Trieb, der in der vernünftigen Natur des Menschen gegründet ist, ausgebildet werde, ist einmal wahr. Genuss, der sich bloss auf Befriedigung der animalischen Sinnlichkeit gründet, verzehrt und vernichtet sich in sich selbst, und von ihm ist hier nicht die Rede. Geistiger Genuss, wie z. B. der ästhetische, erhöht sich durch sich selbst. Es ist demnach ebenso wahr, dass die oben aufgestellte Regel die einzige ist, die zur Erhöhung eines geistigen Interesses gegeben werden kann. Die Beantwortung einer ganz anderen Frage: ob nämlich irgendein geistiger Genuss ganz unbedingt zu empfehlen sei, hängt ab von der Beantwortung einer höheren Frage: ob der Trieb, auf den jener Genuss sich bezieht, ins Unbedingte zu erhöhen, und diese von der noch höheren: ob dieser Trieb irgendeinem andern unterzuordnen sei. So ist der ästhetische Trieb im Menschen allerdings dem Triebe nach Wahrheit und dem höchsten aller Triebe, dem nach sittlicher Güte, unterzuordnen. Ob der Trieb nach Wahrheit mit einem höheren Triebe in Streit kommen könne, wird sich aus unserer Untersuchung von selbst ergeben. - Irgendeinen Ausdruck aber zu vermeiden, weil er missbraucht worden, glaube ich wenigstens hier nicht nötig zu haben.

Unser Interesse für Wahrheit soll rein sein; die Wahrheit, bloss weil sie Wahrheit ist, soll der letzte Endzweck all unseres Lernens, Denkens und Forschens sein.

Die Wahrheit an sich aber ist bloss formal. Übereinstimmung und Zusammenhang in allem, was wir annehmen, ist Wahrheit, so wie Widerspruch in unserem Denken Irrtum und Lüge ist. Alles im Menschen, mithin auch seine Wahrheit, steht unter diesem höchsten Gesetze: Sei stets einig mit dir selbst! Heisst jenes Gesetz in der Anwendung auf unsere Handlungen überhaupt: Handle so, dass die Art deines Handelns, deinem besten Wissen nach, ewiges Gesetz für all dein Handeln sein kann; so heisst dasselbe, wenn es insbesondere auf unser Urteilen angewendet wird: Urteile so, dass du die Art deines jetzigen Urteilens als ewiges Gesetz für dein gesamtes Urteilen denken könntest. Wie du vernünftigerweise in allen Fällen kannst urteilen wollen, so urteile in diesem bestimmten Falle. Mache nie eine Ausnahme in deiner Folgerungsart. Alle Ausnahmen sind sicherlich Sophistereien. - Darin unterscheidet sich der Wahrheitsfreund vom Sophisten: Beider Behauptungen an sich betrachtet, kann vielleicht der erstere irren und der letztere recht haben; und dennoch ist der erstere ein Wahrheitsfreund, auch wenn er irrt, und der letztere ein Sophist, auch da, wo er die Wahrheit sagt, weil sie etwa zu seinem Zwecke dient. Aber in den Äusserungen des Wahrheitsfreundes ist nichts Widersprechendes, er geht seinen geraden Gang fort, ohne sich weder rechts noch links zu wenden; der Sophist ändert stets seinen Weg und beschreibt seine krumme Schlangenlinie, so wie der Punkt sich verrückt, bei welchem er gern ankommen möchte. Der erstere hat gar keinen Punkt im Gesichte, sondern zieht seine gerade Linie, welcher Punkt auch immer hineinfallen möge.

Diesem Interesse für Wahrheit um ihrer blossen Form willen ist gerade entgegengesetzt alles Interesse für den bestimmten Inhalt der Sätze. Einem solchen materiellen Interesse ist es nicht darum zu tun, wie etwas gefunden sei, sondern nur, was gefunden sei.

Wir haben schon etwa einen Satz ehemals behauptet, vielleicht Beifall damit gefunden und Ehre geerntet, und meinten es damals aufrichtig. Damals war unsere Behauptung zwar nicht allgemeine Wahrheit, die sich auf das Wesen der Vernunft, aber doch Wahrheit für uns, die sich auf unsere damalige individuelle Denk- und Empfindungsart gründete. Wir irrten, aber wir täuschten nicht, weder uns noch andere. Seitdem haben wir entweder selbst weiter geforscht, wir haben unsere individuelle Denkart dem Ideale der allgemeinen und notwendigen Denkart mehr genähert, oder auch andere haben uns unseren Irrtum gezeigt. Derselbe materielle Satz, der ehemals formale Wahrheit für uns war, ist uns jetzt, aus dem nämlichen Grunde, aus dem er dieses war, formaler Irrtum; und sind wir uns selbst treu, so werden wir ihn sogleich aufgeben. Aber dann müssten wir erkennen, dass wir geirrt haben; vielleicht dass ein anderer weiter gesehen habe, als wir. Ist unser Interesse für Wahrheit nicht rein und nicht stark genug, so werden wir gegen die auf uns eindringende Überzeugung uns verteidigen, so lange wir können; und nun ist es uns nicht mehr um die Form zu tun, sondern um die Materie des Satzes; wir verteidigen denselben, weil er der unsrige ist und weil ein eitler Ruhm uns mehr gilt denn Wahrheit.

Eine Meinung schmeichelt unserm Stolze, unseren Anmassungen, unserer Unterdrückungssucht. Man erschüttert sie mit den stärksten Gründen, gegen die wir nichts aufbringen können. Werden wir uns überzeugen lassen? Aber wir müssten dann entweder unsere gerechten Ansprüche aufgeben oder uns für wohlbedächtige und überlegte Ungerechte anerkennen. Es ist zu erwarten, dass wir gegen die Überzeugung uns verwahren werden, so lange wir können, und dass wir in allen Schlupfwinkeln unseres Herzens nach Ausflüchten suchen werden, um ihr auszuweichen.

Ein zweites Hindernis des reinen Interesses für Wahrheit ist die Trägheit des Geistes, die Scheu vor der Mühe des Nachdenkens. Der Mensch ist von Natur ein vorstellendes Wesen, aber er ist durch sie auch nichts weiter. Die Natur bestimmt die Reihe seiner Vorstellungen, wie sie die Verkettung seiner körperlichen Teile bestimmt. Sein Geist ist eine Maschine, wie sein Körper; nur eine Maschine anderer Art, eine vorstellende Maschine, bestimmt durch Einwirkung von aussen und durch seine notwendigen Naturgesetze von innen. Man kann viel wissen, viel studieren, viel lesen, viel hören, und ist doch nichts weiter. Man lässt durch Schriftsteller oder Redner sich bearbeiten und sieht mit behaglicher Ruhe zu, wie eine Vorstellung in uns mit der andern abwechselt. So wie die Weichlinge des Orients in ihren Bädern durch besondere Künstler ihre Gelenke durchkneten lassen, so lassen diese durch Künstler anderer Art ihren Geist durchkneten, und ihr Genuss ist um weniges edler als der Genuss jener.

Diesem blinden Hange tätig widerstreben, eingreifen in den Mechanismus der Ideenfolge und ihr gebieten, ihr mit Freiheit eine Richtung geben auf ein bestimmtes Ziel und von dieser Richtung nicht abweichen, bis das Ziel erreicht ist: das ist der rohen Natur zuwider und kostet Anstrengung und Verleugnung.

Jedes untätige Hingeben ist dem Interesse für Wahrheit geradezu entgegen. Es wird dabei gar nicht auf Wahrheit oder Nichtwahrheit, sondern lediglich auf die Ergötzung geachtet, die jener Wechsel der Vorstellungen uns gewährt. Wir kommen dadurch auch nicht zur Wahrheit; denn Wahrheit ist Einheit, und diese muss tätig und mit Freiheit hervorgebracht werden, durch Anstrengung und eigene Kraftanwendung. Gesetzt, man käme durch ein glückliches Ungefähr auf diesem Wege wirklich zu Vorstellungen, die an sich wahr wären, so wären sie es doch nicht für uns, denn wir hätten von der Wahrheit derselben uns nicht durch eigenes Nachdenken überzeugt.

Beide Unarten vereinigen sich in denjenigen, welche alle Untersuchungen fliehen, aus Furcht, dadurch in ihrer Ruhe und in ihrem Glauben gestört zu werden. Was kann eines vernünftigen Wesens unwürdiger sein als eine solche Ausrede? Entweder ist ihre Ruhe, ihr Glaube gegründet; und was fürchten sie dann eine Untersuchung ? Die Güte ihrer Sache muss ja durch die hellste Beleuchtung gewinnen. - Aber sie fürchten vielleicht bloss unsere Trugschlüsse, unsere Überredungskünste? Wenn sie unsere Folgerungen nicht gehört haben, noch hören wollen: Woher mögen sie doch wissen, dass es Trugschlüsse sind? Und setzen sie in ihren Verstand nicht das Vertrauen, dass er allen falschen Schein, der sich gegen ihre Überzeugung auflehnt, zerstreuen werde, da sie ihm doch das ungleich Grössere zutrauen, dass er die einzig mögliche reine Wahrheit ohne sonderliches Nachdenken aufgefunden habe? - Oder ihre Ruhe, ihr Glaube ist grundlos; und also ist es ihnen überhaupt nicht darum zu tun, ob er gegründet sei oder nicht, wenn sie nur nicht in ihrer süssen Behaglichkeit gestört werden. Es liegt ihnen gar nicht an der Wahrheit, sondern bloss an der Vergünstigung, dasjenige für wahr zu halten, was sie bisher dafür gehalten haben; sei es um der Gewohnheit willen, sei es, weil der Inhalt desselben ihrer Trägheit und Verdorbenheit schmeichelt. Sie erhalten etwa dadurch die Hoffnung, ohne all ihr Zutun tugendhaft und glückselig oder wohl gar ohne Tugend glückselig zu werden, recht viel zu geniessen, ohne etwas zu tun; andere für sich arbeiten zu lassen, wo sie Lust haben, träge und verdorben zu sein.

Alles Interesse von der angezeigten Art ist unecht, und in Ausrottung desselben besteht der erste Schritt zur Erhöhung des reinen Interesses für Wahrheit. Der zweite ist: Man überlasse sich jedem Genusse, den das reine Interesse für Wahrheit gewährt. Die Wahrheit an sich selbst, wiefern sie bloss in der Harmonie all unseres Denkens besteht, gewährt Genuss, und einen reinen, edlen, hohen Genuss.

Das ist eine gemeine Seele, der es gleichgültig ist, ob sie, so geringfügig der Gegenstand auch sein möge, irre oder im Besitze der Wahrheit sei. Es ist hierbei nämlich gar nicht um den Inhalt oder die Folgen eines Satzes zu tun, sondern lediglich um Einheit oder Übereinstimmung in dem gesamten System des menschlichen Geistes. Aber der Mensch soll einig mit sich selbst sein; er soll ein eigenes, für sich bestehendes Ganzes bilden. Nur unter dieser Bedingung ist er Mensch. Mithin ist das Bewusstsein der völligen Übereinstimmung mit uns selbst in unserem Denken, oder doch des redlichen Strebens nach einer solchen Übereinstimmung, unmittelbares Bewusstsein unserer behaupteten Menschenwürde und gewährt einen moralischen Genuss.

Man bezeugt es sich durch jenes Streben und durch die vermittels desselben hervorgebrachte Harmonie, dass man ein selbständiges, von allem, was nicht unser Selbst ist, unabhängiges Wesen bilde. Man wird des erhabenen Gefühls teilhaftig: Ich bin, was ich bin, weil ich es habe sein wollen. Ich hätte mich können forttreiben lassen durch die Räder der Notwendigkeit; ich hätte meine Überzeugung können bestimmen lassen durch die Eindrücke, die ich von der Natur überhaupt erhielt, durch den Hang meiner Leidenschaft ten und Neigungen, durch die Meinungen, die mir meine Zeitgenossen beibringen wollten: Aber ich habe nicht gewollt. Ich habe mich losgerissen, ich habe durch eigene Tätigkeit nach einer durch mich selbst bestimmten Richtung hin untersucht: Ich stehe jetzt auf diesem bestimmten Punkte, und ich bin durch mich selbst, durch meinen Entschluss und eigene Kraft darauf gekommen. - Man wird des erhabenen Gefühls teilhaftig: Ich werde immer sein, was ich jetzt bin, weil ich es immer wollen werde. Der Inhalt meiner Überzeugungen zwar wird durch fortgesetztes Nachforschen sich ändern, aber um ihn ist es mir auch nicht zu tun. Die Form derselben wird sich nie ändern. Ich werde nie der Sinnlichkeit, noch irgendeinem Dinge, das ausser mir ist, Einfluss auf die Bildung meiner Denkart verstatten; ich werde, so weit mein Gesichtskreis sich erstreckt, immer einig mit mir selbst sein, weil ich es immer wollen werde.

Diese strenge und scharfe Unterscheidung unseres reinen Selbst von allem, was nicht wir selbst sind, ist der wahre Charakter der Menschheit; die Stärke und der Umfang dieses Selbstgefühls ist bestimmt durch den Grad unserer Humanität; dieser unsere ganze Würde und unsere ganze Glückseligkeit.

Mit dieser sichern Überzeugung, stets einig mit sich selbst zu sein, geht der entschiedene Freund der Wahrheit auf dem Wege der Untersuchung ruhig fort; er geht mutig allem entgegen, was ihm auf demselben aufstossen möchte. Es ist für denjenigen, der mit sich selbst noch nicht recht eins geworden ist, was er denn eigentlich suche und wolle, äusserst beängstigend, wenn er auf seinem Wege auf Sätze stösst, die allen seinen bisherigen Meinungen und den Meinungen seiner Zeitgenossen und der Vorwelt widersprechen; und gewiss ist diese Ängstlichkeit eine der Hauptursachen, warum die Menschheit auf dem Wege der Wahrheit so langsame Fortschritte gemacht hat. Von ihr ist derjenige, der die Wahrheit um ihrer selbst willen sucht, völlig frei. Er blickt jeder noch so befremdenden Folgerung kühn in das Gesicht. Ob sie ein befremdendes oder bekanntes Aussehen habe, ob sie seiner und aller bisherigen Meinungen widerspreche oder nicht, darnach war nicht die Frage. Die Frage war: Ob sie, seinem besten Wissen nach, mit den Gesetzen des Denkens übereinstimme oder nicht, und das wird er untersuchen. Wird sich finden, dass sie damit übereinstimme, so wird er sie als heilige, ehrwürdige Wahrheit aufnehmen; wird sie nicht damit übereinstimmen, so wird er sie als Irrtum verwerfen, nicht weil sie der gemeinen Meinung, sondern weil sie seinem besten Wissen nach den Gesetzen des Denkens widerspricht. Bis dahin ist er völlig gleichgültig gegen sie; über ihren Inhalt hat er die Frage nicht erhoben; derselbe ist ihm bekannt; ihre Form hat er noch zu untersuchen.

Mit dieser kalten Ruhe und festen Entschlossenheit blickt er hinein in das Gewühl der menschlichen Meinungen überhaupt und seiner eigenen Einfälle und Zweifel. Es wirbelt und stürmt um ihn herum, ober nicht in ihm. Er selbst sieht aus seiner unerreichbaren Burg ruhig dem Sturme zu. Er wird ihm zu seiner Zeit gebieten, und eine Welle nach der anderen wird sich legen. - Er will nur Harmonie mit sich selbst, und er bringt sie hervor, so weit er bis jetzt ge kommen ist. Dort ist noch Verwirrung in seinen Meinungen; das ist nicht seine Schuld, denn bis dahin hat er noch nicht kommen können. Er wird auch dahin kommen, und dann wird jene Unordnung in die schönste Ordnung sich auflösen. - Was wäre denn wohl endlich das Härteste, was ihm begegnen könnte? Gesetzt, er fände, entweder weil die Schranken der endlichen Vernunft überhaupt, welches unmöglich ist, oder weil die Schranken seines Individuums solches mit sich bringen, als letztes Resultat seines Strebens nach Wahrheit, dass es überhaupt gar keine Wahrheit und Gewissheit gebe. Er würde auch diesem Schicksal, dem härtesten, das ihn treffen könnte, sich unterwerfen; denn er ist zwar unglücklich, aber schuldlos; er ist seines redlichen Forschens sich bewusst, und das ist statt allen Glücks, dessen er nun noch teilhaftig werden kann.

Ebenso ruhig - wenn dieser Umstand der Erwähnung wert ist - bleibt der entschiedene Freund der Wahrheit darüber, was andere zunächst zu seinen Überzeugungen sagen werden, wenn er in der Lage sein sollte, sie mitteilen zu müssen; und der Gelehrte ist immer in der Lage, da er nicht bloss für sich selbst, sondern zugleich für andere forscht. Die Frage ist ja gar nicht, ob wir mit anderen, sondern ob wir mit uns selbst übereinstimmend denken. Ist das letztere, so können wir des erstern, ohne unser Zutun und ohne erst die Stimmen zu sammeln, bei allen denen gewiss sein, die mit sich selbst in Übereinstimmung stehen; denn das Wesen der Vernunft ist in allen vernünftigen Wesen eins und ebendasselbe. Wie andere denken, wissen wir nicht, und wir können davon nicht ausgehen. Wie wir denken sollen, wenn wir vernünftig denken wollen, können wir finden; und so, wie wir denken sollen, sollen alle vernünftigen Wesen denken. Alle Untersuchung muss von innen heraus, nicht von aussen herein, geschehen. Ich soll nicht denken, wie andere denken; sondern wie ich denken soll, so, soll ich annehmen, denken auch andere. - Mit denen übereinstimmend zu sein, die es mit sich selbst nicht sind, wäre das wohl ein würdiges Ziel für ein vernünftiges Wesen?

Das Gefühl der für formale Wahrheit angewendeten Kraft gewährt einen reinen, edlen, dauernden Genuss.

Einen solchen Genuss kann uns überhaupt nur dasjenige gewähren, was wir durch würdigen Gebrauch unserer Freiheit uns selbst erworben haben. Was uns hingegen ohne unser Zutun von aussen gegeben worden ist, gewährt keinen reinen Selbstgenuss. Es ist nicht unser, und es kann uns ebenso wieder genommen werden, wie es uns gegeben wurde, wir geniessen an demselben nicht uns selbst, nicht unser eigenes Verdienst und unsern eigenen Wert. So vorhält es sich auch insbesondere mit Geisteskraft. Das, was man guten Kopf, angebornes Talent, glückliche Naturanlage nennt, ist gar kein Gegenstand vernünftigen Selbstgenusses, denn es ist dabei gar kein eigenes Verdienst. Wenn ich eine reizbare, tätigere Organisation erhielt, wenn dieselbe gleich bei meinem Eintritte ins Leben stärker und zweckmassiger affiziert wurde, was habe ich dazu beigetragen? Habe ich jene Organisation entworfen, unter mehreren sie ausgewählt und mir zugeeignet? Habe ich jene Eindrücke, die mich bei meinem Eintritte ins Leben empfingen, berechnet und geleitet?

Meine Kraft ist mein, lediglich inwiefern ich sie durch Freiheit hervorgebracht habe; ich kann aber nichts in ihr hervorbringen als ihre Richtung; und in dieser besteht denn auch die wahre Geisteskraft. Blinde Kraft ist keine Kraft, vielmehr Ohnmacht. Die Richtung aber gebe ich ihr durch Freiheit, deren Regel ist, stets übereinstimmend mit sich selbst zu wirken; vorher war sie eine fremde Kraft, Kraft der willenlosen und zwecklosen Natur in mir.

Diese Geisteskraft wird durch den Gebrauch verstärkt und erhöht; und diese Erhöhung gibt Genuss, denn sie ist Verdienst. Sie gewährt das erhebende Bewusstsein: Ich war Maschine und konnte Maschine bleiben; durch eigene Kraft, aus eigenem Antriebe habe ich mich zum selbständigen Wesen gemacht. Dass ich jetzt mit Leichtigkeit, frei, nach meinem eigenen Zwecke fortschreite, verdanke ich mir selbst; dass ich fest, frei und kühn an jede Untersuchung mich wagen darf, verdanke ich mir selbst. Dieses Zutrauen auf mich, dieser Mut, mit welchem ich unternehme, was ich zu unternehmen habe, diese Hoffnung des Erfolgs, mit der ich an die Arbeit gehe, verdanke ich mir selbst.

Durch diese Geisteskraft wird zugleich das moralische Vermögen gestärkt, und sie ist selbst moralisch. Beide hängen innig zusammen und wirken gegenseitig aufeinander. Wahrheitsliebe bereitet vor zur moralischen Güte und ist selbst schon an sich eine Art derselben. Dadurch, dass man alle seine Neigungen, Lieblingsmeinungen, Rücksichten, alles, was ausser uns ist, den Gesetzen des Denkens unterwirft, wird man gewöhnt, vor der Idee des Gesetzes überhaupt sich niederzubeugen und zu verstummen; und diese freie Unterwerfung ist selbst eine moralische Handlung. Herrschende Sinnlichkeit schwächt in gleichem Grade das Interesse für Wahrheit wie für Sittlichkeit. Durch den Sieg, den das erstere über dieselbe erkämpft, wird zugleich für die Tugend ein Sieg erfochten. Freiheit des Geistes in einer Rücksicht entfesselt in allen übrigen. Wer alles, was ausser ihm liegt, in der Erforschung der Wahrheit verachtet, der wird es auch in allem seinem Handeln überhaupt verachten lernen. Entschlossenheit im Denken führt notwendig zur moralischen Güte und zur moralischen Stärke.

Ich setze kein Wort hinzu, um die Würde dieser Denkart fühlbar zu machen. Wer ihrer fähig ist, der fühlt sie durch die blosse Beschreibung; wer sie nicht fühlt, dem wird sie ewig unbekannt bleiben.

- 8 -