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Freitod

«Nichts lässt auf einen Selbstmord schließen»

Ursache des Mailänder Flugzeugunglücks immer noch rätselhaft - Staatsanwältin glaubt an Unfall
Von Kerstin Becker

Rom - Die Wunde klafft noch immer da oben zwischen dem zwölften und dem 30. Stock des Pirelli-Hochhauses in Mailand. Aber in den unteren Büros des Wolkenkratzers wird am Montag wieder die Normalität einkehren: 480 der insgesamt 1000 Beamten der Regional-Verwaltung der Lombardei, die seit zwei Jahrzehnten im Pirelli-Hochhaus arbeiten, werden morgen früh wie gewohnt an ihre Schreibtische zurückkehren, die seit 18. April verwaist waren. Seit jenem Tag, an dem der Schweizer Geschäftsmann Luigi Fasulo mit seinem Privatflugzeug in den 26. Stock des Hochhauses raste und dabei zwei Anwältinnen tötete.

«Die oberen Stockwerke werden innerhalb eines Jahres wieder hergestellt sein. Der Schaden beträgt 60 Millionen Euro. Die Kosten trägt die Gebäude-Versicherung», erklärte Regionspräsident Roberto Formigone.

Die ganze Sache zu den Akten legen und vergessen, das würden die meisten Politiker in Italien am allerliebsten tun. Zwar sind die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft noch lange nicht abgeschlossen, aber für Pietro Lunardi, den Minister für Infrastrukturen, gibt es keinen Zweifel: «Luigi Fasulo war ein fanatischer Exhibitionist und Selbstmörder. In ganz Mailand gibt es einen einzigen Wolkenkratzer und dieser erfahrene Pilot kracht genau in die Mitte rein, nur wenige Monate nach der New Yorker Tragödie. Das war kein Unfall», versichert der Politiker. Seine Haltung ist verständlich: Denn wenn Luigi Fasulo weder ein Terrorist noch ein Unfallopfer, sondern nur ein verrückter Selbstmörder war, dann verstummen abrupt alle unangenehmen Diskussionen um die Sicherheit des Mailänder Luftraumes und des Stadt-Flughafens Linate. Doch die Ermittlungen der Mailänder Staatsanwaltschaft im Fall Fasulo weisen bisher in eine andere Richtung: «Nichts lässt auf einen Selbstmord des Piloten schließen», sagt Staatsanwältin Bruna Albertini, die die Ermittlungen leitet. Sie spielte Experten die letzten Funksprüche Fasulos vor, sie ließ die Leiche des Piloten obduzieren, sie verhörte Familienangehörige, Freunde und Geschäftspartner - und glaubt nicht mehr an einen Suizid.

Fasulo hatte zwar Schulden, aber noch nicht einmal eine Lebensversicherung, die die von ihm geliebte Familie entschädigt hätte. Auch in Lugano, wo Fasulo am 26. April in aller Stille beigesetzt wurde, glaubt niemand aus dem Umfeld des Piloten an einen Selbstmord. «Es war ein Unfall. Er hatte ein edles Herz», sagt der Priester und Freund der Familie Don Donato Candreia. «Mein Vater ist von allen Seiten verleumdet worden. Er wollte nicht sterben und hätte niemals den Tod Unschuldiger in Kauf genommen», behauptet sein Sohn Giorgio.

5.5.2002

 

27 Hinweise auf anonymen Schreiber der Drohbriefe

Polizei appelliert erneut: Autor soll sich Beratungslehrer des Gymnasiums anvertrauen

Varel. Bei der Sonderkommission der Polizei in Varel sind mittlerweile 27 Hinweise auf den anonymen Briefschreiber eingegangen, der ein Selbstmord-Attentat auf das Lothar-Meyer-Gymnasium angedroht und angekündigt hatte, er werde dabei „viele unschuldige Schülerinnen und Schüler mit in den Tod nehmen“. Die telefonischen und schriftlichen Hinweise bezögen sich zum Teil auf Personen, es gebe allerdings noch „keinen konkreten Tatverdacht“, sagte gestern Walter Sieveke, Leiter des Polizeikommissariates in Varel.

Die Ermittler wissen bisher auch noch nicht, wer Autor des zweiten anonymen Briefes im Zusammenhang mit der Attentatsdrohung ist. In diesem an die NWZ gerichtetem Schreiben war die Drohung als Scherz eines Schülers bezeichnet worden. Die Polizei appellierte gestern erneut an die Schreiber beider Briefe, sich zu erkennen zu geben. Der Autor der Attentatsdrohung könne sich einem Beratungslehrer des Gymnasiums anvertrauen, sagte Sieveke. Der Beratungslehrer unterliege der Schweigepflicht.

Die Sicherheitsvorkehrungen an der Schule bleiben unverändert. Auch in der kommenden Woche werden Polizeibeamte in Zivil auf dem Schulgelände anwesend sein. Die Möglichkeit zu Gesprächen mit den Beamten sei von vielen Schülern im Unterricht und auf dem Pausenhof genutzt worden.

5.5.2002

 

Warum Männer Amok laufen

Taten wie in Erfurt werden fast immer von Männern verübt, häufig von jungen Männern. Es gibt ein Konzept, das das Risiko für jede Form der Gewaltkriminalität verringern kann, schreibt der niedersächsische Justizminister Christian Pfeiffer. Ein Essay zur Biografie von Gewalt und Zivilcourage.

Der Amoklauf von Erfurt fand erst dann sein Ende, als sich der mutige Lehrer Rainer Heise dem Täter entgegen stellte. Nach Einschätzung der Polizei wäre die Zahl der Todesopfer sonst erheblich größer gewesen. Für diese Erkenntnis, wonach das couragierte Einschreiten einer Person der kriminellen Gewalt Grenzen setzen und sie im günstigen Fall sogar völlig verhindern kann, gibt es eine Fülle von wissenschaftlichen Belegen. Wenn etwa in einer bedrohlichen Situation eine Person die Initiative ergreift und Zuschauer auffordert, sich gemeinsam der Gewalt entgegen zu stellen, verdoppelt sich die Quote derer, die zum Einschreiten bereit sind. Ein einzelner mutiger Mensch kann offenbar passive Menschen mit seinem Handeln motivieren. Verbindet man diese Erkenntnis mit dem, was sich aus der Begegnung des Amokläufers mit seinem Lehrer gezeigt hat, lässt sich daraus eine erste These ableiten: Wenn wir die Bereitschaft für Zivilcourage fördern, leisten wir wirkungsvolle Gewaltprävention.

Betrachten wir vor diesem Hintergrund die bisherige Debatte des Erfurter Geschehens, dann fällt auf, dass sie sich sehr einseitig auf den Täter konzentriert. Für ein umfassendes Präventionskonzept müssen wir aber auch klären, warum manche Menschen sich durch ein hohes Maß an Zivilcourage auszeichnen. Nachfolgend soll deshalb versucht werden, beiden Akteuren des Erfurter Geschehens gerecht zu werden. Da uns Informationen zu den individuellen Biographien von Robert Steinhäuser und Rainer Heise fehlen, kann hier nur auf generelle Erkenntnisse zum Werdegang von Amokläufern einerseits und couragierten Menschen andererseits zurückgegriffen werden.

Zu den Tätern: Es gibt ein breites Spektrum von Amokläufern: den Akteur eines erweiterten Selbstmordes; den, der wahllos in eine Menschenmenge schießt; den, der aus Rache ein schreckliches Blutbad anrichtet. Bei allen Unterschieden zeigen sich viele Gemeinsamkeiten. Nach der etwa 200 Fälle einbeziehenden Untersuchung von Lothar Adler handelt es sich nahezu durchweg um Männer. Die maskuline Dominanz entspricht damit weitgehend dem Bild, das sich aus Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik zur Gewaltkriminalität ergibt. Bei der Altersgruppe des Erfurter Täters (18- bis 21-Jährige) lag die Quote der Männer, die wegen Gewalttaten registriert worden sind, im Jahr 2000 um das 12,5-fache über der der Frauen (1,9 % zu 0,15 %).

Im Vergleich zu anderen Gewalttätern verfügen Amokläufer erheblich häufiger über eine gehobene Ausbildung, zur Zeit der Tat war allerdings fast jeder zweite arbeitslos. Meist sind sie isolierte Einzelgänger, vertrauen sich kaum anderen Menschen an, sind im Kern Ich-schwach und unsicher. Niederlagen und Kränkungen können sie deshalb nur schwer verkraften. Im Alltag erleben sie sich als ohnmächtig, die Tat dagegen vermittelt ihnen für Augenblicke den Triumph höchster Macht - die Herrschaft über Leben und Tod. Angaben über die familiäre Sozialisation der Amokläufer sind oft nur lückenhaft. Weil sich die Täter meistens selbst töten, sieht die Justiz keinen Anlass mehr, Ermittlungen zur Persönlichkeit des Täters anzustellen. Eines wird aber deutlich: Auch im Hinblick auf die Amokläufer bestätigt sich, was in Studien zur Jugendgewalt generell nachgewiesen werden konnte: Je stärker die Sozialisation junger Menschen von einem Mangel an Liebe und konstanter Zuwendung sowie von innerfamiliärer Gewalt geprägt ist, um so höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Betroffenen später selber Gewalt ausüben.

Ihre Schwäche kompensieren die Amokläufer oft dadurch, dass sie sich Schusswaffen zulegen, die ihnen das Gefühl von Macht geben und zu denen sie eine geradezu erotische Beziehung entwickeln. "Das Gewehr ist die Braut des Amokläufers", kann man in Abwandlung eines veralteten Militärspruches formulieren. Vor allem bei den jüngeren Amokläufern fällt auf: Ihre Tötungsfantasien und ihr Vorgehen haben sie offenbar an Bildern aus Computerspielen oder Horrorfilmen konkretisiert. Das trifft für die Schüler von Littleton ebenso zu wie auf den Täter von Reichenhall oder den 19-jährigen Robert Steinhäuser. Die Frage, ob dieser teilweise exzessive Medienkonsum als eine Hauptursache der Tat zu bewerten ist oder lediglich die Ausführungsart eines bereits bestehenden Mordplans beeinflusst hat, kann damit noch nicht beantwortet werden. Plausibel erscheint, dass derartige PC-Spiele und Filme bei hoch gefährdeten jungen Männern dazu beitragen, Tötungshemmungen abzubauen.

Auf eine Besonderheit der Amokläufer hat der Publizist Hans-Joachim Neubauer (Amok - Rätsel der Gewalt) aufmerksam gemacht. Sie inszenieren die Tat wie ein Schauspiel, in dem sie gleichzeitig der Regisseur und der große Held sind. Bewusst wird als Tatort der öffentliche Raum gewählt. Man braucht Publikum. Der Akteur kostümiert sich. Oft wählt er das kriegerische Outfit des Rambo-Kämpfers oder das Image des schwarz gekleideten, maskierten Rächers. Anscheinend legen die Täter es darauf an, mit ihrer Tat berühmt zu werden, einmal im Mittelpunkt des Medieninteresses zu stehen. Die Vorstellung davon entschädigt sie offenbar für das Loser-Image, unter dem sie im Alltag leiden.

In Erfurt ist diese Inszenierung des großen Showdowns durch die Begegnung mit Rainer Heise unterbrochen worden. Auf einmal stand dem Amokläufer da jemand gegenüber, der nicht in Panik flüchtet, sondern Auge in Auge den Kontakt sucht. Und weil der Täter die Maske abgenommen hat, kann Heise ihn mit der Autorität des bei den Schülern akzeptierten Lehrers anreden: "Robert..." Damit ist der Bann gebrochen. Das Spiel ist aus. Robert Steinhäuser ist zurück in der Realität. Des Mordens müde, bringt er sich um.

Was wissen wir über Menschen, die in derart kritischen Situationen Courage zeigen oder, wenn sich andere in Not befinden, beherzt eingreifen? Zur Klärung dieser Frage haben die Wissenschaftler auch hier auf Experimente sowie biografische Interviews gesetzt, letztere mit Menschen, die in der Nazi-Zeit Juden gerettet hatten (Oliner/Oliner und Eva Fogelman). Die Befunde kann man in vier Punkten zusammen fassen:

- Gewaltfreie Erziehung fördert den aufrechten Gang. Menschen mit ausgeprägter Zivilcourage hatten ganz überwiegend Eltern, die sie bei Konflikten nicht autoritär oder mit Gewalt zu disziplinieren versucht haben, sondern mit ihren Kindern fair und argumentativ umgegangen sind.

- Liebevolle Erziehung fördert die Fähigkeit, Mitleid zu empfinden und die Bereitschaft, sich für den leidenden Menschen einzusetzen. Die Judenretter hatten Eltern, die sehr liebevoll mit ihnen umgegangen sind und ihnen ein hohes Selbstwertgefühl vermitteln konnten. Mindestens einer der Eltern wird als jemand beschrieben, der sich engagiert für Menschen in Not eingesetzt hat und so zum Vorbild werden konnte.

- Eine Gleichrangigkeit der Eltern fördert eine innen gesteuerte Moral. Wenn bei Konflikten in der Familie stets der Vater dominiert, weil er das Geld verdient und über mehr Körperkraft verfügt, fördert das bei Kindern eine eher opportunistische Grundeinstellung. Man beugt sich den Machtverhältnissen. Wer dagegen demonstriert bekommt, dass die besser begründete Position Oberhand behält und zwischen den Eltern bei Konflikten ein wechselseitiges Nachgeben beobachtet, entwickelt eine starke Orientierung an Grundwerten.

- Eine Kultur der Anerkennung fördert couragiertes Verhalten. Die Judenretter waren nach eigenem Bekenntnis keineswegs immer couragiert und hilfsbereit. Die Stärke, ihrer Überzeugung entsprechend zu handeln, hatten sie, wenn sie in einer Gruppe verankert waren, in der man sich gegenseitig gestützt und mutiges Verhalten gewürdigt hat.

Die bereits angesprochenen geschlechtsspezifischen Unterschiede zeigen sich in abgeschwächter Form bei Zivilcourage und aktiver Nothilfe. Hier dominieren Frauen. Auf die umstrittenen Thesen, die dazu von der biologisch-genetischen Forschung angeboten werden, kann hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden. Unstreitig ist, dass es geschlechtsspezifische Sozialisationseinflüsse gibt.

- Nach wie vor werden primär Jungen dazu angehalten, Tränen herunter zu schlucken, Gefühle zu unterdrücken und nach außen cool aufzutreten. Die Vermutung liegt nahe, dass dies bei den Jungen dazu beiträgt, sich nicht nur gegen eigene Gefühle einen Panzer zuzulegen, sondern auch gegenüber dem Leiden anderer Menschen.

- Im Rahmen einer repräsentativen Jugendstudie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen wurden Jungen wie Mädchen dazu befragt, wie ihr Umfeld wohl reagiert, wenn bekannt würde, dass sie auf dem Schulhof jemanden zusammengeschlagen hätten. Fast alle Mädchen rechnen damit, von Eltern getadelt und von Gleichaltrigen abgelehnt zu werden. Von den Jungen dagegen erwartet jeder fünfte zumindest vom Vater Akzeptanz oder Lob; weniger als die Hälfte rechnen mit Kritik und erwartet von Freunden überwiegend Zustimmung.

- Für die Tagträume von Jungen wie Mädchen spielen Film-Idole eine wichtige Rolle. Aber das Rollenangebot fällt extrem unterschiedlich aus. Den Jungen treten ganz überwiegend Macho-Helden gegenüber, die sich im rücksichtslosen Kampf bewähren. Gegenbeispiele wie etwa der preisgekrönte Gandhi-Film sind selten und werden zudem von den Jugendlichen wenig angenommen. Für die Mädchen dagegen gibt es nur wenig Identifikationsmuster, die gewalttätiges Verhalten in den Vordergrund stellen. Viele Jungen, die sich mit Film-Machos stark identifizieren, entfernen sich weit von der Alltagsrealität in Schule, Ausbildung und am Arbeitsplatz. Denn dort sind neuerdings Teamfähigkeit, kommunikative Kompetenz und emotionale Offenheit gefragt. Das schafft bei den jungen Machos Verunsicherung und Frust.

Die Konsequenzen, die sich aus den dargestellten Forschungsbefunden zur Gewaltprävention ableiten lassen, können hier nur stichwortartig und beispielhaft genannt werden. Die Ansatzpunkte liegen auf der Hand: Die Leistungskraft und Erziehungskompetenz von Familien muss gestärkt werden. An Kindergärten anzugliedernde Elternschulen müssen dazu die Lust zur gewaltfreien Erziehung vermitteln. Schulen dürfen nicht nur Wissen vermitteln, sondern müssen soziales Lernen ermöglichen. Schulen müssen mit externen Fachleuten zusammen arbeiten. Diese können innerfamiliäre Gewalt früher erkennen und sollten den Kindern ihre Hilfe anbieten und strikte Verschwiegenheit zusichern. Wirtschaftsunternehmen müssen privaten Medien zur Auflage machen, ihre Werbung nicht mehr in Gewalt verherrlichenden Filmen zu platzieren. Hersteller jugendgefährdender PC-Spiele und Filme müssen bestraft werden. Die Altersgrenze für den Waffenbesitz muss heraufgesetzt werden.

Eines müssen wir uns klar machen: Derartige Maßnahmen sind überwiegend auf Langzeit-Wirkung angelegt. Angesichts des komplexen Ursachen-Geflechts kann das Risiko von Amokläufen nur begrenzt verringert werden. Die Erwartung erscheint allerdings begründet, dass das dargestellte Präventionskonzept jede Form der Gewaltkriminalität deutlich reduzieren kann.

4.5.2002

 



 

 

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