SCHÄTZCHEN

“Hier, sie sind noch ganz warm,” sagt die junge Krankenschwester zu dem Mann in Gefängnisuniform, als sie einen Topf mit Fleischklößchen aus ihrer Tasche holt. “Iß nur, Schätzchen, du hast sicher Hunger.”

Der Mann fängt an zu essen, und sie setzt sich neben ihn, schaut ihm zu. Sie heißt Luboschka. Sie ist im letzten Lehrjahr und arbeitet hier in der Krankenabteilung des städtischen Gefängnisses.

“Gute Fleischbällchen,” lobt er sie. “Hast du die gemacht?“

“Nein. Ich mußte für die Prüfung lernen. Sie sind von meiner Schwester.”

“Sag ihr Danke von mir, und daß sie eine gute Köchin ist.”

“Meine Schwester wußte, daß sie für einen besonders netten Gefangenen kocht, da hat sie sich besondere Mühe gegeben,” lächelt Luboschka. “Ich glaube, meine Schwester würde dich mögen. Ich glaube, alle Mädchen würden dich mögen...” Sie hält inne und denkt nach. “Warum nennt dich jeder Kulic?”, fragt sie.

Er lächelt. “Kulic ist die erste Hälfte von meinem Nachnamen. Mein voller Name ist ein Zungenbrecher. Kulic ist in Ordnung. Ein Vogel heißt so, ein wilder Vogel.”

“Das ist nett. Du bist nett,” sagt sie ihm. “In deiner Akte steht, daß du das erste Mal wegen Vergewaltigung gesessen hast. Du wolltest mir erzählen, was da passiert ist. Ein Mann wie du hat es doch nicht nötig, eine Frau zu vergewaltigen... Du braucht nur zu lächeln und etwas Nettes zu sagen, dann gehört sie schon dir.”

“Es war keine Vergewaltigung, wirklich nicht,” sagt er und macht sich über ein weiteres Fleischklößchen her. “So etwas würde ich nie tun. Ich war fünfzehn, und ich war mit sechs anderen zusammen. Sie hatten zwei Party-Mädels dabei. Sie sagten, ich soll mitmachen. Ich hatte noch nie etwas mit einem Mädchen gehabt. Wir gingen auf den Speicher eines alten Hauses. Wir tranken Wein. Nach einer Zeit sagte eines der Mädchen, daß sie uns alle wollte. Da ging die Party los. Ich war neugierig. Ich war noch nie mit einem Mädchen zusammengewesen, und ich wollte es ausprobieren. Der Spaß ging los, und wir waren laut. Zu laut. Die Nachbarn holten die Polizei. Die Polizisten überraschten uns mittendrin. Also kamen wir alle ins Gefängnis; die Eltern des Mädchens behaupteten, wir hätten ihre Tochter vergewaltigt. Ihr Vater war irgendein hohes Tier und wollte die Ehre seiner Tochter retten, also ging ich für fünf Jahre in den Knast. Das ist die Geschichte”, sagt er.

Luboschka schaut ihn an und knetet ihr Taschentuch. “War sie hübsch? Und was war mit dem anderen Mädchen?”, fragt sie leise.

“Ich weiß nicht, ob sie hübsch war. Es war mir egal. Als der Richter das andere Mädchen fragte, warum sie nicht vergewaltigt worden wäre, hat sie gesagt, weil sie es nicht gewollt habe. Der ganze Gerichtssaal hat gelacht, aber wir kamen trotzdem in den Bau.”

Luboschka schaut ihm in die Augen. “Fünf Jahre Gefängnis – für fünf Minuten Spaß! Das ist unfair”, sagt sie.

“Für gar keinen Spaß,” erklärt Kulic bitter. “Nicht mal eine Minute. Ich war der jüngste, und die anderen Jungs ließen mich warten. Ich war der letzte in der Warteschlange. Ich hatte gar keine Chance, bevor die Bullen kamen.”

“O Gott,” sagte sie. “Fünf Jahre, dabei hast du nur zugeschaut?” Luboschka bleibt vor Staunen der Mund offen.

“Ich hab nicht mal viel gesehen,” fährt er fort. “Es war dunkel. Sie konnte uns auch nicht sehen, nicht mal zählen, wie viele wir waren. Aber sie hat gesagt, ich wäre einer von denen gewesen, die es mit ihr gemacht hatten.”

“Das ist traurig,” flüstert Luboschka, als sie Tee eingießt.

“Am meisten hat mich aufgeregt, daß ich als Vergewaltiger ins Gefängnis gekommen bin, und dabei war ich noch Jungfrau. Aber früher oder später mußte es so kommen. Irgendwie wäre ich sowieso im Knast gelandet”, gibt Kulic zu und nimmt einen Schluck Tee. “Das ist mein Zuhause. Hier gehöre ich her. Ich komme hier gut klar. Ich kenne das System. Mir geht es gut. Draußen bin ich verloren. Ich wüßte nicht, wo ich hinsollte.”

“Bist du wütend auf dieses Mädchen?”, fragt Luboschka. “Weißt du, was aus ihr geworden ist?”

“Nein, wütend bin ich nicht mehr. Schon lange nicht mehr. Sie soll einen Offizier geheiratet haben. Ich sag ja, ich war nie auf irgendjemanden wütend. Wäre ich bloß der erste in der Reihe gewesen und hätte sie probiert. Dann hätte ich wenigstens gewußt, warum ich im Knast sitze.”

“Du könntest es mit mir versuchen”, sagt Luboschka leise, steht auf und legt ihre Arme um ihn. “Warum mag ich dich bloß so gern?”

“Das ist, weil ich dein erster Patient hier im Gefängnis war”, sagt er.

“Nein, es ist, weil du etwas besonderes bist”, stellt sie fest. “Ich würde nicht mit irgendwem gehen. Ich will dich. Ich kann es mir mit keinem anderen vorstellen.”

“Wenn ich nicht dein erster Patient gewesen wäre, wärest du jetzt in einen anderen verliebt, in den, der vor mir dran gewesen wäre, und ihm würdest du dieselben Dinge sagen”, knurrt Kulic und drückt die Tasse an sein Kinn.

“Warum tust du mir weh?” fragt Luboschka. “Ich will sonst niemanden. Du bist es.”

“Ich will dir nicht wehtun”, sagt Kulic. “Ich bin nur realistisch. Ich will dir nicht wehtun... He, ich erzähle dir eine witzige Geschichte, wie es kam, daß ich dein erster Patient war. Ich war in meiner Zelle, da hörte ich die Männer rufen, daß eine schöne, junge neue Krankenschwester in der Krankenabteilung wäre. Da habe ich sofort ein Stück Speck genommen, hab es an einen Faden gebunden und es runtergeschluckt. Das andere Ende des Fadens war an meinem Zahn festgebunden. Ein alter Gefangenentrick – davon bekommt man Gelbsuchtsymptome.”

Sie lacht laut auf. “Damit deine Leber gereizt wird und Galle produziert?” Ihre Augen glänzen, er hat ihre Liebe zur Medizin vollkommen erfaßt.

“Ja, aber eigentlich war es, damit ich so schnell wie möglich in die Krankenstation kam und die schöne junge Schwester treffen konnte”, gibt er zu. “Das war der schnellste Weg.”

“Du bist ein Filou!” lacht sie. “Und wie hast du die Tuberkulose auf deinen Röntgenbildern hinbekommen, als du das zweite Mal hier warst?”

“Ah... das ist einfach. Ich hab einfach ein paar Tage Kohlenstaub eingeatmet. Das sieht beim Röntgen genauso aus wie Tuberkulose”, sagt er, stolz darauf, wie gerissen er ist.

“Mich hast du nicht reingelegt!” verrät sie ihm. “Ich wußte, daß du keine Tuberkulose hast. Du hast zu gesund ausgesehen. Du hattest Farbe. Du warst nicht abgemagert. Du hast nicht mal Blut gehustet”, lacht sie ihn aus.

Plötzlich umfaßt Kulic sie und zieht sie auf seinen Schoß.

Luboschka lacht weiter, etwas verlegen seine Grobheit ignorierend. “He, warst du jemals im Krankenhaus, weil du krank warst?” fragt sie.

“Doch. Einmal war ich ernsthaft im Krankenhaus. Das war, nachdem ich meine Strafe für diese Vergewaltigung abgesessen hatte und wieder rauskam. Ich lief die Straße runter mit einem Bier und hörte die Vögel zwitschern. Da lag ein Fußball auf der Straße, und ein paar kleine Jungen riefen mir zu, ich solle ihn zu ihnen schießen. Ich hab geschossen, so fest ich konnte, und mir den Fuß gebrochen. Die kleinen Scheißer hatten den Ball mit 20 Kilo Metall gefüllt.“

Luboschka lacht laut. “Was für ein mieser Witz. Ich verstehe, warum du am liebsten hier im Gefängnis bist, sicher vor den kleinen Jungs”, spottet sie. Dann schaut sie ihn an und beugt sich über seine Lippen. “Sag, warum hab ich dich so lieb? Du mußt es doch wissen. Sag’s mir. Wie kann ein Mann eine Frau so verliebt machen?”

Kulic spricht sie nicht aus, seine einfache Antwort: Da ist nicht viel bei. Bedränge sie sanft. Sei entschlossen. Und sei immer der erste in der Reihe.





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