Dumme Träume

Es ist Freitagabend, und im Gefängnis ist alles wie immer. Einige Männer spielen Backgammon, andere trinken starken Tee und reden. Der ehemalige Fahrstuhlführer liest die neueste Ausgabe eines Heiratsmagazins. Er ist der Knast-Trottel; alle lachen über ihn, weil er dumm ist und alles glaubt.

“Von der Blonden ist keine Anzeige mehr drin”, sagt er.

“Blonde sind in”, kommentiert eine Stimme aus einer dunklen Ecke.

“Ich hab ihr einen Brief geschrieben, und sie hat nicht geantwortet.”

“Du hörst von keiner der Frauen, denen du geschrieben hast”, stellt die Stimme aus der Ecke fest. “Wenn du eine Frau finden willst, mußt du den Fragebogen ausfüllen und ihn an das Magazin schicken. Die Frauen kommen nur so in Scharen. Dann kannst du dir eine aussuchen.”

Die Vorstellung einer Schar von willigen Frauen gefällt ihm. Er kratzt sich den Kopf und denkt nach. Vor langer Zeit hat mal jemand einen Vorstellungsbrief für ihn geschrieben. Diesen langen, langweiligen Brief hat er an alle Frauen geschickt.

“Ich weiß nicht, wie man einen Fragebogen ausfüllt”, sagt er. “Das sind so viele Fragen. Ich weiß gar nicht, was ich schreiben soll. Was kann ich da machen?”

Er schlägt die letzte Seite des Heiratsmagazins auf und betrachtet den Fragebogen. “Ha! Was soll ich da schreiben – was ich in drei Jahren wohl machen werde? Und was für Haustiere ich habe?”

Dieselbe Stimme antwortet: “Schreib doch, daß du ein paar zahme Küchenschaben hast.”

Der Fahrstuhlführer ist ein Mann mit Ideenreichtum und Unternehmergeist. Er hatte ein großartiges Geschäft: Er war nachts in Wohnhäuser gegangen und hatte die Motoren der Aufzüge gestohlen. Dann hatte er ein paar Tage gewartet, bis die Bewohner das Treppengehen satt hatten. Und dann war er ihnen wie ein rettender Engel zu Hilfe gekommen. Die Mieter sammelten Geld für einen neuen Motor, und er verkaufte ihnen ihren eigenen. Er fand das sehr elegant. Es überraschte ihn, wie hart Polizei und Gericht sein Unternehmen verurteilten, und bis heute hat er ihre Reaktion nicht ganz verstanden, jetzt, wo er auf den Fragebogen des Magazins starrt.

Er steht auf, atmet tief durch, klebt einen Umschlag zu und blättert weiter durch die Kontaktanzeigen. Er betrachtet das Foto einer lächelnden Brünetten und beschließt, ihr auch einen Brief zu schicken. Dann fällt ihm ein, daß er ihr schon einmal geschrieben hat.

Bei ihm sitzt ein großer, schlanker Mann mittleren Alters, der Vlad heißt. Vlad raucht und schaut zu ihm, dann zu den Backgammon-Spielern, dann zu einer Spinne an der Decke. Vlad denkt, wenn er hier tausend Jahre säße und nichts sagte, die Spinne würde irgendwann von der Decke fallen, tot, umgebracht von der vollendeten Langeweile in dem Raum. Vlad drückt seine Zigarette aus und wirft den Stummel in eine Ecke.

Dann sagt er: “Hey, schreibst du wieder an dieses Model?”

“Ja, ich denke, ich mach‘s. Ich habe ihr schon mal geschrieben, aber ich versuche es nochmal.”

“Du mußt der Realität ins Auge sehen. Schau nach einer Witwe oder einer alten Jungfrau. Was du brauchst, ist eine Frau, die noch ärmer dran ist als du selbst. Wie alt bist du?”

“Sechsundvierzig.”

“So, sechsundvierzig bist du. Du wirst noch mit Fünfzig im Knast sein”, beginnt Vlad eine Rede. “Sag, was hast du einer hübschen Neunzehnjährigen zu bieten? Diese Mädchen, die wollen die Welt sehen. Sie können nicht warten, nicht mal eine Woche. Sie wollen alles, und zwar sofort. Und du denkst, daß sie jahrelang zuhause sitzen, bis du aus dem Knast kommst?

Weißt du, wo die Blonde ist, deren Anzeige du letzte Woche gesehen hast? Ich sags dir: Sie ist am Mittelmeer, mit ihrem neuen Freund. Ein gutaussehender, reicher Mann hat sie sich geangelt, der gut ausgebildet ist und Verstand hat. Sie hat jetzt einen Mann mit Aussichten, einem guten Job und genügend Geld. Was hast dagegen du?

Deine Karriere war zu Ende, als du denselben Aufzugmotor zum dritten Mal an dieselben Leute verkauft hast. Jetzt trägst du Schlappen und einen Overall und zähmst Küchenschaben. Du und deine dummen Träume!”

Vlad steht auf, zündet sich noch eine Zigarette an und schlurft dann zu seiner Pritsche.

Wieder allein mit seinem Heiratsmagazin, überkommt den Aufzugmann ein seltsames Gefühl. Er sitzt am Tisch, ein weißes Blatt Papier vor sich. Er starrt es an und versteht nicht, warum auf einmal alles anders ist. Er versinkt in der zähen Trauer, die aus einem endgültigen Verlust erwächst. Er schaut sich um, als suche er nach etwas, dann wieder auf die leere Seite. Er hat etwas sehr Wichtiges verloren.



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