NIKOLAJEWITSCH

Früher einmal war ich Kuljaba Andrej Nikolajewitsch. Aber nur der Vatername hat überlebt, und heute heiße ich Nikolajewitsch. Was von mir übrig ist: ein kranker, 56 Jahre alter Mann, der aussieht wie 65. Und wenn es stimmt, was sie sagen – daß man so alt ist, wie man sich fühlt – dann bin ich 70.

Vor gerade einmal acht Jahren war ich Professor für Philosophie. Ich verschaffte dem Sohn eines Kollegen einen Job an der Universität. Dafür bekam ich eine Flasche Cognac, ein paar Tafeln Schokolade und 14 Jahre Knast wegen Bestechlichkeit.

Manchmal denke ich darüber nach, ob meine Studenten sich gewundert haben, was mit ihrem Lehrer passiert ist. Wo ist dieser fröhliche, aufbrausende Temperamentsbolzen Kuljaba; hat man von dem jemals wieder etwas gehört? – Ich weiß es nicht. Ich habe nie einen Brief bekommen. Ich war mir sicher, daß mich eine besondere Beziehung mit meinen Studenten verband, aber jetzt denke ich, es stimmte nicht. Ich war nur ein kleiner Mann, vollgestopft mit Wissen, ein gewöhnlicher Bücherwurm, und mein Verschwinden war kein großer Verlust für den Bildungstempel.

Schon in jungem Alter konnte ich über die Theorien von Hegel und Kant reden bis ins Morgengrauen. Mein Geist flog durch Zeiten und Universen. Mein Wissen öffnete Türen zu anderen Dimensionen. Ich wußte nicht, daß es eine dunkle Dimension gleich neben meiner gibt, in der die Menschen wie Zombies leben. Ich ahnte nicht, wie leicht man stolpert und in eine parallele Welt rutscht, wo in der Bibliothek Kriminelle Karten spielen; wo ein Universitätsprofessor gezwungen wird, die Hausaufgaben für die Kinder seiner Bewacher zu schreiben (und dabei ein paar Fehler zu machen, damit die Aufgaben glaubhaft sind).

Ich wünschte, meine Studenten könnten mich sehen. Daraus könnten sie mehr lernen als aus allen meinen Vorlesungen zusammen. Sie sollten mich nur sehen, wie ich bin, ein Schatten, der mit den anderen nicht mithalten kann, der beim Essen alleine sitzt, der um eine zweite Portion Graupen bettelt und sich dann in seine Zelle schleppt, ein paar Brocken Brot in der Tasche versteckt.

Eine der Aufgaben der Philosophie ist es, den Menschen zu helfen, die Wirklichkeit zu verstehen und mit ihr umzugehen. Aber irgendwie bin ich hier der, der das am wenigsten kann. Alle anderen scheinen zu wissen, wie man hier überlebt. Wo man Zigaretten, Tee und warme Kleider bekommt. Ich habe das immer noch nicht herausgefunden. Bei Hegel stand es nicht.

Ein anderer Sinn der Philosophie ist es, den Menschen auf den Tod vorzubereiten. Mich macht das wütend, denn ich will diesen Tod nicht. Ich weigere mich, diesen Ort durch den Schlot des Krematoriums zu verlassen. Ich weigere mich, in einem Alptraum zu sterben. Ich bin hundertprozentig sicher, daß ich eines sonnigen Morgens aus dem Gefängnis treten und weit, weit fortgehen werde, durch die Felder und über Flüsse hinweg. Ich kann diesen Tag in meinem Inneren sehen.





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