DIE FÜCHSIN VON DER RINGAUTOBAHN

Sie steigt aus dem Polizeiwagen. Sie ist schön, elegant und trägt einen herrlichen Pelzmantel. Sie könnte eine hochbezahlte Anwältin sein. Aber das ist sie nicht. Ihr Name ist Natalia Flora. Ihr Gang, ihr Blick, ihre Kleider, alles zeugt von wohlhabender Familie und tadelloser Erziehung; sie ist eine der Frauen, die tagsüber in den teuersten Geschäften der Stadt einkaufen und die man abends in den besten Restaurants trifft.

Sie schaut auf das Gefängnis und bemerkt, daß der Hauptbau wie ein riesiges E geformt ist. Vielleicht als Erinnerung an Ekaterina, Katharina die Große, denkt sie. Der Bau wirkt düster, ein massives Gewölbe. Die Fenster sind für immer geschlossen, und das ganze Gebäude wirkt wie ein schlafendes Monster. Nur seine Kiefer bewegen sich, die großen Tore, die gleichmütig alle Neuzugänge verschlucken.

„Folgen Sie mir“, sagt der Polizist und wendet sich dem geduldig wartenden Tor zu. Als sie über die Schwelle tritt, liegt vor ihr ein langer, dunkler Gang mit Dutzenden von Türen. Manche stehen offen, andere sind geschlossen.

Das müssen Zellen sein, denkt sie. Sie weiß nun, daß sie die Wahrheit gesagt haben muß. Nur für die Wahrheit kann sie verhaftet und ins Gefängnis gebracht worden sein, aus heiterem Himmel, ausweglos.

„Warten Sie hier. Sie werden aufgerufen“, sagt ihr der Polizist.

Ihre Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit. Dort drüben warten drei männliche Gefangene. Sie starren sie an. Diese Männer erinnern sie an Zombies aus dem Film ,Evil Dead‘: geschorenes Haar, Haut und Knochen, und einer hat das Wort ,Dieb‘ auf den Nacken tätowiert. Sie war noch nie so nahe an solchen Männern. Das sind die wahren Kriminellen, echte Unterweltsgestalten, denkt sie. Es ist gut, daß es einen Ort wie diesen gibt, um sie von unbescholtenen Menschen fernzuhalten.

„Verdammtes Parfüm“, sagt einer der Männer. „Macht mich schwindelig.“

„Schicke Zicke“, sagt der Tätowierte und nickt in Floras Richtung. „Erstes Mal im Bau?“, fragt der dritte. In seiner Uniform, mit gestreifter Mütze und Jacke, sieht er freundlicher aus als die anderen.

„Ja. Das ist mein erster Tag hier. Sind das da vorne Zellen, wo die Leute leben?“

„Das sind Wartezellen“, antwortet er. „Du kannst den ganzen Tag darin verbringen und warten, bis du verhandelt wirst, also leben da schon irgendwie Leute.“

Dann kommen weitere Neuzugänge und lassen sich auf dem Gang nieder. Ein Wächter kommt mit einer Akte für jeden Gefangenen unter dem Arm.

„Die normalen Häftlinge bleiben hier. BV-Gefangene mitkommen“, kommandiert er.

Flora weiß nicht, zu welcher Gruppe sie gehört, also bleibt sie und wartet ab.

„Brauchst du eine Extraeinladung?", bellt der Wächter Flora an. „Ich habe gesagt, BV mitkommen!“ Er greift nach ihrem Arm und zerrt sie mit.

Als sie den Gang entlangstolpert, flüstert der in der gestreiften Jacke: „BV, Besondere Vorsichtsmaßnahmen. Besonders gefährlich beim Transport, und besonders schädlich für die Gesellschaft. Sie halten uns isoliert. Im Falle eines Krieges werden alle BVs sofort hingerichtet. Willkommen im Knast, meine gefährliche kleine Schwester!“ Alle drei Männer lachen.

Der Wächter reißt eine Tür auf und stößt Flora hinein. Es ist ein winziger Raum, eine kalte Zelle, die der Offizier ,das Glas‘ nennt. Der Raum ist so klein, daß Flora nur stehen kann. Sie fühlt sich eingemauert, aber irgendwie ist sie froh, daß sie allein und nicht mit den Zombies eingesperrt ist. Sie schnuppert, versucht sich einen Eindruck vom Gefängnis zu verschaffen. Es ist ein unklarer, schwerer Geruch, nasser Beton, Zigaretten und noch etwas, das sie nicht erkennt.

Die Tür wird aufgerissen, und ein neuer Wächter ruft: „Streifen, raus!“ Flora steht da und versteht nicht. Gleich vor ihrer Tür sieht sie die drei Gefangenen von vorhin. Der Freundliche flüstert: „Besonders gefährliche Gefangene heißen ,Streifen‘. Raus mit dir!“

Flora wird zum Durchsuchungsraum gebracht. Eine weibliche Wache untersucht sie.

„Hast du Rauschmittel, Waffen oder sonst etwas illegales bei dir?“, fragt die Wächterin.

Flora sagt nichts und schüttelt den Kopf. Sie hat nichts. Die Frau sucht weiter. „Wenn ich frage, ob du etwas Illegales bei dir hast, solltest du es besser sagen“, belehrt sie Flora. „Du bist gefährlich, und du wirst sehr genau untersucht werden“, setzt sie leise hinzu.

„Ich bin nicht gefährlich“, gibt Flora zurück. „Ich habe nie in meinem Leben gelogen oder etwas Schlechtes getan oder jemanden verletzt. Das ist ein Irrtum. Ich gehöre hier nicht her.“

Die Wächterin hält inne und schaut Flora an. „Du gehörst hier nicht her? Du trägst Diamantohrringe, und du sagst, du gehörst hier nicht her? Dein Pelzmantel kostet Tausende Rubel, und du sagst, du seist nicht gefährlich? Geh in deine Zelle und denk darüber nach, was du da gerade gesagt hast". Die Frau führt Flora aus dem Raum. Draußen wartet schon ein weiterer ,Streifen‘ auf die Durchsuchung.

„Streite nicht mit den Wächtern“, raunt der ihr zu. „Die haben immer recht, auch wenn sie unrecht haben. Streifen haben kein Recht auf eine Meinung.“

Im ,Glas‘ ist Flora plötzlich kalt. Der winzige Raum fühlt sich an wie ein Kühlschrank. Ihr fällt ein altes russisches Sprichwort ein: Es gibt keine Versicherung gegen Armut und Gefängnis. Sie verbringt eine halbe Stunde mit diesem Gedanken im Kopf.

Die Tür öffnet sich mit ruppiger Plötzlichkeit. Dann beginnt ihr langer Marsch. Sie folgt einem Wächter durch Dutzende Korridore und an unzähligen Türen vorbei, Treppen hinunter und durch ein Labyrinth von Katakomben, aus dem Flora nie wieder herausfinden würde.

Der Wächter mustert sie, während sie gehen. Er fragt: „Warum bleibt eine nette Dame wie du nicht einfach daheim in ihrer Küche oder liest was Schönes? Warum brecht ihr das Gesetz?“

„Ich habe nichts getan. Daß ich hier bin, ist ein Irrtum.“

„Schon klar. Ich weiß. Das sagen alle. Alles ein Irrtum. Alle sind sie unschuldig. Ich verstehe Leute wie dich nicht. Warum lebt ihr nicht einfach friedlich und unbescholten? Warum sollte der Steuerzahler euch einen bequemen goldenen Käfig finanzieren?“

Flora schweigt während der Steuerzahler-Tirade. Dann ist die Reise vorbei. Sie stehen vor einer blauen Zellentür.

Er schließt auf. „Rein mit dir.“ Sie tritt über die Schwelle, und die Tür fällt dumpf hinter ihr ins Schloß. Der Raum ist größer als sie dachte. In der Ecke ist eine Toilette. Mitten im Raum gibt es einen Tisch. An den Wänden sind zwölf Pritschen angebracht, alle leer bis auf eine. Flora steht wie angefroren und schaut.

„Wir sind nur zu zweit“, sagt eine Frauenstimme aus einer dunklen Ecke. „Mich nennt man die Füchsin. Wie heißt du?“

„Ich bin Natalia Flora.“

„Flora. Ha! Hier werden sie dich Fauna nennen. Hier drehen sie alles um und auf den Kopf“, sagt die Füchsin.

„Meine Kollegen nennen mich Fauna, aber nur hinter meinem Rücken“, antwortet Flora lächelnd.

„Hier hast du keine Kollegen“, stellt die Füchsin klar. „Alle Neuen reden so. Es dauert etwas, bis ihr versteht, daß ihr nicht mehr draußen seid. Neulinge denken, es ist ja nur ein Traum, und morgen wachen sie daheim in ihren Betten auf. Wenn du hier als BV-Gefangene bist, dann ist es ernst. Du wirst Jahre im Knast verbringen.“

Die Füchsin tritt aus dem Schatten. Wie alt sie ist, ist schwer zu schätzen, nicht aber ihr Beruf. Sie hat das Gesicht der Frauen, die an der Straße stehen und sich verkaufen, bis sie so alt sind, daß niemand sie mehr nimmt. Dann verkaufen sie die jüngeren Mädchen. Ihr dünnes Haar wird im Nacken von einer Schnur gehalten. Ihre Nase ist platt wie die eines Boxers. Die Nasenscheidewand fehlt; eine Krankheit vielleicht. Eine Augenbraue sitzt höher als die andere, und sie hat keine Zähne. Die Füchsin sieht, wie geschockt Flora ist über den Unterschied zwischen ihrer Stimme und ihrer Erscheinung.

„Na, bin ich schön?“, fragt die Füchsin. Dann lacht sie. „Beurteile Knastis nicht nach dem Aussehen. Du weißt nicht, wie du selbst am Ende dieser Reise aussiehst. Und, was noch schlimmer ist, du weißt nicht, ob du je hier herauskommst.“

„Es ist kalt“, sagt Flora.

„Der März ist kalt dieses Jahr“, sagt die Füchsin und faßt Floras Pelzmantel an. „Dreimal am Tag bringen sie heißes Wasser, aber wir bekommen mehr, wenn du Geld hast. Ich kenne die Wachen.“

„Ich habe etwas Geld.“ Flora nimmt Kleingeld aus ihrer Tasche.

„Wunderbar. Dafür kriegen wir mehr als heißes Wasser.“ Die Füchsin ruft den Wächter. Nach kurzen Verhandlungen und ein paar derben Beschimpfungen bringt der Wächter das Gewünschte.

Bald trinken die beiden Frauen heißen Tee und rauchen. Die Füchsin stopft weißes Puder in ihre Nase und schnaubt wie ein Schwein.

„Du bist eine Bürgerliche“, stellt sie fest. „Du siehst aus wie eine Neureiche. Hör zu. Dies ist eine Durchgangszelle. Morgen früh stecken sie dich in eine Gemeinschaftszelle mit vielleicht zwanzig Frauen. Da wartest du auf deinen Prozeß. Und ein paar Monate nach dem Prozeß kommst du in ein anderes Gefängnis, ein Arbeitslager oder was das Gericht entscheidet.

Ich zeige dir ein paar wichtige Tricks. Ich verrate dir, wie du hier leben und überleben kannst. Du wirst mir noch Jahre dankbar sein. Mein Rat wird dir viel Ärger ersparen“, sagt die Füchsin und nimmt eine weitere Nase weißes Puder.

Flora beugt sich zu ihr, damit ihr kein Wort aus dem zahnlosen Mund entgeht. Das Gesicht der Füchsin scheint die graue Farbe der Wand zu haben. In ihrer Wolke aus Zigarettenrauch sieht sie aus wie eine mythische Prophetin.

„Erstens: Erzähle niemandem irgendetwas über deinen Fall. Hier hat alles Ohren. Keinerlei Details, vor allem wenn es um andere Leute geht.“

Flora unterbricht: „Ich habe nichts zu sagen oder zu verbergen. Ich habe nichts Falsches getan!“

Die Finger der Füchsin legen sich auf Floras Mund. „Stop! Ich will es nicht wissen. Hör einfach zu. Der Knast ist eine kleine Welt, und vielleicht kreuzen sich unsere Wege wieder. Wenn irgendwas, was du hier sagst, herauskommt, sollst du nicht denken, ich hätte es verraten. Sag nichts, zu niemandem. Ich rate dir, halte deinen Mund.“

Die beiden Frauen hocken still beieinander und starren sich an. Dann umarmt die alte Prostituierte Flora. „Schätzchen, ich weiß, daß es schwer für dich ist, aber hör mir genau zu. Traue keinem. Wer das Geheimnis eines anderen kennt, der hat eine Geisel. Und sobald du dein Geheimnis verrätst, wirst du zur Gefangenen deines Zuhörers.

Ich habe diese Erfahrung vor langer Zeit gemacht. Ich weiß, wie schwer es ist, alles für sich zu behalten. Hör auf mich. Wenn mir jemand das an meinem ersten Tag im Knast gesagt hätte, dann hätte ich noch Zähne. Du bist jung, du bist attraktiv. Du brauchst die Aufmerksamkeit von Männern. Du pflegst dich, ich meine deine Nägel, deine Haare. Im Knast gibt es keine Männer, aber Frauen, die wie Männer sind. Wenn du hübsch aussiehst, reizt du diese Frauen. Glaub mir, das willst du nicht. Sie sind alte geile Haie. Weißt du, wovon ich rede, Schätzchen?"

„Ich glaube schon“, sagt Flora schwach. Die Füchsin redet weiter. „Du solltest alles loswerden, was deine Weiblichkeit und Schönheit unterstreicht. Einfachheit. So wie du aus der Wanne steigst. Keine Schminke, keine Ohrringe. Hier gibt es keine schönen homosexuellen Beziehungen. Keine Playgirls in Bikinis. Nur alte, stinkende Huren, die ihr eigenes Vergnügen suchen. Glaub mir – es ist zu deinem Besten, wenn du dich da raushältst.

Gib mir deine Ohrringe. Die brauchst du nicht.“ Flora nimmt sie ab und gibt sie der Füchsin, ganz Geschäftsfrau. „Fragst du dich, wieso ich hier bin? Wieso ich mich um jemanden kümmere, die ich zum ersten Mal sehe? Vielleicht habe ich ein weiches Herz. Ich hab immer den Mädchen geholfen. Ich hatte ein paar Prostituierte an der Ringautobahn um die Innenstadt. Sie nannten mich ,Mama Harem‘. Mein Herz blutet, wenn ich ein Lamm wie dich mitten unter Wölfen sehe. Ich will dich beschützen.“

Flora hört der älteren Frau zu und denkt, daß sie Glück hat, an ihrem ersten Tag hier solche Hilfe zu finden. Ihr wird mulmig, wenn sie sich überlegt, was passiert wäre, wäre sie an einen der Haie geraten.

„Du siehst immer noch aus wie ein reiches Mädchen“, fährt die Füchsin fort. „Ich sag dir, morgen früh kommst du zu zwanzig anderen Frauen. Die meisten von ihnen schleppen eine Menge emotionalen Ballast herum. Von Stiefvätern vergewaltigt. Von Ehemännern mißhandelt. Alkohol- und Drogenprobleme. Ein neues Mädchen, das reich und sauber aussieht, wird sie wütend und neidisch machen. Ich rate dir dringend, deinen Pelzmantel und die teuren Winterschuhe loszuwerden“, sagt die Füchsin leise. „Im Knast gibt es Probleme, wenn du etwas hast, das die anderen nicht haben. Sie werden es dir wegnehmen. Wenn du etwas besitzt, hast du nur Scherereien, außer du bist am Drücker. Dann kämst du sogar mit diesem Pelzmantel durch. Nur eine Anführerin mit Autorität kann teure Sachen haben. Im Knast geht es um Raub und Vergewaltigung. Man wird dir wehtun und dich zurechtstutzen, wenn du mehr hast als die anderen. Und wenn sie dich in den Dreck getrampelt haben, stehst du nie mehr auf.“

Ohne ein weiteres Wort zieht Flora die warmen Winterschuhe und den Pelzmantel aus und gibt sie der Füchsin, die zahnlos lächelt und Flora ihre zerschlissenen Schuhe und ihre dünne Jacke reicht. Es ist kalt, und Flora beginnt in der fadenscheinigen Jacke bald zu zittern. Schon vermißt sie Mantel und Schuhe.

„Einfachheit“, fährt die alte Hure fort, „ist das erste Gebot. Du mußt unwichtig sein, klein. Du mußt eine graue Gefängnismaus sein, nicht auffallen. Mit dem Strom schwimmen. Nie gegen den Strom. Nicht auffallen. Scher dich nicht um die Wahrheit, oder du brichst dir den Hals. Versteck dich in der Masse“, sagt die Füchsin, als sie sich in Floras Pelzmantel wickelt und die Taschen durchwühlt.

„Hilf niemandem. Das würden sie als Schwäche sehen und dich ausnutzen. Sie würden ständig Hilfe von dir wollen.“

Die Füchsin steht auf und zieht schwungvoll den Pelzmantel aus. Sie wandert durch die Zelle und hält ihn hoch, um ihn besser sehen zu können, wie eine Händlerin. Flora schluchzt auf, sie zittert stärker, das Gefühl, daß sie jetzt Hilfe braucht, um nicht zugrunde zu gehen, überwältigt sie. Sie denkt an Zuhause, ihre Großmutter, die sie wahrscheinlich nie wieder sehen wird, und an Leopold, ihren Kater, der jetzt darauf warten wird, daß sie von der Arbeit kommt. Flora fühlt sich wie eine Eisscholle, die in unbekannten, dunklen Gewässern treibt. Sie weint.

„Wein nicht, mein Schatz. Jeder hat seinen ersten Tag hier“, sagt die Füchsin, als sie ihr Bett macht. „Mein erstes Mal im Knast war furchtbar. Ich kämpfte und schlief drei Tage nicht, weil ich aufpassen mußte, daß mich niemand ersticht...“

Einen Augenblick später ist die Füchsin im Bett, zugedeckt mit dem warmen Pelzmantel. „Du zitterst ja, Schätzchen. Ist dir kalt? Komm zu mir, ich wärme dich auf. Es ist wichtig, eine gute Freundin zu haben, hier im Knast.“





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