Die Tochter des Kapitäns

Vor fünfzig Jahren war ich ein junger Mann, den Kopf voller Träume von Ruhm und Ehre, von einer Rolle auf der Weltbühne.

Diese Träume sind wahr geworden, und jetzt stehe ich an einem Rednerpult auf dieser Bühne hier. Ich halte Vorlesungen für meine Kriminologie-Studenten in aller Welt, die mit unzähligen Statistiken belegt sind, und soll in Fernsehinterviews von meinen mutigen Taten berichten... immer und immer wieder; manchmal fühle ich mich wie ein Papagei in Anzug und Weste.

Mark Twain hat einmal gesagt: "Gewisse Dinge, wie der Anblick eines Galgenstricks, lassen einen klarer denken.“

Wenn ein Mann in mein Alter kommt, verlieren langweilige Schmeicheleien und höflicher Nonsens ihren Zauber, weil sie wertvolle Zeit kosten. Wenn die Schlinge des Galgens nicht mehr eine verschwommene Form am fernen Horizont ist, sondern zum vertrauten Bild vor Augen wird, verändert das die Prioritäten.

Also sage ich heute, was ich will, anstatt darauf Rücksicht zu nehmen, was man von mir hören will.

Das Altsein in unserer Kultur läßt mich die Neanderthaler-Zeit herbeiwünschen, als ein hohes Alter ein seltenes Gut war und das Überleben aller im Stamm sicherte. Der heutige Jugendkult schätzt weiße Zähne viel höher als die Worte, die zwischen ihnen hervorkommen, und die Form des Körpers ist wichtiger als die Tiefe des Herzens und die Schärfe des Verstandes, der darin steckt... wie unnützer Ballast.

Man stirbt, wenn man der Welt nichts Wertvolles zu bieten hat, oder wenn die Welt es nicht länger haben möchte. Danach ist die Beerdigung nur noch eine Formsache.

Aber für mich liegen die Dinge ein wenig anders, weil ich ein weltbekannter Experte bin für jede Wendung, jeden Winkel des kriminellen Geistes.

Vielleicht verdanke ich meinen Erfolg dem ironischen Umstand, daß ich mein Leben dem Studium derer gewidmet habe, die auf dem Weg zu ihrem eigenen Erfolg stehlen und Leben vernichten.

Meine Studenten inspirieren und enttäuschen mich gleichermaßen. Sie arbeiten sehr hart daran, das Wissen aufzunehmen, das ich ihnen biete, und ich bin ebenso entschlossen, dies effizient zu leisten, aber unsere Beweggründe liegen oft Lichtjahre voneinander getrennt.

Meine hehre Motivation, die Welt besser und sicherer zu machen, steht neben ihrer ungezügelten Gier nach Macht, Autorität, Einfluß und dem Heldentum aus Comic-Büchern.

In anderen Worten, genau denselben Dingen, die mich in ihrem Alter antrieben.

Einige meiner künftigen Gnadenengel glauben, daß der Weg zu ihrem ersten Paar Flügel als gutbezahlter Mörder beginnt.

Aber ich kann sie deshalb nicht verdammen, denn es war genau der Weg, den ich damals gewählt habe.

Sie sind unsere künftigen Polizisten, Kommissare, Verteidiger, Staatsanwälte, Pathologen, Militärs, Führer des Volkes und der Welt... Also übersehe ich geflissentlich, daß die Jugend an die Jungen verschwendet ist, und versuche, ihnen dasselbe hohe Ansehen entgegenzubringen, das sie mir zollen.

Wenn ich in ihre Augen schaue, will ich die ernsthafte Entschlossenheit sehen, meinem Beispiel durch harte Arbeit und persönliche Opferbereitschaft nachzueifern. Aber ich sehe oft nur den Neid auf meinen Status und die unausgesprochene Frage: "Wie hast du das geschafft, alter Gauner?"

Als würden sie erwarten, daß ich ihnen eine geheime Abkürzung zu dem Schatz des Lebens zeige, der am Ende des Regenbogens wartet, und ihnen so den langen, gewundenen Weg erspare, den man gewöhnlich dorthin gehen muß.

Aber sie sind jung und wollen die einfache Wahrheit nicht akzeptieren, daß wir die Morgendämmerung nur nach der Nacht erleben können.

Ich habe Nina zum ersten Mal bei einer Tanzveranstaltung gesehen. Ich habe sie zum Tanzen aufgefordert. Sie hat gelacht – wie eine Filmdiva lachen würde, wenn ihr ein Schuljunge einen Heiratsantrag macht.

Ich ging etwas zu trinken holen, da sah ich ihren Umriß hinter einem dünnen Vorhang und hörte sie ihrer Freundin vernehmlich zuflüstern: "Seine Mütze ist breiter als seine Schultern, und mit diesen Riesenohren sieht er aus wie ein Taxi, bei dem beide Türen offenstehen! Um das auszugleichen, braucht er mindestens zwei Sterne auf den Schulterstücken..." Sie kicherte.

Ich ging zum Tisch des Kapitäns. Er war irgendwo im Saal, traf sich mit Offiziellen, also redete ich mit seiner Frau. Ninas Mutter hatte ihre Tochter ebenfalls lästern gehört – vielleicht sollten wir sie beide hören.

Sie neigte sich zu mir und flüsterte: "Die Mädchen tanzen nicht mit den jungen Männern hier, sondern vielmehr mit ihren Uniformen... Wenn Sie Ihr Haar wachsen lassen, können Sie Ihre Ohren vielleicht verstecken.“ Sie wollte mir nur helfen.

Ich verbrachte den Rest des Abends damit, Nina beim Tanzen zuzusehen und die lange Parade der Verehrer zu beobachten, die sich vor ihr produzierten. Sie bügelte alle Annäherungsversuche ab und verließ den Ball mit einem, den sie nicht einmal kannte, der ihr einfach zugezwinkert hatte... um uns alle ordentlich mit ihren hinreißenden kleinen Frauenspielchen zu quälen...

Ein paar Monate später wurde ich Junior-Leutnant mit zwei Sternen. Ich staunte, wieviel besser mir die Uniform mit ihnen paßte.

Eines meiner ersten Ziele war eine Tanzparty im Offizierskasino. Sie war natürlich da, mit einer langen Reihe von Bewunderern, die um ihre Aufmerksamkeit buhlten. Sie erinnerten mich an Hunde, die um einen Fetzen rohes Fleisch kämpfen, nur daß das Knurren und Bellen durch blumige Worte und geistreiches Geplänkel ersetzt waren. Nina hatte keine Zeit zum Tanzen, aber ich konnte wenigstens mit ihr sprechen. Ich fragte sie scherzhaft, ob sie jemals einen Mann mit zwei großen Ohren und zwei kleinen Sternen lieben könnte. Sie sagte, umgekehrt entspräche es eher ihren Ansprüchen.

Ich schloß die Ausbildung beim KGB in diesem Jahr ab. Ich lernte fünf Sprachen und bemühte mich besonders, die amerikanische Kultur, den Slang und die Literatur zu meistern, in der Hoffnung, mir einen Spionageauftrag in Washington D.C. zu verschaffen, was als die Krönung aller Spionageaufträge galt.

Ich wurde auch zum Experten für alle Arten exotischer Waffen, unauffällige Mordmethoden, todsichere Verhörmethoden, Gehirnwäsche, Fallschirmspringen, Tauchen, Bergsteigen und viele andere finstere Fertigkeiten – alles nützlich für den Agenten eines Systems, das auf Angst beruhte. Ich übte so oft Englisch, daß meine Mitrekruten mich ,Yankee Doodle‘ nannten.

Meine einzigen freien Stunden gönnte ich mir samstagabends, wenn ich ins Offizierskasino ging. Meine reizende Kapitänstochter war immer in der Gesellschaft von Offizieren, flirtete, tanzte und spielte ,Rührmichnichtan‘. Für mich hatte sie keine Zeit. Jedes Mal ging sie mit einem weg, der einen höheren Rang hatte als ich, und schaute mich an wie der Piratenkapitän einen Schiffsjungen.

Ich war oft von meinen Lektionen frustriert und – wie damals viele junge Leute – ich wollte ein berühmter Spion werden, sah aber nicht ein, warum ich dafür Chinesisch lernen mußte. Chinesisch hörte sich für mich grauenhaft an. Ihre Musik klang, als ließe man Besteck auf einen kalten Betonboden fallen, und wenn sich unsere Chinesischlehrer stritten, erinnerte es sehr an einen Hundekampf. Konnte ich nicht einfach in den Ländern spionieren, deren Sprachen mir mehr zusagten?

Mein erster Auftrag als frischgebackener KGB-Agent war ungewöhnlich – und ein Omen für alle weiteren. Ich reiste als Mitglied eines berühmten Chores um die Welt, auch in kapitalistische Länder, wo das Risiko, daß jemand sich absetzte und Asyl suchte, sehr hoch war.

Meine Aufgabe war es, ihnen überallhin zu folgen, zu Meetings, zum Essen, und sogar an den Auftritten teilzunehmen – was für mich eine Qual war wie für alle, die mich singen hören mußten. Also beschloß ich, mich aufs Piano zu spezialisieren – ich sang so leise, daß mich niemand hörte... Ich nahm meinen Platz ein und machte nur die Mundbewegungen. Aber schließlich sang ich doch mit, leise zuerst, und bald entdeckte ich, daß ich tatsächlich den Ton halten konnte, ohne zusammenzubrechen. Ich wurde immer selbstbewußter und sang lauter und lauter.

Ich reiste ein paar Jahre mit dem Chor, und alle in der Gruppe wußten, wer ich war. Sie mochten mich nicht und behandelten mich wie das schwarze Schaf. Schließlich verabredeten sie insgeheim, mir einen aufwendigen Streich zu spielen.

Es war bei einem Konzert in Berlin, als plötzlich alle auf Verabredung mitten im Konzert aufhörten zu singen... alle, bis auf mich – und ich krächzte wie ein Rabe in voller Lautstärke, vor einem verblüfften Publikum von über eintausend Musikliebhabern.

Erst herrschte eine lange, peinliche Stille, die Stunden zu dauern schien, und dann brach das Publikum plötzlich in lautes Gelächter aus. Sie waren wohl zu dem Schluß gekommen, daß das pure Absicht gewesen sei – eine Art, die ernsthafte künstlerische Darbietung etwas aufzulockern. Zu meinem Pech war einer meiner Vorgesetzten im Saal, und der ging nach dem Konzert zum Dirigenten und beglückwünschte ihn zu dem kreativen Einfall.

Der Dirigent versprach eilfertig, diesen Einfall fest ins Programm aufzunehmen. So wurde ich nicht nur einmal gedemütigt, sondern mußte diese Katastrophe jeden Abend durchleben – sehr zur Freude ihrer Urheber. Es war ein glücklicher Tag, als ich einen neuen Auftrag bekam.

Die Tochter des Kapitäns fiel vor Lachen fast vom Stuhl, als ich ihr die Geschichte erzählte. Ich glaube, in diesem Moment fing sie an, mich als Verlierer mit Humor zu betrachten, was ihr gefiel. Aber an diesem Abend ging sie mit einem völlig humorlosen Major.

Nach meinem Schwanengesang in Berlin kam ich als Küstenwache ans Schwarze Meer, wo viele hohe Tiere der Partei sich protzige Strand-Datschen gebaut hatten für Urlaub und wichtige Unterredungen.

Die malerische Gegend bot ihnen jede Menge Jagdwild, aber leider bedeutend weniger Fische – dies war Ergebnis eines bedauerlichen Industrieunfalls, der sich vor einiger Zeit ereignet hatte, den man aber bisher hatte verheimlichen können.

Mein Auftrag war, in voller Tauchausrüstung am Ufer zu sitzen, mit einem Fernglas und großen Forellen in mehreren Säcken, die sich praktischerweise an meinen Tauchergurt klipsen ließen.

Mein Vorgesetzter sorgte dafür, daß den Funktionären das Gerücht eines geheimen Fischgrundes zu Ohren kam, der vor hungrigen Fischen nur so wimmelte, und daß die beste Fangmethode die war, die Angeln mit einem schweren Senkblei auszuwerfen, das die Schnur bis auf den Grund zog.

Sie wußten nicht, daß ihre Senkbleie mit winzigen Sendern ausgestattet waren, so daß ich sie unter Wasser leicht finden konnte, ohne mich zu dicht an die Oberfläche zu wagen. Ich wartete, bis sie geankert hatten, glitt dann mit einem Sack Fische an meinem Gürtel ins Wasser und tauchte am Grund bis zu der Angelstelle.

Wenn mein Empfänger zu piepsen begann, schwamm ich zu der betreffenden Leine, befestigte einen dicken Fisch am Haken und zog einmal fest daran.

Sie holten dann schnell ihre Beute ein, und ich wartete, bis sie die Angel wieder auswarfen. So ging das, bis mir die Fische oder die Luft knapp wurden. Dann kletterte ich wieder unauffällig ans Ufer, um eine neue Sauerstoffflasche oder einen neuen Sack Fische zu holen, und dann begann das Spiel von neuem.

Manchmal dauerte das Anglerglück mehrere Sauerstoffflaschen lang.

Natürlich fragte ich mich, warum mein Vorgesetzter so einen Aufwand betrieb, nur damit ein paar Parteibosse einen guten Angeltag hatten. Später fand ich heraus, daß er für den Chemieunfall abgemahnt worden war – er war in seinem Distrikt passiert. Die einzige Möglichkeit, sein Amt zu behalten, war gewesen, einen heiligen Eid zu schwören, daß den Fischen bei den herrschaftlichen Ferienhäusern nichts geschehen würde.

Dieser Job schien nicht viele Beförderungsmöglichkeiten zu bieten, und es war schwer zu sagen, ob ich damit besser, schlechter oder gleich gut stand wie mit meiner Sängerkarriere, aber die Frage beantwortete sich bald von selbst.

Als ich eines Tages einen fetten Fisch am Angelhaken eines noch fetteren Parteibonzen befestigte, verfing sich die Schur in meinem Gürtel. In der Hektik ließ ich mein Messer fallen und kämpfte verzweifelt, um die extra-reißfeste Leine zu kappen, die mich langsam an die Wasseroberfläche zog. Ich kann mir vorstellen, was für eine Begeisterung meine Luftblasen auslösten; an muß mich für einen gigantischen Stör gehalten haben.

Unfähig mich zu befreien, klammerte ich mich an die Schraube des Außenbordmotors und versuchte mich unter dem Boot zu verstecken, während ich die Schur an der Kante des Propellers zerschnitt.

Ich tauchte sofort nach unten und schwamm so schnell wie möglich ans Ufer, als plötzlich in meinem Kielwasser Pistolenkugeln die Wasseroberfläche durchbrachen.

Ich war tief genug unten und außer Gefahr, aber die Tatsache, daß sie auf mich schossen, bestätigte meinen Verdacht, daß sie mich nicht länger für einen Stör hielten. Das Boot nahm die Verfolgung auf und stoppte direkt über mir.

Ich konnte nicht fort, ich konnte mich nicht verstecken, und ich konnte sie nicht wegscheuchen.

Noch dazu war mein Sauerstoff beinahe aufgebraucht.

Mit Freuden hätte ich mein Leben für mein Vaterland gegeben, aber mich schreckte die Aussicht, in alle Ewigkeit unter einem Grabstein zu liegen, dessen Inschrift wäre:

Hier ruht Dimitri Wolkow
der sein Leben tapfer opferte
für einen Sack Fische.

Also tat ich, was alle tapferen und ehrenwerten KGB-Agenten in dieser gefährlichen Situation auch getan hätten: Ich machte den Sack Fische los, tauchte seitlich des Bootes auf und schleuderte ihn hinein.

Dann tauchte ich wieder und wartete – ich wollte ihnen Zeit geben zu merken, daß ich kein ausländischer Spion im Störkostüm war, sondern nur ein "Angelglück-Beauftragter" von der Küstenwache.

Als das Pistolenfeuer aufhörte, tauchte ich schnell auf und rief "SCHIEßEN SIE NICHT! ICH HABE EINEN AUFTRAG!"

Das brachte sie so aus dem Konzept, daß der Dicke rückwärts ins Wasser fiel. Ich schwamm zu ihm, stellte sicher, daß er nicht ertrank, und half ihm ins Boot zurück; dann folgte ich ihm.

Ich hatte geglaubt, daß ich jedes russische Schimpfwort kannte, aber ich hatte unrecht. Als wir das Ufer erreichten, lachten sie unbändig über meine absurde Situation, und ich hatte inzwischen beschlossen, meinen Namen zu wechseln, mein Äußeres zu verändern und fortan Brezeln auf dem Roten Platz zu verkaufen.

Die Geschichte amüsierte jeden, der sie hörte – wirklich jeden. Als sie der Parteispitze zu Ohren kam, so sagte mir ein Sekretär des Politbüros, hatte Breschnew selbst dafür gesorgt, daß ich keine Bestrafung erhielt, weil er viel zu sehr lachen mußte, um überhaupt darüber nachzudenken. Ich schätze, er hielt es für Strafe genug, meinen Namen tragen zu müssen.

Der Zorn ergoß sich in Gänze über meinen Vorgesetzten, der nach Sibirien versetzt wurde; man hat nie wieder von ihm gehört.

Als die Geschichte die Tochter des Kapitäns erreichte, war sie – wie ich und alle anderen auch – der festen Überzeugung, daß meine Karriere damit beendet sei.

Mir schien dies der beste Zeitpunkt, ihr zu eröffnen, daß ich all das getan habe, um befördert zu werden – und ihr Herz zu erobern.

Das war der Anfang meiner depressiven Zeit, die lange dauerte. Aber ich gab nicht auf. Je weiter ihre Liebe in die Ferne rückte, desto fester wurde mein Entschluß.

Ich war vierzig Jahre alt, hatte drei kleine Sterne auf dem Schulterstück, keinen Job und keinerlei Aussichten.

Schließlich ergab sich eine Gelegenheit in Form einer Stelle im Gefängnis. Ein Auftrag mit minimalem Prestige, weshalb ich ihn vermutlich bekam. Ich kam in eine Zelle mit Kriminellen, die auf ihren Prozeß warteten, und sollte Informationen sammeln, die für die Staatsanwaltschaft von Nutzen sein könnten.

Der Anfang verlief nicht optimal, weil ich meine Kleidung nicht komplett gewechselt hatte und in einer Zelle mit Profi-Kriminellen landete, die bald entdeckten, daß meine Schuhe und Hosen zur Standard-Polizeiuniform gehörten.

Ich wurde bewußtlos geschlagen und starb beinahe; zwei Monate war ich im Krankenhaus.

Das war wahrhaftig der Tiefpunkt in meinem Leben. Ich hatte bisher jeden Auftrag vermasselt, war ein Leutnant von 40 Jahren (was etwa einem 25-jährigen Pfadfinder entspricht), pleite, allein und zutiefst depressiv.

Sie besuchte mich im Krankenhaus, wie ein Gnadenengel. Sie war gealtert, aber immer noch sehr schön. Sie brachte mir Essen, wünschte mir gute Besserung – und dann küßte sie mich.

Damals habe ich verstanden, daß die Tochter des Kapitäns eine warmes und mitleidiges Herz hatte, und schon war das meine gefangen.

Und ich wollte Himmel und Erde in Bewegung setzen, um ihre Liebe zu erringen. Das war der Wendepunkt meines Lebens.

Als meine Wunden geheilt waren, nahm meine Karriere eine völlig neue Richtung. Ich stürzte mich in das Studium der Kriminologie, um mich auf einen zehn Jahre dauernden Gefängnis-Job vorzubereiten. Einen Job, den niemand wollte, aber an dessen Ende die Beförderung zum Colonel winkte.

Es war meine letzte Chance, mich zu rehabilitieren, und ich war entschlossen, diesen Job besser zu machen, als es irgendjemand im KGB sonst könnte.

Ich wurde Experte für die kleinste Regung des kriminellen Geistes, und ich lernte jedes Detail über das breite Spektrum illegaler Aktivitäten. Ich studierte die Kriminellen nicht nur, ich kleidete mich, redete und handelte wie sie. Und in gewisser Weise wurde ich einer von ihnen – behielt aber meine Würde und mein Pflichtbewußtsein.

Mein Job war, mich unter eine Vielzahl von Verbrechern zu mischen; die meisten von ihnen fielen in die Kategorie "Unterweltler der hohen Ranges ". Ich freundete mich mit ihnen an, indem ich ein Netz glaubhafter Lügen wob und mich als einen der ihren ausgab.

Mein Heim bestand aus hundert verschiedenen Zellen, meine Freunde waren tausend Schwerverbrecher, und der Grund war ein einziger weiterer Stern auf meinem Schulterstück.

Ich führte sauber Buch über Namen und Orte, aber nur in meinem Kopf, so daß nichts Geschriebenes existierte. Ich trainierte mein Gedächtnis wie ein Preisboxer seine Muskeln.

Ich fand sogar ein paar Freunde in diesen kalten Betonzellen voller Erzkrimineller, darunter geniale Diebe, sadistische Mörder, perverse Kinderschänder, ständig betende Separatisten, rücksichtslose Wucherer, Kleingeld-Erpresser, adlige Veruntreuer, feige Verräter und seelenlose Machtmenschen... Sogar unter ihnen fand ich anständige und unschuldige Opfer des Sowjetsystems.

Die Kriminellen teilten ihre Zellen häufig mit idealistischen jungen Dissidenten, kreativen Künstlern, bekannten Musikern, preisgekrönten Autoren, Lehrern und Wissenschaftlern... den armen Opfern unseres glorreichen Staates, die in jedem anderen Land bejubelt, interviewt und geehrt worden wären. Ein paar von ihnen hätten auf der Bühne stehen und dem Nobel-Komitee für ihren Preis danken sollen. Stattdessen krochen sie auf dem Boden und baten: "Bitte, Herr, können Sie mir die Handschellen einen Moment abnehmen, damit ich meine Hose zum Pinkeln aufmachen kann?"

Die Welt ist nicht fair, aber mich hat niemand gefragt, als die Regeln aufgestellt wurden. Ich tat meine Pflicht. Es war mein Job, ihr Vertrauen zu gewinnen, durch kleine Gaunereien Informationen aus ihnen herauszuholen, sie an meine Vorgesetzten weiterzuleiten, und dann das Ganze von vorn.

Und wie der Arzt oder die Hure war ich nicht mit dem Herzen dabei.

Die meiste Zeit hatte ich das Gefühl, gute Arbeit zu leisten, die die Sicherheit des Staates gewährleistete. Aber manchmal... schien mir der einzige Unterschied zwischen „ihnen“ und „uns“, daß die einen eben auf der falschen Seite der Gitterstäbe saßen.

Unter den Agenten wurde meine Effizienz bald zur Legende, und ich wurde schnell zum Major befördert, dann, zwei Jahre später, zum Colonel, als der innere Kreis des KGB auf meine Arbeit aufmerksam wurde.

In den zehn Jahren meiner Gefangenschaft löste ich aufsehenerregende Mordfälle, enthüllte Information, die hohe Ränge wegen Korruption hinter Gitter brachte und beschaffte das nötige Wissen, um Operationen der russischen Mafia zu verhindern – es ging um Drogen, Folter und Kinderprostitution.

Aber das Glanzstück meiner Leistungen war die Vereitelung eines Militärputsches; ein paar Generäle planten, die Zentralregierung zu stürzen. Dafür erhielt ich den Rang eines General-Majors.

Gleichzeitig erwarb ich mir ein Magengeschwür sowie eine leichte Form der Tuberkulose, und damit den ersten "Urlaub" meiner Berufslaufbahn.

Die Gesundheitsprobleme waren nur ein kleiner Preis, und der Urlaub war zu kurz.

Wie jeder Soldat hatte ich immer davon geträumt, einmal in einer Generalsuniform spazierenzugehen. Aber als der Traum wahr wurde, kam er gegen meine Fantasie nicht an. Es gibt Dinge im Leben, die besser erscheinen, als sie wirklich sind, weil die Einbildung sich auf den Ruhm konzentriert und Blut, Schmerz und Opfer, die den Ruhm überhaupt erst möglich machen, verdrängt.

Ich merkte, daß ich Nina sehen wollte. Schließlich war sie der Grund für all die harte Arbeit und meinen Erfolg, und obwohl es viele junge und schöne Frauen gab, die sich gerne an der Seite eines Generals hätten sehen lassen, gab es für sie keinen Platz in meinem Herzen – das gehörte immer noch ganz ihr.

Ich machte mich darauf gefaßt, daß sie mittlerweile verheiratet war. Das mußte ich herausfinden.

Ich beschloß, zuerst ihre Eltern zu besuchen. Der Kapitän war schon vor vielen Jahren gestorben, und Ninas Mutter hatte einen Schlaganfall erlitten und war halb verrückt. Mein Erscheinen schien sie sehr aufzumuntern, und ich war ganz gerührt über ihre Freundlichkeit. Aber als ich mich in ihrem Wohnzimmer zu ihr setzte, um mit ihr zu reden, wurde mir schnell klar, daß sie überhaupt nicht wußte, wer ich war.

Auf einmal kam Nina herunter und erkannte mich für ein paar Sekunden auch nicht. Dann aber fiel sie vor Freude fast in Ohnmacht.

Wir machten gemeinsam Urlaub am Schwarzen Meer, wo wir den Schauplatz meines "Anglerglück"-Abenteuers besuchten – so viele Jahre war das her.

Wir genossen eine ruhige Zeit und verbrachten über eine Woche in einem Luxushotel, wo ich einfach am Strand lag und ihr beim Schwimmen zusah. Sie schien glücklich, und das machte mich glücklich – ob ich es nun wirklich war oder nicht.

Manchmal dachte ich an all die Glücklichen, mit denen sie Urlaub gemacht hatte, als sie jung gewesen war, jung, sinnlich und begehrenswert... Als Männer ihr zu Füßen lagen, nur um ihr eine Tür zu öffnen.

Diese Tage waren vorbei, für immer.

Sie wollte heiraten, und ich weiß wirklich nicht, um was es ihr ging, um mich oder um meine Uniform.

Aber irgendwie war es nicht mehr wichtig, weil wir beide durch etwas aneinander gebunden waren, das über Liebe hinausging.

Unsere Leben waren miteinander verquickt – verwoben von einem Schicksal, das es unmöglich macht zu sagen, wo ihr Leben aufhört und meines beginnt.

Was übrigblieb, war, daß sie einen General zum Mann wollte, und ich wollte die Tochter des Kapitäns.

Wir konnten nicht gleich heiraten, weil ich eine letzte Mission in Sibirien hatte. Sie sollte zwei Monate dauern, aber ich kam erst nach drei Jahren wieder.

Jahrzehnte früher hätte ich mir Sorgen gemacht, ob mein Liebling treu bleibt, aber zu diesem Zeitpunkt nicht mehr.

Meine Mission war erfolgreich und brachte mir einen weiteren Stern ein.

Ich schrieb eine Doktorarbeit über die kriminelle Psyche, dann einen Roman über meine Abenteuer beim KGB – zumindest die, über die ich offiziell reden durfte.

Als ich zurückkam, heirateten wir still und ohne Aufsehen. Wir reden nicht viel, wir fühlen uns im Schweigen wohler. Meistens wissen wir, was der andere denkt, und sehr oft ist es der innige Wunsch, wieder jung und voller Leben zu sein. Und manchmal wünsche ich, ich hätte sie auf dem Ball, all die Jahre zuvor, einfach im Sturm erobern sollen, sie überreden, mit mir durchzubrennen, und dann hätten wir die glücklichen Kämpfe junger Liebender bestehen können, während unsere Familie angewachsen wäre... Dann könnte ich heute, statt mich mit philosophischen Fragen zu quälen, meinem Enkel beibringen, wie man Fische fängt und ihm die alte Anglergeschichte erzählen, bis er vor Vergnügen quietscht...

Wir leben bescheiden auf einem großen Schiff, das ich gekauft habe; nur zum Segeln bin ich zu alt. Es ist, als hätte das Leben dem Kahlkopf einen Kamm geschenkt: Das Schiff liegt fest im Hafen, wie ein Monument der Dinge, die wir nie getan haben und niemals tun werden.

Manchmal frage ich mich: Bin ich ein glücklicher Mann? Und wenn ich mich umschaue und das Traumschiff sehe, das ich kaufte, als ich es schon nicht mehr brauchte... und die stumme Ehefrau, die mich erst heiratete, als alle anderen Möglichkeiten vorbei waren... All meine Träume haben sich erfüllt, und ich habe alles erreicht, was ich wollte. Aber Timing ist alles, und am Ende des Spiels sind die Trümpfe nutzlos.

Ich habe gelernt, daß Ruhm und Ehre sind wie die Tochter des Kapitäns. Sie weichen denen aus, die sie jagen, und halten sich an die, die sich nichts aus ihnen machen... wie ich, hier und jetzt.“





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